Pankaj Mishra und das asiatische Zeitalter


Nicht nur in „Begegnungen mit China und seinen Nachbarn: Malaysia – Hongkong – Indonesien – Taiwan – Mongolei – Tibet – Japan – Indien“ (1) bekennt sich Mishra als gebürtiger Inder und politischer Beobachter zu einer Sichtweise, die das boomende Asien einerseits kritisch beleuchtet, aber andererseits und mit einigem Furor gegen den Eurozentrismus des Westens zu Felde zieht. Das neue Zeitalter, das man noch vor wenigen Jahrzehnten als Globalisierung unter westlich - liberal- demokratisches Fortschreiben dessen verstanden hat, was Europa und der Westen als Lebens-, Wirtschafts-, politische und geschlechtliche Ideale definiert haben, steht mit dem Aufstand des globalen Südens vor dem Scherbenhaufen. Selbst die aktuelle Definition dieses Begriffs durch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung schreibt die Schwelle, die man unbedingt verbal vermeiden möchte, doch fort: „Die Begriffe „Globaler Süden“ und „Globaler Norden“ werden hauptsächlich in der Entwicklungspolitik und in den Sozial- und Geisteswissenschaften benutzt. Sie lösen zunehmend Bezeichnungen wie Entwicklungsländer⁠ (..), Schwellenländer⁠ (..) und den früher häufig verwendeten Begriff „Dritte Welt“ ab.

Die Bezeichnungen sollen die Situation von Ländern in der globalisierten Welt möglichst wert- und hierarchiefrei beschreiben. In diesem Sinne ist ein Land des Globalen Südens ein politisch, wirtschaftlich oder gesellschaftlich benachteiligter Staat. Die Länder des Globalen Nordens befinden sich dagegen in einer privilegierten Position, was Wohlstand, politische Freiheit und wirtschaftliche Entwicklung angeht. Damit sollen auch die Ungleichheit und die dadurch bedingten Abhängigkeitsverhältnisse herausgestellt werden.“ (3)

Diesen begrifflichen Streit und die offenen Konflikte, die sich auch durch den Angriffskrieg Russland und durch die Hamas verstärken und potenzieren, hat Mishra im vorliegenden Buch (2) noch nicht einfliessen lassen können. Aber auch schon in der Zeit vor dem offenen Zutage- Treten der Konflikte lagen die Gemeinsamkeiten der diversen asiatischen Regionen, um die es im vorliegenden Buch vorrangig geht, im Erleben der Paradoxien der Versprechungen der Moderne: denn die „Gemeinsamkeit liegt in der Erfahrung einer oft bitter paradoxen Moderne: des Versprechens der Selbstveränderung und des Wachstums, das häufig verwirklicht wird durch die Zerstörung vertrauter Orientierungspunkte; einer Atmosphäre der Erregung und des Widerspruchs, in der mit der Erneuerung unvermeidlich der Verrat an alten Bindungen und deren Zerfall einhergehen.“ (4) Mishra eigene Perspektive als jemand, der seine Erziehung im Westen erfahren hat, war auch entsprechend geprägt: „In einer anglophonen Kultur geboren zu sein hieß nicht nur, den Westen reflexhaft ins Zentrum zu stellen und den westlichen Literaturen und Philosophien die größte Aufmerksamkeit zu schenken. Es bedeutete auch die Unterstellung, dass die Institutionen (parlamentarische Demokratie, Nationalstaat), die philosophischen Prinzipien (Säkularismus, Liberalismus), die ökonomischen Ideologien (Sozialismus, gefolgt von Marktkapitalismus) und die ästhetischen Formen (der Roman), die in den langen Jahrzehnten der britischen Herrschaft eingeführt oder übernommen worden waren, zur natürlichen und außerdem auch überlegenen Ordnung der Dinge gehörten.“ (S. 16)

