Wenn das Denken als Denken gewollt ist
Wie merkwürdig und verschroben sie sich geben, die Mystiker und Anti- Materialisten, die aus Buddha einen Aktivisten gegen das Zeitgenössische machen. Sie entfallen damit der Gegenwärtigkeit und verfallen ihrer Ideologie. Das Ideologische aber ist das Ende aller Spiritualität.
Glatteis allerorten. Und die sich anbietenden spirituellen Texte sind so schwierig zu lesen. Sie sind es schon deshalb, weil man sie symbolisch- allegorisch auffasst und im Nachgang einzuordnen und zu verstehen versucht. Das angenommene Metaphorische entgleitet aber der gewohnten Kontextualisierung, fällt ins Nebelhafte, Spekulative, was man sehr wohl bemerkt, wenn man ehrlich zu sich ist. Oft bauen spirituelle Texte mehr Rätsel auf als sie zu enthüllen. Sie sind Hinweise, gewiss, aber auch Aufforderungen zu praktischem Umgang, Realisation.
Nehmen wir ein Beispiel:
„Der Wille, der in der Kontemplation lebt, ist reiner Wille, denn er vollführt die Bewegung, die seine eigenen Ursprungskräfte der reinen Substanz der Kristalle, der Pflanzen und der Wasser eingeprägt haben. Jedesmal, wenn das Denken als Denken gewollt ist, wird dieser dem Denken immanente Wille zur Kraft der Imagination, zur Kraft des Lebens.“ (1)
Der „immanente Wille“ des Denkens ist in diesem spirituellen Textfragment nicht metaphorisch aufzufassen. Aber um zu ergreifen, was damit über einen bildhaften Charakter hinaus ausgesagt sein mag, ist es eben nötig, sich den Schlüssel anzueignen- das, was Scaligero als Kontemplation bezeichnet, oder genauer: Leben in der Kontemplation. Denn dieses Leben drückt sich offenbar aus in einem Willen, der größer sein muss als das, was wir als Wollen zu beschreiben gewohnt sind. Der reine Wille, der eine strukturierte Bewegung vollführe, sei zugleich das, was sich in Formen der Dinge der Natur artikuliere. Scaligero nennt als Beispiel Kristalle, Pflanzen, Wasser. Es ist die Schaffenskraft schlechthin, auf die Scaligero zielt, die somit geistig existent sein muss, bevor die Natur überhaupt Form annimmt, Gestalt, Zeitlichkeit. Die „Prägung“ findet erst statt, nachdem der Ursprung dieser Kräfte sich selbst vollendet hat. Dieser Prozess hat einen worthaften Charakter: Es drückt sich etwas in der ihm eigenen Form aus.
Dann kommt der Schwenk auf sich selbst: Auf das Denken, den Denkenden, den Schreibenden, den Leser: „Wenn das Denken als Denken gewollt ist..“ Damit ist gemeint: Wenn das Denken seine eigenen Ursprungskräfte entdeckt, wenn die Aufmerksamkeit ihrer selbst gewahr wird, wenn die Gegenwärtigkeit sich als Ich erkennt. Dieses Wenn - ist es Bedingung oder ist es einfach eine Frage der Zeit? Was gibt einem den Anstoss, sich umdrehen zu wollen wie Maria Magdalena am Grabe? Es ist genau dieses Umwenden gemeint: Der Wille, anzuhalten, der Wille stehen zu bleiben, der Wille, sich umzudrehen, der Wille, dem Anblick stand zu halten.
Wenn das Denken als Denken gewollt ist, blickt es sich an.
Wenn das Denken als Denken gewollt ist, wird es seiner selbst gewahr.
Der „immanente Wille zur Kraft“ wird allmählich ausgebildet- das wiederum ist ein anderes Kapitel. Mit einem einzelnen Einblick ist es nicht getan. Diesen Willen, der eine natürliche Gestaltungskraft darstellt, denkend nicht zu erfassen, aber in seiner ewigen Beweglichkeit aufgehen zu können, sowohl in Hingabe, als auch in selbstbewusster Transparenz, daran arbeitet man schon lange, wenn man nicht von jeher dafür begabt ist. Und wir, wir sind zu gar nichts begabt. Wir müssen es lernen wie ein musikalisches Instrument. Nur dass wir selbst dieses Instrument sind, wir selbst als das, was uns ausmacht, und wir müssen es tönend machen. Nein, wir machen die Töne nicht, wir lassen sie nur erklingen. Der Wille spricht sich in uns aus. Auch für uns, wie für die Naturdinge: "Dieser Prozess hat einen worthaften Charakter".
So verspricht Scaligero: In diesem Willen findet der Dualismus ein Ende. Wir sprechen uns aus, nicht nur als natürliches Wesen, sondern als geistiges Wesen, das seiner selbst gewahr wird und damit aus dem Schatten seiner selbst tritt.
Das meditative "Üben" hört auf Übung zu sein. Es wird zum Glück, unter dem Sternenhimmel zu liegen, auf einer belebten Wiese, im Duft eines von Pilzen durchsetzten Waldes: Es ist ein Atemholen geworden.
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1 Massimo Scaligero, Das Licht, Ostfildern 1994, S. 85