Die reine Gegenwärtigkeit. Georg Kühlewinds esoterischer Pfad zur Selbsterkenntnis. Skizze und Kritik
Der von Georg Kühlewind skizzierte Weg zur vertieften Meditation über das Denken mag auf den ersten Blick intellektuell überfrachtet und unkonventionell erscheinen. Insbesondere die Vorstellung, sich einem Gedanken in einer Weise zu widmen, die seine Esoterik – im Sinne seiner inneren, verborgenen Bedeutung und Wirkkraft – erschließt, fordert die gängigen Annahmen über kognitive Prozesse heraus. Kühlewinds Ansatz, der sich an die Philosophie Rudolf Steiners, aber auch an Zen anlehnt, praktiziert eine Auseinandersetzung mit der Natur des Gedankens, die weit über dessen bloße begriffliche Fassung hinausgeht.
Die Objektivierung des Gedankens als erster Schritt zur Wirklichkeit des Geistes
Kühlewind formuliert dies prägnant: „Wenn man einen Gedanken «beobachtet» - das vergangene Denken, das, im Gegensatz zu den Gefühlen, in seiner Vergangenheit bleiben kann -, wenn man das Gedachte beobachtet, gewinnt man erstens den Eindruck: Es ist da, unabhängig von seiner Erscheinungsform, von den Worten, vom Satzbau und so weiter, es ist eine Wirklichkeit.“ Dieser erste Schritt impliziert eine Objektivierung des Gedankens. Anstatt sich mit dem Denkprozess als solches zu identifizieren, wird der Gedanke selbst zum externen Objekt der Betrachtung. Dies mag zunächst paradox erscheinen, da Denken gemeinhin als eine rein subjektive Aktivität verstanden wird. Kühlewind jedoch postuliert, dass der fertige Gedanke – das bereits Formulierte, Gesprochene oder Gedachte – eine eigene ontologische Qualität besitzt. Er existiert als eine Art „geistige Realität“, losgelöst von der konkreten Formulierung oder dem individuellen Denkakt, der ihn hervorgebracht hat.
Die Erfahrung, die Kühlewind hier beschreibt, ist die der retrospektiven Analyse. Indem man einen bereits formulierten Gedanken aufmerksam betrachtet und aktiv analysiert, wird deutlich, dass diese Aktivität stets auf ein vergangenes Denken abzielt. Die eigentliche Tätigkeit liegt in der Betrachtung und Analyse, während der Gedanke selbst – das beobachtete Objekt – zunächst als etwas Festumrissenes, Fertiges und Vergangenes erscheint. Doch je intensiver man sich im Rahmen dieser "vormeditativen" Auseinandersetzung mit dem scheinbar objekthaften Gedanken beschäftigt, desto mehr erweitert sich dessen Kontext. Man erkennt, dass der Gedanke nicht isoliert, sondern als Zuspitzung einer umfassenderen, sinnstiftenden Intention entstanden ist. Er ist eingebettet in einen weiten kulturellen, historischen und gesellschaftlichen Hintergrund, aus dem er entsprang und dem er – seiner Bedeutung nach – weiterhin entspringt.
Hier wird deutlich, wie ein Gedanke als dynamisches Gebilde verstanden wird, das sich aus einem Feld von Bedeutungen, Sinngebungen und Zwecken speist. Er ist nicht nur ein abstraktes Konstrukt, sondern eine wirkende Kraft in der Welt, die Widerstände hervorrufen, als Symbol oder Status wirken und sogar maßgeblich die Geistesgeschichte mitgestalten kann. In diesem Sinne ist der betrachtete Gedanke in der Tat eine „Wirklichkeit“, eine geistige Entität mit konkreten Auswirkungen. Kühlewind schlägt hier eine Brücke zwischen der scheinbar immateriellen Welt der Gedanken und ihrer materiellen Manifestation und Wirkung in der Welt.
