Aletheia und die erkennende Armut




Zur Armut des Geistes gibt es natürlich viel zu sagen, worüber wir höflich schweigen. Wir wenden uns Georg Kühlewind zu (1), diesmal mit seiner zunächst merkwürdigen Beschreibung Rudolf Steiners als Revolutionär - nein, nicht der Ahnvater Ewigkeits- trunkener Spießer-, nein, der moderne Erkenntnistheoretiker, der Stirner-, Haeckel- Nietzsche- Nachfolger: „Die radikale Säuberung des Wahrnehmungsbildes von Begrifflichkeiten - eine Gebärde, die auch ein so genialer Philosoph wie Husserl, aber lange nicht so durchgreifend wie Steiner, versucht hat - ist ein Teil des Fegefeuers, durch das die menschliche Seele gehen muss, bevor sie als Bewusstseinsseele den Neuanfang der Welt begründen kann. Daher auch Steiners Hochschätzung für Max Stirner, Nietzsche, Haeckel - sie alle haben am Abtragen der Reste der tradierten, nunmehr entleerten Werte mitgeholfen. Daher auch Steiners - manchmal vielleicht nicht ganz gerechter - Missmut gegenüber Mystikern. Die Richtung dieser reinigenden Geistbewegung ist Armut - das Erleben der Armut im Geiste, Ohnmacht heißt es manchmal, das Eingeständnis, dass der Reichtum verloren gegangen ist. Nur die Armut kann empfangender Kelch werden, sie zieht den Geist an; sie hat nichts, das dem Neuen, den wahren wirklichen Ideen der Natur und des Weltgeschehens, sich hindernd entgegenstellen könnte.

Diese erkennende Armut, die vollständige Akzeptanz des Nicht- Wissens, sei der einzige Weg, um das Tönen der Dinge und der Welt vernehmen zu können: „Dass die Welt - der Wahrnehmungen und der inneren Quelle - Geschehen ist, kein statisches Sein, war für das archaische Bewusstsein Erfahrung, für das spätere religiöse ein Wissen. Es bedeutete, dass alles, auch ein Stein, ein Felsen nicht etwa «ist», sondern ein Vorgang ist, vorgeht, vor dem Menschen. Indem sich das Bewusstsein auf die Ebene des Lebens - der Geistesgegenwärtigkeit oder Imagination - begibt, kann das auch heute Erfahrung werden.

Die Dinge - auch die leblosen - geschehen, als seien sie lang gehaltene Töne. Das inspirierte Bewusstsein erlebt dieses Tönen. Die vergleichende Sprachwissenschaft stellt fest: Je archaischer eine Sprache ist, um so mehr Zeitwörter hat sie im Vergleich mit den Hauptwörtern. Und selbst diese haben in solchen Sprachen Verb-Charakter. Hinter dem Geschehen sind tätige Wesen: Götter oder ihre Stellvertreter, die Naturgeister.

Der Mensch, der die Armut durchlaufen, akzeptiert und situativ in ein Hören und Lauschen verwandelt hat, erkennt das Murmeln der Dinge, ihre Bewegtheit und Gestimmtheit. Er erkennt aber auch, dass er als Erkennender ein wesentlicher Teil der Welt ist; nur durch sein Erkennen wird die Welt das. Aber in der Armut vermag der Erkennende den Dingen Raum zu geben, sich tiefer auszusprechen, denn „ohne ihn gäbe es „Welt“ oder Weltgeschehen nicht“(1). Eine Welt ohne Mensch sei, so Kühlewind, auch nur eine Vorstellung des Menschen. 

Der Dualismus entspringt der Absonderung des menschlichen Erkennens, des Auseinanderfallens von Wahrnehmen und Denken- was Rudolf Steiner in der Philosophie der Freiheit so ausdrückte: „Wir sind es selber, die wir uns von dem Mutterboden der Natur loslösen, und uns als „Ich“ der „Welt“ gegenüberstellen.“ (2)

Das Erfassen des „Weltgeschehens“ als nicht- dualer, meditativer Zustand sei, so Kühlewind, weder durch Sentimentalität noch durch Mystik zurück zu gewinnen. Aber auch nicht durch Informationen, und seien sie mystischer Art. Das Wünschen hat noch nie geholfen, aber die Selbstgefühle der Auserwählten des Geistes auch nicht. Das partizipierende Denken der archaischen Kulturen kannte den Dualismus nicht, aber auch nicht die Autonomie der Moderne: „Im archaischen Bewusstsein war, extrem ausgedrückt, kein Gegenüberstehen, kein Erfahren, kein Selbstbewusstsein, sondern ein Mitleben in geistiger Sympathie“ (1). Der erkennende Geist, der sich selbst nicht erfasst, wird doch im Augenblick des Erkennens eins mit dem Erkannten- er verpasst den Moment und damit sich selbst: 

Man wird an Aristoteles erinnert: «Anima quod-dammodo omnia - Die Seele ist in bestimmtem Sinne alles Seiende» (De anima III, 8; 431 b) - ein Satz, der im großen Werk von Thomas von Aquin in vielen Variationen zu lesen ist. Denn die «Wahrheit der Dinge» sagt nicht nur aus, dass die Dinge Sinn, Bedeutung, Aussage sind, sondern dass die menschliche Seele zu diesem Sinn, dieser Bedeutung, dieser Aussage Zugang hat, sie erfahren kann und auch darüber weiß, das heißt auf dieses Verhältnis schauen kann. Indem sie erkennt, wird sie - mindestens für einen Augenblick - das, was sie erkennt. Und nur dieser Augenblick zählt; in ihm wird die Unterbrechung des Weltgeschehens geheilt, und die Welt lebt in und aus diesen seltenen Augenblicken, überlebt die Unterbrechungen - Aletheia heißt auch Ununterbrochenheit.“ (1)

Die Heilung der zersprungenen Beziehungen - des Weltgeschehens- im meditativen Akt geschieht nur in den besonderen Augenblicken des weichen Willens, der sanften, Raum lassenden Fokussierung- doch der Moment des Gewahrwerdens im Erkennen bleibt. diese Intuition, in der das Erkennen transparent wird ist eine Fähigkeit, die ein Aspekt des Ich wird. Von diesem Augenblick an wird "Üben" zu etwas anderem- es wird zum Grundbedürfnis, zu etwas, was einen anhaltenden Durst stillt, zu einem Moment des Friedens mit der Welt. 

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1 GK Die Esoterik des Erkennens und Handelns in der Philosophie der Freiheit und der Geheimwissenschaft Rudolf Steiners, S 62f

2 RS PhdFr, 33