Anthroposophie als spiritueller Kundendienst und der Umgang mit dem Irrtum


Am Ende des Jahres mag man ja mal räsonieren, zurück blicken, von sich abrücken und überlegen: Habe ich irgendwie falsch gelegen? Eventuell fundamental? Die Antwort wird, wie es Kathryn Schulz in Being wrong (1) artikulieren würde, wahrscheinlich eine eingeübte Strategie in Schuldverschiebung, Relativierung oder Leugnung sein. Selbst die Bereitschaft, solche Fragen zuzulassen, kann eine trickreiche Variante der Selbstüberrumpelung sein, ein lange trainiertes Modul in den Manövern des sich selbst erhaltenen menschlichen Systems, das sich Ich nennt. 

Kathryn Schulz gehört übrigens zu der Redaktion des The New Yorker (2) (3) und hat gerade ein neues Buch- einen Erinnerungsband - Lost and Found (4) - veröffentlicht. 

Es geht in dem Buch also um unseren schwierigen Umgang mit Irrtümern, um die Fähigkeit zur Selbstkorrektur und um große, bedeutende und alltägliche Geschichten unseres Scheitern darin. Es gibt - so Schulz- einen generellen humanen Normalzustand, in dem jeder von sich selbst annimmt, „that we are basically right, basically all the time, about basically everything: about our political and intellectual convictions, our religious and moral beliefs, our assessment of other people, our memories, our grasp of facts.“ (1, o S) Die Annahme, religiös, moralisch, in den Beurteilungen Anderer, in der Übersicht über unsere Erinnerungen generell richtig zu liegen, ist also nur eine Seite- im Hintergrund setzen wir auch voraus, dass unser „Erfassen der Fakten“ (our grasp of facts), also die Auswahl dessen, was wir verstehen und wie wir es einordnen und verstehen, korrekt und realitätsnah ist. Diese Grundannahmen haben aber auch eine psychologische Seite. Sie sind Teil einer Selbstvergewisserungs- Strategie. Im Gegensatz dazu sind Irrtümer das, was das System Ich aus seiner dauernden Selbstvergewisserung heraus zu bringen in der Lage ist- Irrtümer lassen Veränderung und Neuorientierung zu oder stoßen sie an: „And far from being a mark of indifference or intolerance, wrongness is a vital part of how we learn and change.“ (1 oS) 

Die Erfahrung, zu irren oder sogar fundamental falsch gelegen zu haben, ist aber - ähnlich wie der Tod- nichts, was man sich in irgend einer Weise herbei wünschen würde: „As with dying, we recognize erring as something that happens to everyone, without feeling that it is either plausible or desirable that it will happen to us.“ (1)

Vor allem, wenn es um die ganz großen Irrwege geht, gibt es keine Ratgeber oder bekannte Strategien zur Bewältigung eines solchen Verlustes: „By contrast, if you commit an error—whether a minor one, such as realizing halfway through an argument that you are mistaken, or a major one, such as realizing halfway through a lifetime that you were wrong about your faith, your politics, yourself, your loved one, or your life’s work—you will not find any obvious, ready-to-hand resources to help you deal with it.“ (1)  Die Verluste, um die es geht, sind so fundamental wie Partnerschaft, der Glaube, die politische Überzeugung oder der Beruf. 

Diese Infragestellung dessen, was alltäglich oder fundamental ein Fehler sein könnte, vermeiden wir aber im allgemeinen nicht nur, sondern gefallen uns auch in einer rechthaberischen Selbstbestätigung im Konstatieren der Fehler anderer - „Ich habe es dir ja gesagt“ (5). Darin liegt der Triumph des Rechtgehabthabens, eine kurze, rauschhafte Selbstvergewisserung. 

Es gibt auch einen Sonderfall, einen Saulus- Paulus- Effekt, in dem man zugestehen muss, einem Irrtum oder sogar Irrglauben angehangen zu haben, diesen nun überblickt und akzeptiert und sich dabei fühlt als der Aufklärer im eigenen Haus: Man ist nun nicht mehr im Irrglauben, da man diesen überblickt. Man hat die innere Seite gewechselt, ist aber, relativ zum ehemaligen Irrglauben, nun doch wieder im Recht. Das ist offensichtlich ein Fall für die eigene Selbstintegrität. Schulz beschreibt das mit „we can be wrong, or we can know it, but we can’t do both at the same time“ (6).

