Die unverzichtbaren Säulen der Anthroposophie: Marie Steiner-von Sivers und Ita Wegman
![]() |
AI- Foto Ita Wegman heute |
Die persönliche Auseinandersetzung zwischen Marie Steiner-von Sivers und Ita Wegman nach dem Tod Rudolf Steiners im Jahr 1925 war tiefgreifend und hatte desaströse und langanhaltende Auswirkungen auf die Anthroposophische Gesellschaft. Dieser Konflikt, der oft als "Urnenstreit" bezeichnet wird, spiegelte nicht nur persönliche Spannungen wider, sondern auch grundlegende Differenzen in der Interpretation von Steiners Erbe und der zukünftigen Ausrichtung der anthroposophischen Bewegung. Um die Komplexität dieser Ära vollständig zu erfassen, ist es unerlässlich, die herausragenden individuellen Leistungen beider Frauen zu würdigen, die weit über ihre Beziehung zu Steiner und die internen Querelen hinausgingen.
Karma, Liebe und Arbeit in der Michaelsburg
1. Einleitung: Die Gestaltung der anthroposophischen Landschaft
Die Anthroposophie, initiiert von Rudolf Steiner, entstand um 1900 aus okkulten und esoterischen Strömungen mit dem Anspruch, eine „wissenschaftliche“ Weltanschauung zu sein. Ihre immense kulturelle Bedeutung erlangte sie jedoch nicht primär durch ihre intellektuellen Ansprüche, sondern vor allem durch ihre vielfältigen Praxisfelder.[1] Diese praktische Ausrichtung ist ein entscheidender Aspekt für das Verständnis der Bewegung, da sie abstrakte spirituelle Konzepte in konkrete, funktionale und kulturell wirksame Initiativen wie die Waldorfpädagogik, die biologisch-dynamische Landwirtschaft, die anthroposophische Medizin und die Eurythmie überführte. Dies verdeutlicht, dass das bleibende Erbe der Anthroposophie tief mit ihren angewandten Bereichen verbunden ist, was sie zu einer lebendigen Bewegung und nicht nur zu einem philosophischen System macht.
Die Bewegung selbst ist von einem breiten Spektrum geprägt. Sie umfasst hochergebene Persönlichkeiten, die Steiners Ideale mit großem Engagement leben, aber auch hochdogmatische Anthroposophen und Anthroposophinnen, von denen einige während der COVID-19-Pandemie mit radikaler Impfverweigerung, Verschwörungserzählungen und Verbindungen zu rechtsextremen Kreisen in Erscheinung traten.[1] Diese inhärente Ambivalenz innerhalb der Bewegung, die unterschiedliche, heterogene oder sogar antagonistische Dimensionen aufweist, deutet darauf hin, dass die Entwicklung und Institutionalisierung ihrer Praxisfelder kein reibungsloser, einheitlicher Prozess war.[1]
Obwohl Rudolf Steiner unbestreitbar die zentrale Figur der Anthroposophie darstellt, wurde ihre dauerhafte Präsenz und praktische Manifestation maßgeblich durch die unverzichtbaren Beiträge wichtiger Mitarbeiterinnen geformt, insbesondere Marie Steiner-von Sivers und Ita Wegman. Diese Analyse wird darlegen, dass Marie Steiner-von Sivers und Ita Wegman nicht bloße Unterstützerinnen waren, sondern aktive Mitgestalterinnen und institutionelle Architektinnen. Ihre jeweils eigenständigen Rollen bei der Umsetzung von Steiners spirituellen Erkenntnissen in greifbare künstlerische und medizinische Anwendungen, verbunden mit ihren grundlegenden Bemühungen zur Institutionalisierung dieser Bestrebungen, waren entscheidend für die praktische Relevanz der Anthroposophie und ihre kontinuierliche Entwicklung über Steiners Lebenszeit hinaus. Ihre individuelle Handlungsfähigkeit war entscheidend dafür, welche Aspekte der Anthroposophie in den Vordergrund traten und wie sie der breiteren Öffentlichkeit präsentiert wurden, wobei sie möglicherweise die sozial nützlicheren Aspekte betonten, während sie mit internem Dogmatismus oder externer Kritik umgingen. Dies veranschaulicht eine dynamische, nicht rein deterministische Beziehung zwischen Steiners Gründungsideen und ihrer später praktischen und institutionellen Entwicklung.
