100 Jahre Todestag Rudolf Steiners. Von Erkenntnis, Präsenz und anthroposophischen Phrasen
Schon immer haben sich Menschen gefragt, was es bedeutet, in einem Zustand meditativer Versenkung nicht zu denken, nicht zu fühlen und auch nicht zu wollen. Wie soll eine Aufmerksamkeit bestehen bleiben, unbewegt und ausdauernd, ohne auf der Ebene des Denkens, der Logik, der Ableitungen zu basieren? „Wirklich aufmerksam zu sein bedeutet nicht zu denken. Nicht einmal zu fühlen. Und auch nicht empfangender Wille zu werden.“ (1)
Aber wie soll das funktionieren ohne die gewohnten Stützen des Verstehens, der Kontextualisierung, des Abwägens und Einordnens? Kann menschliches Bewusstsein aus sich bestehen, und dazu ohne sprachliche, logische, Sinn gebende Einbettung? Das wäre ja eine Unabhängigkeitserklärung der Aufmerksamkeit, die rein aus sich selbst bestünde, ohne Anlehnen, Ablauf und Formung, aber auch ohne Abwägung, Verwerfen und Selbst- Korrektur.
Eine solche Autonomie, wenn sie denn überhaupt gesucht werden sollte, wäre etwas nicht Gegebenes; es wäre ein geistiger Status, der erst herbeigeführt werden müsste, den man in religiös- weltanschaulichen Kontext stellen kann, aber nicht muss. Es ist auch legitim, sich ohne ehrgeizigen Überbau einfach zu erfreuen an der Dynamik eines flüssig gewordenen, improvisierenden Bewusstseins, das die Konventionen und Vorgaben des Denkens für eine gewisse, begrenzte Zeit im meditativen Akt übersteigt.
Charakteristisch ist die Empfindung tiefer und nicht endenwollender Unbewegtheit bei gleichzeitiger hoher Stringenz und Dynamik, vor allem aber einer starken gefühlten Unmittelbarkeit: „Die Aufmerksamkeit bleibt unbewegt beim Thema, Begriffe, Gedanken, alles schon Geformte vermeidend. Sie verbleibt als das formfreie, begriffsbildende, flüssige Denken.“ (1)
Im Status Nascendi zu verbleiben, im inneren Werde- Kern, an dem Punkt, der die Welt bewegt, an dem Punkt, in dem sich Begriffe und Welten bilden: dort ein Zelt aufzuschlagen, zumindest für eine überschaubare Zeit: Das ist ein alter Traum von Erlösung, Frieden und Erleuchtung. Auch von Anthroposophen, wenn sie den hundertsten Todestag des Meisters begehen. Lass mich, Meister, bleiben in Deinem Schoß!
Dem Traum zu folgen widerspricht der Realität des bloßen nackten Faktischen, den simplen Analogien und Zirkelschlüssen, den Denk- und Empfindung- Gewohnheiten, des am Standard der Zeit orientierten Denkvermögens des Standards, des Status, der Spießigkeit, des Kitschs. Alles andere ist Beginn. Und im Beginn zu Hause zu sein, ist die Kunst, das Unmögliche zu wollen. Etwas, was man immer wieder neu begründen muss, in jedem Augenblick. Etwas, das auf nichts und niemanden beruht als auf sich selbst. So ein Selbstbewusstsein wünscht sich auch das Mitglied der anthroposophischen Bewegung zum 100. Todestag. Aber der Beginn als geistiges Prinzip ist schwierig für den Einzelnen zu greifen, für eine Gesellschaft mit ihren 40000 Mitgliedern vermutlich umso mehr, denn hält nicht gerade ein Kanon von Gewissheiten, ein Wust von Gewohnheiten auch sprachlicher und sozialer Art, ein institutionell gewachsenes Gefüge mit seinen Regelwerken und spezifischen Karrieren ein solches soziales Gebilde zusammen?