Die ursprünglich koloniale Ordnung, die überwunden scheint, der Impetus der „Geberländer“, der großzügige Austausch von Begriffen (von „Entwicklungsländer“ zu „Globaler Süden“) ändern nichts daran, dass die politische, soziale, geschlechts- spezifische, ökonomische Leitkultur von denjenigen, die in einer der westlichen Kulturen aufwuchsen, schwer revidiert werden kann, auch wenn die Versprechen von privater Freiheit, Deregulierung, schlanken stattlichen Strukturen, moralischer Superiorität längst einer Ernüchterung gewichen sind. An den „universellen Fortschritt“ glauben, so Mishra, noch nicht einmal mehr „die alten Herren der Welt“ (S. 14). Aber auch die Fixierung der - z.B.- indischen Eliten auf die westlichen Modelle ist längst zerbrochen, was zu bizarren Konstellationen, eskalierenden Konflikten und der offenkundigen Suche nach ethnischen und religiösen Identitäten führt. Schon vor 15 Jahren konnte Mishra auf seinen Reisen feststellen, dass Chinas Einfluss quer durch Asien hindurch nicht nur auf wirtschaftlichen Einfluss, sondern auch auf die religiösen Schnittmengen in der Verbreitung und Assimilation des Buddhismus zurück zu führen ist: „Auf diesem indirekten Weg begann ich langsam zu verstehen, dass China gleichsam das Griechenland Asiens gewesen war und seine konfuzianischen Kulturen an die koreanischen, japanischen und vietnamesischen Nachbarn weitergegeben hatte. Die chinesischen Reiche bildeten das Zentrum eines Handelsnetzes und eines diplomatischen Netzwerks, welche beide von Nepal bis Java, von der Amur-Region an der Grenze von Russland und China bis Burma reichten.“ (S. 16f). So oder so- an der hegemonialen Position Chinas besteht schon lange kein Zweifel mehr. Daher beginnen die Reisen Mishras hier und nehmen auch den größten Raum ein. Nach 20 Jahren lautet sein Resümee, dass zumindest die reflexhaften Dualismen, die kalte Krieger und liberale Internationalisten des Westens in ihren Arbeiten über China und dessen Verhältnis z.B. zu Indien verbreiten, westliche Stereotype bedienen, aber wenig zum Verständnis beitragen. Ein Beispiel für romantische Verklärung und Verdammung des imperialen chinesischen Riesen ist für Mishra Tibet, das er trotz allem heute als wachsendes, sich auch religiös öffnendes Land sieht, in dem auch politisch diverse Meinungen möglich sind- aber, zugleich, neue Armut, Sprachlosigkeit und ethnische Ungerechtigkeit furch den sich ausbreitenden Turbo- Kapitalismus chinesischer Prägung entsteht. Die anachronistischen Identitäten werden nicht nur in Tibet durch digitale Technik, Konsum, Kommunikation und transnationale Netzwerke in Frage gestellt. In diesen Spannungsfeldern verlaufen die Reise- Reportagen Mishra. 

Man bemerkt jedoch, dass die Fragestellungen auch schon etwas veraltet sind- vor allem diese zentrale: „Doch die größte Herausforderung für den angloamerikanischen Glauben an die weitere Ausbreitung des Liberalismus und der Demokratie stellt China dar. Es hat ein spektakuläres Wachstum erzielt, ohne eine auf freien Wahlen basierende Demokratie einzuführen. Außerdem kontrolliert der Staat die Schaltstellen der globalisierten Wirtschaft.“ (S. 108) Ja, der Glaube an die globale Erfolgsgeschichten der kapitalistischen westlichen Demokratien ist erschüttert worden- eine Debatte, die rund zehn Jahre alt sein mag. Dahinter liegt die vielleicht noch grundsätzlichere Frage nach der Expansion und strategischen Machtfülle eines kommunistischen Landes: „Wie ist es China gelungen, an vielen Merkmalen des Mao-Regimes festzuhalten – an einer auf Zwang basierenden inneren Sicherheit, an der Kontrolle strategischer Industriezweige, an Zensur und staatlicher Propaganda – und dennoch den Übergang zu einer Marktwirtschaft zu vollziehen? Und wie lange kann eine dem Namen nach kommunistische Partei an dem Anspruch festhalten, ein weitgehend kapitalistisches Land zu regieren?“ (S. 58)