Vom Gedachten zum Denken: Die Hinwendung zur gegenwärtigen Intuition
Nachdem die erste Phase von der Untersuchung des objektivierten Gedankens ausgefüllt wird, leitet Kühlewind zum zweiten Schritt über: der Hinwendung zur beobachtenden Instanz selbst, dem Denken des Denkenden. Er beschreibt es so: „Zweitens kann man es als Gedankenform sehen, die spezifisch, wieder unabhängig von der Ausdrucksgestalt es ist.“ Hier wird der Fokus von der Inhaltsebene des Gedankens auf seine reine Form und Dynamik verschoben.
Die meditativen Betrachtung bewirkt, dass die Aktivität des Beobachtens – der Grad der Konzentration und Hingabe – immer intensiver wird. Diese gesteigerte Aktivität wird als reine Gegenwärtigkeit im Geist erfahrbar, sobald die Betrachtung sich ihrer selbst gewahr wird. Kühlewind argumentiert: „Mit dieser Beobachtung beginnen die Schritte rückwärts, in Richtung des Entstehens des Gedachten; die beobachtende Instanz ist schon, wenigstens für Augenblicke in der Gegenwärtigkeit.“ Dies ist ein kritischer Übergang: Man bewegt sich von der Betrachtung des Produkts (des Gedankens) zur Produktionsstätte (dem Prozess des Denkens selbst).
Diese Umwendung auf die Aktivität selbst führt nach Kühlewind zu einem Erleben einer körperlosen Präsenz, die mit einer gewissen Selbstvergessenheit einhergeht. „Wird die Bewegung rückwärts intensiv genug, so kommt man zum Denken, zum Prozess, das heißt in die Gegenwärtigkeit der Intuition.“ Die hier einsetzende Intensität ist nicht nur spürbar, sondern besitzt eine spezifische Dichte und Qualität, die wiedererkennbar wird. Es ist ein Zustand, in dem man „die Zeit vergessen“ kann, sich nicht mehr primär über die Sinne angesprochen fühlt, sondern in der Wirklichkeit reiner, ja absoluter Aktivität verweilt. Kühlewind beschreibt dies als einen Zustand, in dem die Produktivität des Denkens sich als Beginn des Eintauchens in eine schaffende Welt erweist, die den Kernbereich menschlichen Seins ausmacht. Dies impliziert, dass das wahre Potenzial des menschlichen Geistes nicht im passiven Konsum von Gedanken, sondern in deren aktiver und bewusster Erzeugung liegt.
Das Licht des Fühlens und die Wurzeln des Bewusstseins
Der Höhepunkt dieser meditativen Reise ist für Kühlewind das Eintauchen in eine „intuitive Lichtwelt“. Er beschreibt, wie in dieser Hingabe Lichtwellen von außen einzusetzen scheinen, ein typisches Wogen und Wabern, in dem sich diese intuitive Welt offenbart. Die eigentliche Meditation beginnt an dem Punkt, an dem dieses Licht, welches die atmende, lebendige Seite des Geistes repräsentiert, tatsächlich konstituierend in den eigenen Organismus eintritt. Dies wird als eine Art geistige Nahrung (Manna) und konstituierende Erkenntnis beschrieben. Die Erfüllung kann sich physisch an der Stirn manifestieren und sich durch die Chakren fortpflanzen, was an Konzepte der Kundalini-Erweckung erinnert, jedoch aus einer spezifisch anthroposophischen Perspektive interpretiert wird.
Noch tiefer führt der Weg, wenn man sich dem „größeren Licht des Fühlens“ zuwendet. Kühlewind beschreibt dies als eine „Wolke des erkennenden Fühlens“, die den Ursprung des Denkens darstellt. In diesem Stadium wird die Einheit von Denken und Fühlen erfahren, wobei das Gefühl nicht als affektive Reaktion, sondern als eine substanzielle, erkennende Macht verstanden wird: „Setzt man die Bewegung fort, dann erlangt man das noch größere Licht des Fühlens, eine Wolke des erkennenden Fühlens, den Ursprung des Denkens, aus dem der Gedanke geworden ist. In diesem Produkt, in seinem blitzartigen Zustandekommen wirkte diese Gefühlswolke mit.“ Dies deutet darauf hin, dass die Entstehung eines Gedankens nicht allein ein intellektueller Prozess ist, sondern tief in einem präkognitiven, fühlenden Bereich wurzelt.