Das alles erklärt, warum sich Schulz in so vielen Facetten und Anekdoten - auch in fatalen Fehldiagnosen z.B. Freuds- um das Thema des Irrtums und des persönlichen und gesellschaftlichen Umgangs mit ihm herum bewegt: Das Rechthaben und das Nicht-Rechthaben ist für jeden Menschen ein existentielles Dilemma (7). Das gilt, nach Thomas von Aquin, sogar in spiritueller Hinsicht, da die Möglichkeit des Fehlens unsere existentielle Entfernung von Gott definiere (8). Auf jeden Fall liegt die Gewissheit absoluter Wahrheiten jenseits der Schwelle unserer Erkenntnis- Möglichkeit, solange wir als biologische Hybrid- Existenzen von dauernder Selbstvergewisserung abhängig sind: Irren ist menschlich, gewiss, aber doch immer das der anderen. „In sum: we love to know things, but ultimately we can’t know for sure that we know them; we are bad at recognizing when we don’t know something; and we are very, very good at making stuff up.“ (9)

Spricht man vom Fabulieren, denkt man unvermeidlich an die Mythen, Legenden und Geschichten, die Verschwörungstheoretiker jeder Couleur heraus senden, und die das Fortsetzen, Ausweiten, Aufblähen der individuellen Selbstvergewisserung des Ego darstellen: „And confabulation has another thing in common with literature as well: both are manifestations of our unstoppable drive to tell stories that make sense of our world.“ (9) Die Geschichte, die man über sich selbst erzählen möchte, soll der Schlüssel für das Erklären der Welt selbst sein. Der Drang, die nicht zu stoppende Manie, die Welterklärung laut, durch die Netzwerke hindurch, anderen zu vermitteln, ist die andere Seite, ein letztlich spirituell rechtschaffenes, zur Wahrheit und zu Gott begabtes Wesen darzustellen- eine Angelegenheit, die wieder und wieder verschleiern soll, wie unsicher unsere Verankerung selbst in den eigenen Erinnerungen ist: unsere Selbst- und Weltbilder sind auf dünnem Eis gebaut (10). Dies schon deshalb, weil wir die Kluft zwischen unseren Selbst- und Welt- Erklärung- Modellen und der anderer manchmal schwer ertragen.

Schulz unternimmt einen weiten Exkurs zu einer adventarisch - apokalyptischen Sekte des frühen 19. Jahrhunderts, die weit über die USA verbreitet war und an einem bestimmten Tag das Ende der Welt verkündete. Bestimmte Kleidervorschriften für den letzten Tag waren obligatorisch, viele Anhänger verkauften ihre Güter, verschenkten ihr Hab und Gut und erwarteten das Unvermeidliche - das dann nicht eintraf. Schulz interessieren vor allem die Reaktionen und Erklärungsmodelle, von denen viele auch deshalb überliefert sind, weil die Advents- Glaubensgemeinschaft bis heute besteht. Die Verdrängungs- Strategien waren vielfältig, von Schuldzuweisung bis hin zu Zeitverschiebungen- man versetzte das Datum für das Ende einfach immer weiter in die Zukunft. Für einige aber - darunter vielleicht auch die, die alles fortgegeben hatten, selbst den sie erfüllenden Glauben- war ihr Irrtum, einem solchen Kult anzugehören, sehr schwer zu verkraften. 

Das ist der Punkt, wenn man seinen Glauben verliert, oder einen Kult verlässt, oder verstossen wird: Es ist eine sehr umkomfortable Situation: „This is the terrain of pure wrongness—the abyss we find ourselves in when a belief of ours has fallen apart and we have nothing on hand to replace it. This is not an easy or a comfortable place.“ (1) Denn, wenn ein ganzes Koordinatensystem an festen Vorstellungen zerbricht, muss sich eine Person tatsächlich und buchstäblich neu erfinden, da ihre Identität zerbrechlich geworden ist: „In the face of radical error, it isn’t just the world that suddenly seems uncertain, unknown, and new; it is also the self.“ (1) Nur wer diese Trauer kennt, buchstäblich um die eigene Identität, kann die Schwierigkeit einer solchen existentiellen Krise nachvollziehen:; „When we are stuck inside the space of error, then, we are lost twice over: once in the world, and again in ourselves.“ (1)

Und natürlich gibt es auch die mögliche positive Seite, frisch aus den Trümmern der eigenen Narrative und Selbstbilder aufzuerstehen: „This is the thing about fully experiencing wrongness. It strips us of all our theories, including our theories about ourselves.“ (1)

Außerdem sieht Schulz die Trauer um ein verlorenes Welt- und Selbstmodell ebenso wie Trauer um enttäuschte Liebe auch als essentielle emotionale Ausnahmesituationen, in denen man sich bewährt und die auch eine gewisse Reife der ganzen Person gewähren können: „If the ability to admit that we are wrong depends on the ability to tolerate emotion, it is because being wrong, like grieving or falling in love, is fundamentally an emotional experience. Such experiences can be agonizing, but the corny truism about them is true: if you haven’t experienced them, you haven’t fully lived.“ (1)