Inzwischen ist die militärische Weitsicht der chinesischen Führung deutlicher geworden, aber auch die Schwächen des Systems traten offen zutage: Die systematische Häuser-, Finanz- und Bankenkrise, die Deckelung der mächtig gewordenen Konzern- Chefs, die stärker gewordene Ideologie, interne Säuberungen, das Mundtotmachen von Medien- Sternchen, die elektronische Zensur, die totale Kontrolle ethnischer Minderheiten, das Koalieren mit totalitären und aggressiven Regimen, der Umgang mit dem eigenen Volk in Zeiten der Pandemie. Nicht nur politische und humanitäre Zweifel kommen gegenüber dieser neuen Weltmacht auf; die hemmungslose Wachstums- Ideologie vernichtet das eigene ökologische System in einem nie gekannten Ausmaß, ohne dass darüber berichtet und dagegen vorgegangen werden könnte- das Ausmaß der Korruption erscheint so maßlos und hemmungslos wie das Wirtschaftswachstum selber. Aber das chinesische System scheint getrieben von permanenten großen Wachtstumssprüngen. Statt einer demokratischen Entwicklung und Diversifizierung wird immer stärker die pathetische Einheit der Nation beschworen, der sich alles andere unterzuordnen hätte: „»Entwicklung ist die einzige harte Wahrheit«, erklärte er. »Wenn wir uns nicht entwickeln, wird man uns drangsalieren.« Wenn der neue chinesische Führer Xi Jinping vom »chinesischen Traum« spricht, stellt er dieselben Imperative nationaler Einheit und Stärke wie auch nationalen Stolzes gegen die Notwendigkeit demokratischer Reformen.“ (S. 109)

Neben dem imperialen Pathos  halten auch die großen bürgerlichen Freiheiten Chinas Bürger in der Spur: „Jedenfalls hat der Zuwachs an manchen privaten Freiheiten in China – vor allem zu konsumieren und zu reisen – den Drang nach politischen Veränderungen zumindest in gewissem Maße verringert.“ (S. 130). 

Und das ist erst der Beginn der Reise Mishras durch den asiatischen Kontinent. Es geht mit der Bahn ins Hochland Tibets, nach Hongkong vor der Zerschlagung der demokratischen Bastionen durch die chinesischen Machthaber, ins bedrohte Taiwan. In der Mongolei erinnert man sich an den sowjetischen Terror, der sich damals- vor rund hundert Jahren-  gegen den Buddhismus richtete: „Das Museum zeigt zahlreiche Beweise für den Terror, den die Mongolei in den 1930er Jahren erlebte. Im Erdgeschoss sind Fotos einiger der vielen tausend Mongolen zu sehen, die in dieser Zeit ermordet wurden. Im ersten Stock stand ich plötzlich vor einer Vitrine, in der eine Reihe Schädel mit Schusslöchern aufgehäuft lagen. Ich zuckte zusammen, doch mein Gastgeber schien unbeeindruckt. Sodnom sagte mir später, er sei der Ansicht, die Besucher sollten mit dem ganzen Ausmaß der Tragödie konfrontiert werden, die die Sowjetunion und ihre mongolischen Verbündeten der buddhistischen Kultur und Identität der Mongolei zugefügt hätten. Todesschwadronen, die im ganzen Land wüteten, hätten mehr als 20000 Mönche ermordet und mehr als 700 Klöster zerstört. Sie hätten auch die gesamte gerade erst aufblühende Intelligenz des Landes ausgerottet, so dass, wie der britische Journalist Jasper Becker schrieb, »im ganzen Land nur fünf Leute mit mehr als Volksschulbildung übrig blieben«“. (S. 255) Heute wird die mongolische Autonomie vor allem durch die chinesische Expansion bedroht, die sich bald, nach der Abwendung Putins vom Westen, bis ins Herz des ehemals mächtigen russischen Imperiums erstrecken dürfte. 

Auch wenn Mishras vorliegendes Buch etwas veraltet sein dürfte, erscheint es doch als ein Baustein, die eurozentrischen Maßstäbe und den Blick auf den eigenen Bauchnabel zu überwinden. Nebenbei kommt die Mischung von politischer Reflexion mit Reiseberichten, Anekdoten und Begegnungen leichtfüßig und unterhaltsam daher. 


 

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1 Pankaj Mishra, Begegnungen mit China und seinen Nachbarn: Malaysia – Hongkong – Indonesien – Taiwan – Mongolei – Tibet – Japan – Indien oJ

2 Das Erscheinungsdatum fehlt leider in der digitalen Kindle- Version

3 https://www.bmz.de/de/service/lexikon/globaler-sueden-norden-147314

4 s. 1, S. 12