Interessanterweise beschreibt Kühlewind die Begleiterscheinungen dieser Erfahrungen oft mit sinnlich-poetischen Bildern: das Ballen von Wolken, ein Blütenmeer, ein süßer, verheißungsvoller Duft nach Frühling. Diese Bilder erinnern an die Figur der Kore, der Frühlingsgöttin, oder Demeter, was auf archetypische Verknüpfungen mit Naturprozessen und der Entfaltung des Lebens hindeutet. Kühlewind betont jedoch die Ökonomie der Erfahrung, dass man nicht zu sehr an diesen imaginativen oder rituellen Begleiterscheinungen haften sollte, da sie letztlich nur vorübergehende Phänomene sind.
Die wahre Essenz liegt in der Erfahrung des „größeren Lichts des Fühlens“ selbst. Dieses „erkennende Fühlen“ ist eine grundlegende Macht, die die eigene Mitte durchweht und konstituiert. Es ist eine Kategorie, die weit über das Alltagsgefühl hinausgeht und eine substanzielle Verankerung des Wesens ermöglicht. Ohne diese Verankerung, so Kühlewind, ist das Ich „auf hoher See jeder Ideologie ausgeliefert“, was die existentielle Bedeutung dieser inneren Stabilität unterstreicht.
Der Wille als Ursprung und das universelle Licht
Der letzte Schritt der Kühlewinds'schen Meditation führt noch tiefer, zum Willenskeim, der die fühlende und denkende Gestalt noch unaufgelöst in sich trägt. Kühlewind spricht von einem „Licht-Willen“, in dem sich die Fähigkeit zur Artikulation, autonomer Bewegung und Gestaltung des menschlichen Ichs erst noch entwickeln muss. Dies deutet auf eine präexistente, schöpferische Kraft hin, die dem Denken und Fühlen zugrunde liegt.
Diese aufgezeigten Perspektiven, die Kühlewind mit Hilfe der Anthroposophie skizziert, sind für ihn jedoch nur die Anfänge. Der Weg „endet hier nicht, er erstreckt sich weiter nach oben.“ Der einzelne Gedanke wird als Teil eines sich universell ausbreitenden Lichtes verstanden. Je höher die Wahrnehmungsfähigkeit des menschlichen Geistes wird, desto allgemeiner und umfassender wird die Sinnesgestalt, bis zu einem Punkt, an dem alles in einem Augenblick „verständlich“ wird. In diesem höchsten Zustand fällt die gesamte Welt in ihrer räumlichen und zeitlichen Mannigfaltigkeit zusammen, Gliederung und Einheit bestehen ungestört nebeneinander. Dies beschreibt einen Zustand kosmischer Einheit und allumfassender Erkenntnis, der über die individuelle Erfahrung hinausweist.
Kritische Einordnung und alternative Perspektiven
Kühlewinds tiefgehende und elaborierte Beschreibung der Meditation über das Denken stellt einen modernen Schulungsweg für das zeitgenössische Bewusstsein dar und bietet damit eine reiche Quelle der Reflexion, der geistigen Arbeit und der Kontemplation. Doch wie bei jeder esoterischen oder philosophischen Schule ist eine kritische Auseinandersetzung unerlässlich.
Kritikpunkte:
Die beschriebenen Erfahrungen – das „Licht des Fühlens“, das „Wogen und Wabern“, die „körperlose Präsenz“ – sind zunächst subjektive Phänomene. Während sie für den Praktizierenden von großer persönlicher Bedeutung sein mögen, ist ihre intersubjektive Verifizierbarkeit oder wissenschaftliche Messbarkeit unmöglich. Dies macht Kühlewinds Aussagen anfällig für den Vorwurf der Anecdota oder des Metaphysischen ohne empirische Grundlage. Aus einer wissenschaftlichen Perspektive, insbesondere der kognitiven Neurowissenschaften, würde man eher versuchen, diese Zustände neurobiologisch oder psychologisch zu erklären, etwa als veränderte Bewusstseinszustände, die durch bestimmte meditative Praktiken hervorgerufen werden.
