Wie der Krieg uns (nicht) verändert
30 % der Deutschen können angeblich nicht selbständig rechnen, heißt es nach der neuen Mathematik- Challenge quer durch die deutschen und internationalen Schulzimmer, und vielleicht ist es damit nicht getan. 30 % sind womöglich auch der Partei eines Tino Chrupalla zugetan, was auf mehr als eine Rechenschwäche hindeuten könnte, hat Chrupalla doch schon 2017 eine Ende der Sanktionen gegen Russland gefordert und behauptet, Deutschland sei kein souveränes Land, solange US- Truppen stationiert seien. „Einige Wochen später kehrte Chrupalla zurück auf Einladung des russischen Verteidigungsministeriums nach Moskau, um auf einer Konferenz zu sprechen, wo er die Politik der Westalliierten nach 1945 mit der nationalsozialistischen Propaganda verglich und die Auswirkungen der alliierten „psychologischen Kriegsführung" auf die nationale Identität Deutschlands diskutierte.“ (1) Möglicherweise werden Leser des „Promiblogs“ und AfD- Wähler nicht besonders viel Interesse an einem Buch über die Ukraine entwickeln, in dem Augenzeugen berichten, „Wie der Krieg uns verändert“ (2), erschienen im kleinen, feinen Klingenberg- Verlag.
Man hätte es schon bei der Besetzung der Krim durch kleine, grüne Männchen ausrechnen können, wie dieser Test ausgehen würde, wenn man nur die Grundrechenarten beherrscht hätte- oder auch nur die Grundlagen schlussfolgernden Denkens.
Aber den Deutschen war das billige Gas näher als das mühselige Denken und Gewissen, auch wenn man schon zusehen musste, wie Syrien in Grund und Boden gebombt wurde. Man ließ lieber einen Chrupalla gewähren, wachsen und gedeihen, um der denkmüden Republik einen schönen neuen braunen Anstrich zu verpassen und vergaß die russischen Truppen, die sich um die Ukraine zusammen zogen. Auch heute, zwei Jahre nach der weiteren Invasion Russlands, werden die deutschen Augen wieder träge und neigen dazu, nach rechts zu rollen und nostalgische Gefühle für das wahre Russland und die schönen Geschäfte zu hegen.
Da ist ein realistisches Buch wie dieses willkommen, das von den Kriegsreportern bis zu den Überlebenden von Mariupol, den Ehefrauen ermordeter Polizisten, Nobelpreisträgerinnen und Enkelinnen berühmter ukrainischer Dichterinnen, die im Bombenhagel im Keller verhungert sind, eine große Bandbreite von Stimmen versammelt und einfühlsam befragt.
Es ist eben nicht nur eine Frage des Einmaleins und der einfachen Schlussfolgerungen, die uns die Wirklichkeit dieses Krieges verfehlen lassen, wie Oleksandra Matwijtschuk, Menschenrechtsaktivistin und Friedensnobelpreisträgerin, im Buch sagt. Es ist nämlich einfach nicht zu glauben, was vor unserer Nase geschieht: „Ja, denn was wir gerade erleben, ist schwer zu glauben. Wir leben im 21. Jahrhundert, mit iPhone, iPad und all diesen modernen Technologien, reden davon, wie wir die Armut auf der Welt überwinden und den Klimawandel abwenden können, und sind zugleich zurückgeworfen auf Erfahrungen wie im Mittelalter. Und das ist wirklich schwer zu glauben. Die menschliche Psyche kommt damit nicht zurecht.“ (3)
Dabei ist das schiere Ausmaß russischer Verbrechen nur noch in Datenbanken erfassbar: „Mit Anfang Jänner 2023 sind in unserer Datenbank mehr als neunundzwanzigtausend Verbrechen dokumentiert. Und ihre Zahl wächst täglich. Nicht nur die Größenordnung lässt staunen, auch das Spektrum dieser Verbrechen: Entführungen und Folterungen, sexuelle Gewalt und Tötung von Zivilisten. Ich kenne kein Kriegsverbrechen, das Russland in der Ukraine nicht begangen hätte. Wir halten auch die Fälle der Zerstörung von Wohnhäusern, Kultstätten und Krankenhäusern fest, Angriffe auf medizinisches Personal im Einsatz, den Beschuss von Evakuierungskorridoren, über die eingekesselte Zivilisten sich und ihre Kinder in Sicherheit zu bringen versuchen. Da sind außerdem Zwangsdeportationen, wo Menschen nach Russland oder in die von Russland besetzten Gebiete gebracht werden; ein System von Filtrationslagern, wo Menschen eine Filtration (Überprüfung) durch russische Militärs zu durchlaufen haben, bei der Zivilpersonen absolut schutzlos sind und ohne Möglichkeit, ihr Leben und ihre Würde zu verteidigen.Da ist auch die so offensichtliche Methode der Instrumentalisierung von menschlichem Leid, nämlich die Anstrengungen der Russen, möglichst viel Leid über die Zivilbevölkerung zu bringen, damit sie aufhört, Widerstand zu leisten.“ (3)
Die „unverschämte und unverhohlene Aneignung“ der Krim und der Oblaste Donezk und Luhansk war Putins Test der Rechenkünste und politischen Verantwortung des Westens. Die Antwort Deutschlands war der Bau einer neuen Erdgas- Pipeline.