2. Marie Steiner-von Sivers: Die Architektin der anthroposophischen Künste und des literarischen Erbes
Marie Steiner-von Sivers, 1867 in Wloclawek, Polen, geboren, erhielt eine umfassende mehrsprachige Ausbildung und zeigte schon früh eine Leidenschaft für die Künste, insbesondere die darstellenden Künste, was sie zu weiteren Studien in Paris und St. Petersburg führte.[2, 3] Ihre wegweisende Begegnung mit Rudolf Steiner fand um 1900 statt. Im Herbst 1901 stellte sie Steiner die entscheidende Frage: „Wäre es möglich, eine spirituelle Bewegung zu schaffen, die auf europäischer Tradition und dem Impuls Christi basiert?“.[3, 4] Diese Frage unterstreicht ihre aktive intellektuelle Beteiligung und ihre Vision eines spirituellen Weges, der in der europäisch-christlichen Tradition verwurzelt ist – eine Vision, die mit Steiners sich entwickelndem Denken in Resonanz stand. Sie wurde schnell zu einer seiner engsten Mitarbeiterinnen, zunächst in der Theosophischen Gesellschaft und nach deren Gründung 1913 in der Anthroposophischen Gesellschaft.[2, 3] Ihre vielseitigen Aufgaben umfassten die Tätigkeit als Steiners Sekretärin, Übersetzerin, Redakteurin und Organisatorin seiner umfangreichen Vortragsreisen und anderer öffentlicher Aktivitäten.[3, 4]
Pionierarbeit in Sprachgestaltung und Eurythmie: Entwicklung, Institutionalisierung und künstlerische Vision
Marie Steiner-von Sivers widmete sich unermüdlich der „Entwicklung der künstlerischen Seite der Anthroposophie“.[2, 3] Ihr wird die „Einführung einer neuen Art der Sprachgestaltung“ zugeschrieben, und sie war aktiv an der Inszenierung von Theaterstücken beteiligt [2, 3], was ihr direktes kreatives und praktisches Engagement bei der Entwicklung dieser einzigartigen Kunstformen belegt. Eine zentrale Rolle spielte sie bei der Entwicklung der Eurythmie, einer von Rudolf Steiner 1912 initiierten Kunstform.[3, 4] Unter ihrer Anleitung entwickelte sich die Eurythmie in drei Hauptanwendungsbereiche: als Bühnenkunst, als integraler Bestandteil der Waldorfpädagogik und als therapeutische Methode.[3, 4] Diese multidirektionale Entwicklung zeigt ihre strategische Weitsicht bei der Anwendung der Eurythmie in verschiedenen Feldern. Zur Förderung dieser jungen Künste gründete sie 1920 das „Eurythmeum“, das heute als „Verein zur Förderung anthroposophischer Art und Kunst“ bekannt ist.[2] Sie überwachte auch die Gründung zweier Eurythmieschulen in Berlin und Dornach [3, 4], was ihre zentrale Rolle bei der Institutionalisierung der Eurythmie unterstreicht. Ihr Hintergrund in Rezitation und Sprechkunst war grundlegend für ihr Studium des „rein künstlerischen Sprechens“ und ihre Zusammenarbeit mit Steiner bei der Durchführung von Sprach- und Dramakursen, die darauf abzielten, diese Formen zu „wahrer Kunst“ zu erheben.[3] Das bleibende Erbe ihrer Arbeit zeigt sich in Institutionen wie der Steiner School of Speech Arts, die weiterhin eine Ausbildung in „Kreativer Sprachgestaltung (Sprachbildung)“ anbietet, wie sie von Rudolf und Marie Steiner initiiert wurde, und mit epischen, lyrischen und dramatischen Sprachstilen arbeitet.[5]
Inszenierung der Mysteriendramen und anderer Theaterwerke
Marie Steiner-von Sivers leistete Steiner wesentliche Unterstützung bei der Entwicklung und Inszenierung seiner vier Mysteriendramen (1910-1913).[3, 4] Ihr Engagement erstreckte sich auch auf die Inszenierung von Goethes Faust und anderen Theaterwerken [2, 3], was ihre praktischen Beiträge zum anthroposophischen Theater verdeutlicht.