„Diese Aufmerksamkeit ist Licht, das alles durchdringt. Denn alles ist aus diesem Licht gemacht.“ (1) - ein Anspruch, den aber auch eine Erkenntnis- Gesellschaft zumindest in Ansatz, Haltung und Methodik bewegen sollte, wenn sie nicht institutionell erstarren will.
Clarice Lispector setzt eine Grenzüberschreitung als erzählerische Methodik in ihren Romanen ein, die sie in der Formulierung zusammen fasst „I was leaving my world and going into the world.” (2) Die Ukrainerin und Brasilianerin Lispector (5) stellt sich vor, bereits tot zu sein, aber so, als bloßes Bewusstsein, auf die Welt, das Leben und den Körper zu blicken: Es ist der Blick der Autorin, der schon „Welt“ - das Andere- geworden ist. Von hier aus kein Ort, keine Zeit, keine Innenwelt- schaut auch das Ich ganz anders aus.
Von der beleuchteten in die aktiv- selbstgewahr werdende Denkwelt zu schlüpfen, stellt ein Überwinden der selbstbezüglichen Spiegel- Welt dar. Das Licht der Aufmerksamkeit hat allerdings, auch wenn es das Individuum erfasst, einen zunächst unpersönlichen Charakter- es ist die schaffende Kraft schlechthin, die sich durch ein und mittels eines Individuums realisiert und artikuliert, aber als sonnenhaftes Schaffen, das sich ausbreitet, kein Produkt, nichts Ausgedachtes ist, sondern ein Aspekt von „Welt“ ist, in den man eintritt. Man macht es sich nicht zueigen, sondern geht weiter und weiter darin auf. Die „Welt“, in die wir eingehen, ist nicht meine Welt, aber „ich“ finde mich in ihr.
Lispector positioniert sich in einer vorgestellten Perspektive, in der sie einerseits tot ist - als Körper, als Ego- andererseits aber höchst lebendig beobachtet- von einem exterritorialen Standpunkt aus. Eine perspektivische Methodik, anders denken und schauen zu können, aber nicht mit dem Anspruch, zu lehren und zu vermitteln, sondern als Anregung, als Motiv und Thema beim Schreiben.
Was hat nun die anthroposophische Bewegung methodisch, perspektivisch anzubieten an einem Punkt, an dem sie den 100. Todestags ihres Gründers und einzig wahren Schauenden begeht- ein Datum, das - was unerwähnt bleibt- für den Anthroposophen als mystisches 3 x 33 Jahre- besondere Bedeutung hat. Der Lehre nach ist ein Impuls nach diesen drei vollen Generationen ganz selbständig geworden, unabhängig vom Gründer, aber hoffentlich doch geprägt von ihm- eine „Metamorphose“ des Ursprungsimpulses. Hören wir doch zu diesem Thema Stephan Hasler vom Goetheanum, der uns in Anthroposophie weltweit (3) hoffentlich auch das heutige methodische Instrumentarium dieser Hochschule- Inspirations- Gesellschaft erläutert und frische eigenständige Impulse aufzeigt. Leider werden wir schon im Eingangssatz mit einer anthroposophischen Hoffnung abgespeist, die sich nicht um die Präsenz, Perspektive- Methode der Erkenntnisgewinnung, Denk- Wandlung beschäftigt, sondern die Präsenz Rudolf Steiners 100 Jahre nach seinem Tod einfach behauptet: „Wer hat sich nicht die Frage gestellt, wer wir dank Rudolf Steiner sind und wer wir wären, wenn uns Rudolf Steiner nicht begegnet wäre? Nodar Belkania (GE) hat in der diesjährigen Generalversammlung Andrei Belyi zitiert: «Wie schwer es ist, ein Anthroposoph zu sein, und noch schwerer, keiner zu sein.» Rudolf Steiner ist präsent, das kann erlebt werden.“ (3)
Belyi selbst in nach seiner anthroposophischen Zeit in Russland zum Kommunismus konvertiert, so viel ich weiß. Aber schon in Berlin hatte er sich mit seiner anthroposophischen Ehefrau ebenso überworfen wie mit der organisierten Anthroposophie: „1914 heiratete er die Grafikerin Assja Turgenieff, eine Großnichte des Dichters Iwan Turgenew, die er in Paris kennengelernt hatte. Von 1912 bis 1916 beschäftigte sich Bely intensiv mit der Anthroposophie Rudolf Steiners, dessen persönlicher Schüler er wurde. Ab 1914 arbeitete er zusammen mit seiner Frau an der Errichtung des ersten Goetheanums in Dornach in der Schweiz mit. 1916 kehrte er wegen einer Einberufung nach Russland zurück, Assja blieb in der Schweiz. Nach einer Aussprache 1921 in Berlin trennte sich das Paar.