Politisch, militärisch, moralisch ist dieses Land sitzen geblieben, hadert zumindest zum Teil auch weiter mit der effektiven Unterstützung der Ukraine und wird bald ganze Bundesländer an die Russland ergebene AfD verlieren. Schade, dass meine Heimat den Verstand zu verlieren scheint..
Wem eine ukrainische Menschenrechtsaktivistin wie Oleksandra Matwijtschuk weniger zugänglich erscheint, mag vielleicht lieber Alina Laptschuk hören, die man auch auf dem Titel des Buches in ihrem völlig zerbombten ehemaligen Wohnzimmer sieht. Sie sagt: „Ich hatte die ganze Zeit gehofft, dass mein Mann noch am Leben ist, und wusste, dass ich ihn retten musste, denn wäre mit mir etwas geschehen, er hätte mich ganz sicher gerettet. An seinem Blick erkannte ich immer, was er dachte, was er mochte. Die sechsundzwanzig Jahre unserer Ehe verflogen wie ein einziger Tag. Leider konnte ich ihn nicht retten, aber ich will, dass alle die Wahrheit erfahren, was die russische Armee mit meinem Mann angestellt hat.
Wenn wir schweigen, dann werden diese willkürlichen Gewalttaten sich immer weiter ausbreiten und wiederholen. Die russischen Soldaten wollen uns mit ihrem Terror brechen. Sie behaupten, dass wir niemand sind und sie eine große Nation; dass die Ukraine von der Weltkarte verschwinden muss. Ich habe ihnen ins Gesicht gesagt: Ihr seid Mörder, Sadisten. Meine Mutter ist Ukrainerin, mein Vater Jude. Die ganze väterliche Linie waren alle Juden. Ich kann von vornherein kein Nazi sein.“ (4)
Oder man hört die junge Hanna Propopenko, die sich an ihre 86jährige Großmutter aus Mariupol erinnert, die Schriftstellerin und Dichterin. Oder man hört vom bekannten Dokumentarfotografen Max Lewin, von dessen Mut und Ehrlichkeit bis zum Ende ein enger Freund in diesem Buch Zeugnis ablegt: „Er war stur, aber in einem positiven Sinn. Wenn er etwas machen wollte, dann machte er es. Bevor wir in das damals schon eingekesselte llowaisk fuhren, sagte ich zu ihm: Lass uns alles Für und Wider abwägen. Die Stadt ist eingekesselt. Rein können wir, aber möglicherweise nicht mehr raus. Dann bleibt uns womöglich nichts übrig, als auch zu kämpfen. Worauf er: Mach, wie du willst, ich fahre! Durch seine Sturheit erreichte er seine Ziele. Wenn er irgendetwas fotografieren wollte, dann ließ er nicht locker, klopfte so lange an alle Türen, bis sie auf-gingen. Und er war immer ehrlich. Wenn ihm etwas nicht gefiel, dann sagte er einem das direkt ins Gesicht, ohne irgendetwas zu beschönigen. Und auch wenn die Gefahr real war, sagte er immer: Wir müssen fahren. Die Jungs sind auch in Gefahr. Wir müssen fahren und zeigen, wie es ihnen dort geht.“ (5)
Diese Einstellung hat Max Lewin das Leben gekostet. Lesen wir noch einmal mit genau seinen Worten das Credo der Verantwortung, des Realismus und der Freundschaft: „Der Krieg hat mich ein paar einfache Dinge gelehrt: Menschen als Deinige oder als Fremde zu identifizieren. Die Dinge beim Namen zu nennen. Schwarzes als schwarz zu bezeichnen. Zu wissen, dass du einem Deinigen, unabhängig davon, seit wann du ihn kennst, auch um drei Uhr in der Nacht zu Hilfe eilst, ohne irgendwas zu fragen. Wie er auch dich im Unglück nicht zurücklassen wird.“ (5)
Ein Credo, das alles andere als bequem ist - vor allem, wenn man den liberalen Relativismus der Zeit nach dem Kalten Krieg im Westen genießen durfte- in einer Gesellschaft, die immer noch gern über Gendersternchen streitet, und keinesfalls die „Dinge beim Namen“ nennen möchte.
Das führt uns im Buch - neben vielen anderen- zur Kinderärztin Olha Svyst, die aus Butscha berichtet, wo die russischen Soldaten neben allen anderen Gräueln Kinderspielzeug und Kinderwägen verminten, „nichts war ihnen heilig“. (6)
Der Überfall mag für die Ukraine den paradoxen Effekt haben, dass die nationale Identität sich auf lange Sicht deutlich verstärkt, der Wiederaufbau des Landes Partnerschaften und wirtschaftlichen Aufschwung bringt und die EU- und NATO- Mitgliedschaft konkret greifbar wird- falls das Land nicht doch noch überrannt oder vom Westen im Stich gelassen wird. Der Krieg verändert die Ukraine, gewiss. Aber verändert er auch uns?
--------------
1 https://promiblogs.de/tino-chrupalla-eltern-herkunft/ Der Link ist keine Empfehlung
2 Olha Volynska, Wie der Krieg uns verändert. Zwölf Interviews mit Augenzeugen von Russlands Krieg gegen die Ukraine, Klingenberg Verlag, Graz 2023
3 Olha Volynska, S 55
4 Olha Volynska, S. 47
5 Olha Volynska, S. 77
6 Olha Volynska, S. 147