Kühlewinds Terminologie und Konzeption sind in der anthroposophischen Weltanschauung Rudolf Steiners verwurzelt. Für Nicht-Anthroposophen kann dies eine Hürde darstellen, da viele Konzepte – wie die Kundalini-Erweckung im anthroposophischen Kontext oder das „Licht des Fühlens“ – ein spezifisches Vorverständnis erfordern. Dies birgt die Gefahr einer esoterischen Zirkularität, bei der die Argumente innerhalb des Systems schlüssig erscheinen, aber von außen schwer zugänglich oder nachvollziehbar sind. Für Anthroposophen ist Kühlewind oft „zu trocken“ und damit unzugänglich. Er bietet nicht genug gewünschten Content mit Engeln, Schwarzmagiern und geheimen NATO- Truppen- womit sich Anthroposophen eben gern abfüttern lassen.
Die Metaphorik und Semantik in Bezug auf „Lichtwellen“, „Manna“ oder „Chakren“ kann – außerhalb des spezifischen Verständnisses der Anthroposophie – missinterpretiert werden oder zu einem dogmatischen Festhalten an bestimmten Bildern und Ritualen führen, die Kühlewind selbst als nebensächlich ansieht. Die Unterscheidung zwischen der Kern-Erfahrung und den Begleiterscheinungen erfordert eine hohe Sensibilität und Klarheit, die nicht immer gegeben ist.
Alternative Perspektiven und Bezüge:
Kognitive Psychologie und Metakognition: Kühlewinds Beschreibung des „Beobachtens des Gedankens“ kann als eine Form der Metakognition verstanden werden, also des Denkens über das eigene Denken. Die kognitive Psychologie untersucht, wie Menschen ihre Denkprozesse überwachen und regulieren. Hier gibt es Parallelen zu Achtsamkeitspraktiken, die darauf abzielen, eine distanzierte Beobachtung eigener Gedanken zu ermöglichen, um deren Einfluss auf Emotionen und Verhalten zu verstehen und zu modulieren.
Philosophen wie Edmund Husserl oder Martin Heidegger untersuchten das Wesen des Bewusstseins und der Erfahrung ohne präkonzipierte metaphysische Annahmen. Kühlewinds Beschreibung des Denkens als „Wirklichkeit“ und des „Licht des Fühlens“ könnten im Rahmen phänomenologischer Studien als spezifische Bewusstseinsphänomene interpretiert werden, die einer präzisen Beschreibung und Analyse zugänglich sind, auch wenn sie nicht empirisch messbar sind.
Die Beschreibung des Eintauchens in eine „intuitive Lichtwelt“ und die Erfahrung des „universellen Lichtes“ weist starke Parallelen zu mystischen Erfahrungen in verschiedenen religiösen und spirituellen Traditionen auf (z.B. Sufismus, christliche Mystik, buddhistische Kontemplation). Diese Traditionen betonen oft die direkte, nicht-konzeptuelle Erfahrung des Göttlichen oder der Einheit des Seins, die über rationale Erkenntnis hinausgeht.
Fazit und Weiterführung
Georg Kühlewinds Ausführungen zur Esoterik des Denkens bieten eine tiefgreifende und herausfordernde Perspektive auf die menschliche Kognition und Spiritualität. Sie laden dazu ein, über die rein rationale Funktion des Denkens hinauszublicken und eine innere Dimension der Wirklichkeit zu erkunden. Während die subjektive Natur und die starke Verankerung in der Anthroposophie eine kritische Distanz erfordern, können seine Konzepte als wertvoller Impuls für die Erforschung des Bewusstseins dienen. Sie fordern uns auf, die Grenzen unserer gängigen Vorstellungen von Denken, Fühlen und Wille zu hinterfragen und die Möglichkeit einer tieferen, umfassenderen Erkenntnis anzunehmen. Die „Frühlingsgöttin“ symbolisiert in diesem Kontext nicht nur die vitalen, schöpferischen Kräfte des Geistes, sondern auch die ständige Erneuerung und Entfaltung des Bewusstseins, die in Kühlewinds Pfad angestrebt ist.
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Alle Zitate aus Georg Kühlewind Die Esoterik des Erkennens und Handelns in der Philosophie der Freiheit und der Geheimwissenschaft Rudolf Steiners, S. 47f