Für Randgruppen wie die anthroposophische Gemeinde sind es vor allem die von Rudolf Steiner zeitlich nicht immer ganz präzisen, aber annähernd beschriebenen Wendepunkte wie kurz vor der Jahrtausendwende, die als Prophezeiungen nicht eingetroffen sind. Im Kern ist das für ihn eine apokalyptische Zuspitzung spiritueller Art, in der der Antichrist auftreten sollte, eine Wiedererscheinung Christi im Geiste für viele Menschen sichtbar werde und die anthroposophische Gesellschaft selbst durch ein Reinkarnationswelle früher Mitglieder zu ungeahntem Glanz und Bedeutung kommen würde. Nach dem Ausblieben dieser Prophezeiung zeigten sich bei Mitgliedern typische, auch bei gescheiterten Adventisten übliche Abwehrreaktionen: Schuldzuweisungen an Vorstände, Abspaltungen, kultische Verehrung diverser anderer, alternativer Gurus, langwierige Exegesen, die erklären sollten, warum die Prophezeiungen doch eingetroffen wären, aber zu anderer Zeit oder in anderer Art, und für viele eine Verschiebung der spirituellen Sinnsuche ins politische Feld: Politische Gurus bei YouTube, „Friedensforscher“, alternative Parteien, Anti- Establishment Bewegungen, rechtspopulistische Fanatiker und Verschwörungstheoretiker bedienten das Bedürfnis nach allumfassender Welterklärung. Was früher der Gral, war jetzt die Verhinderung des „Great Reset“, der inneren Entkernung Mitteleuropas durch finstere Materialisten. Die umfassenden Welterklärungen sind nach vielen Seiten deckungsgleich- Rechte wie Linke können unter derselben Decke schmollen, und sie halten es jetzt sogar mit anti- materialistischen Anthroposophen aus. Ja, diese Decke ist so groß, dass womöglich selbst Osama bin Laden darunter gepasst hätte. Groß sind die Emotionen, vor- revolutionär die Stimmung. Von Massakern in den Kriegen lässt man sich nicht umstimmen. Sachliche Kritik festigt nur den Glauben. Hunderttausende von Anhängern folgen ihren Populisten im Internet- TV, fallen aber auch wieder ab und folgen einem anderen. 

Zugleich geht die marginalisierte, eher säkulare Anthroposophische Gesellschaft ihren Weg, schüttelt und berappelt sich und macht weiter. Große Tagungen, große Perspektiven. Es geht weiter. Vielleicht eher als Lifestyle denn als Wagneroper, aber warum nicht? Anthroposophie ist schließlich eine Marke, ein Style, ein spiritueller Kundendienst.  

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1 Kathryn Schulz, Being Wrong. Adventures in the Margin of Error, o.J. Die Kindle- Ausgabe, die mir vorliegt, beinhaltet leider keine Seitenangaben

2 https://www.kathrynschulz.com/home#about-kathryn

3 „Kathryn Schulz is a staff writer at The New Yorker and the author of Being Wrong: Adventures in the Margin of Error. She won a National Magazine Award and a Pulitzer Prize in 2015 for “The Really Big One,” an article about seismic risk in the Pacific Northwest. Lost & Found grew out of “Losing Streak,” which was originally published in The New Yorker and later anthologized in The Best American Essays. Her other essays and reporting have appeared in The Best American Science and Nature Writing, The Best American Travel Writing, and The Best American Food Writing. A native of Ohio, she lives with her family on the Eastern Shore of Maryland.“ s.o.

4 https://www.kathrynschulz.com/home#lost-found-book

5 „Witness, for instance, the difficulty with which even the well-mannered among us stifle the urge to say “I told you so.” The brilliance of this phrase (or its odiousness, depending on whether you get to say it or must endure hearing it) derives from its admirably compact way of making the point that not only was I right, I was also right about being right. In the instant of uttering it, I become right squared, maybe even right factorial, logarithmically right—at any rate, really, extremely right, and really, extremely delighted about it.“ 1, oS

6 „As soon as we know that we are wrong, we aren’t wrong anymore, since to recognize a belief as false is to stop believing it. Thus we can only say “I was wrong.” Call it the Heisenberg Uncertainty Principle of Error: we can be wrong, or we can know it, but we can’t do both at the same time.“ 1 oS

7 „Error, in that moment, is less an intellectual problem than an existential one—a crisis not in what we know, but in who we are.“ 1 oS

8 „Thus Thomas Aquinas, the thirteenth-century scholastic, held that we make mistakes because, when we were banished from paradise, we were cut off forever from direct access to divine truth. To Aquinas and many of his fellow theologians, our errors arise from the gap between our own limited and blemished minds and God’s unlimited and perfect omniscience.“ 1 oS

9 KS oS

10 „The first is that your brain is generating representations of the world that are only lightly tethered to the real, or even to the possible.“ KS oS