Im Jahr 1921 emigrierte Bely nach Berlin und verkehrte in der Passauer Straße, zu dieser Zeit eines der Zentren exilrussischer Kultur in Berlin.[6] In dieser Zeit wandte er sich zeitweise von der Anthroposophischen Gesellschaft ab und kritisierte etwa die „Verquickung von falscher Esoterik und von Vereinsmeierei“ in der Anthroposophischen Gesellschaft.“ (4)
So bleibt etwas rätselhaft, was Hasler im Namen des Vorstandes offenbar im Namen der Mitglieder behauptet: „Weltweit wurde lange Zeit auf die hundertjährige Wiederkehr des Schwellenübertrittes von Rudolf Steiner hingelebt.“ (3) Vermutlich druckst Herr Hasler so herum, um vor allem bedeutungsschwer, aber inhaltsleer den - anthroposophischer Terminus technicus- „Schwellenübergang“ anzusprechen, sich „weltweit“ zu scharen um den toten Meister, der, wenn auch keine erkenntnistheoretische Souveränität von ihm zu verkünden ist, doch irgendwie fortlebt in Treffen, Zweigen und insgesamt in „Besinnungsmomenten“ (3). Auch in einer Überschrift wird beschworen „Rudolf Steiner ist präsent“ (3). Statt einer Erkenntnis- Wissenschaft oder Such- Gemeinschaft wird wie in einem Kult auch hundert Jahre nach seinem Tod der Meister lediglich beschworen: „Sein Werk ist eine Schaffensaussage und Quelle. Auf diese Weise sind unzählige Menschen weltweit mit ihrem Handeln direkt mit Rudolf Steiner verbunden, und seine Geisteskraft ist täglich unter uns. Auf dieses Geisteslicht und auf diese Schaffenstiefe darf vertraut werden auf inneren und äußeren Wegen.“ Geisteskraft, Geisteslicht, Schaffenstiefe: Die Fülle der Phrasen verdeckt den substantiellen Mangel, ja den völligen Verzicht auf meditative Methodik, um stattdessen zum klingeln und zu tönen, wie sich Anthroposophen gern zuklingeln lassen. Ob Rudolf Steiners Impulse noch wirksam sind als „Schaffensaussage“ (Hasler), kann man schwer beurteilen, aber die Dichte an reinen Phrasen und Eso- Beschwörungen spricht nicht für souveräne Entfaltung.
Denn was Georg Kühlewind (1) für den meditativen Prozess beschrieben hat („Wenn die Aufmerksamkeit nicht konzentriert genug ist, fällt das Bewusstsein ins Denken zurück.“) gilt auch für die Gesamt- Gesellschaft: Wenn die Souveränität und Authentizität nicht konzentriert genug ist, fällt der Anthroposoph in die Phrase zurück.
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1. Kühlewind Licht und Freiheit Stuttgart 2005/ 2 S 40
2. Michael Marder, Experience moves beyond the self and beyond linear time. The philosophy of Clarice Lispector
3. https://anthroposophie.org/de/newsletters/anthroposophie-weltweit-nr5-2025