Sicherung und Verbreitung von Steiners Gesamtwerk: Verlagswesen und Nachlassverwaltung
Marie Steiner unterstützte Steiners Arbeit mit ihren persönlichen finanziellen Mitteln und gründete 1908 den „Philosophisch-Theosophischen Verlag“ (später umbenannt in „Philosophisch-Anthroposophischer Verlag“, heute „Verlag am Goetheanum“). Alle Überschüsse aus diesem Unternehmen wurden der Veröffentlichung von Steiners Schriften gewidmet.[2, 3, 4] Dies unterstreicht ihre entscheidende finanzielle und organisatorische Rolle beim Aufbau der Verlagsinfrastruktur für die Bewegung. Rudolf Steiner selbst würdigte ihren unverzichtbaren Beitrag und erklärte, dass er ohne sie „nicht so viel erreicht hätte, wie er tatsächlich erreichte“, und drückte ihr „unbegrenztes Vertrauen in ihre Fähigkeit aus, seine Absichten richtig zu verstehen und dass sie diejenige war, die sie eigenständig umsetzen konnte“.[2] Diese direkte Bestätigung von Steiner unterstreicht ihre einzigartige Fähigkeit zur eigenständigen Umsetzung seiner Vision.
Nach Steiners Tod im Jahr 1925 erbte sie die Rechte an seinem gesamten literarischen Nachlass, wie es in seinem letzten Willen festgelegt war.[2] Dies machte sie zur zentralen Figur für die Bewahrung und zukünftige Verbreitung seines Gesamtwerkes. Diese Erbschaft führte jedoch zu einem „langen Konflikt mit der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft“ und deren Vorstandsmitgliedern, was zu einer Distanzierung von ihr führte.[2] Als Reaktion auf diese Herausforderungen gründete sie 1943 den „Verein zur Verwaltung und Pflege des Nachlasses von Rudolf Steiner“ mit einer Kerngruppe loyaler Mitglieder.[2] Darüber hinaus gründete sie aufgrund des ungelösten Konflikts mit der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft die „Anthroposophische Vereinigung in der Schweiz“, um die Nachlassverwaltung gezielt zu unterstützen.[2] Dies zeigt ihre beharrlichen Bemühungen, die Kontrolle über Steiners Erbe zu behalten und dessen Integrität nach ihrer Interpretation zu gewährleisten, selbst angesichts institutionellen Widerstands.
Die wissenschaftliche Literatur zur Anthroposophie [1] merkt kritisch an, dass die Rudolf Steiner-Gesamtausgabe, die Mitte der 1950er Jahre begonnen wurde, obwohl sie seine Vorträge zugänglich machte, „große Probleme für die wissenschaftliche Nutzung aufweist, da sie eine Leseausgabe für Anthroposophen war, deren Interessen nicht mit denen einer kritischen Ausgabe übereinstimmten, und weil es massive Eingriffe mit weltanschaulichen Interessen in den Text gab, die teilweise noch von Steiner selbst angeordnet oder gerechtfertigt wurden und in denen die Perspektiven des späten Steiner sowie der Herausgeberinnen in eine Druckversion projiziert wurden (z.B. durch den Austausch des Begriffs ‚Theosophie‘ durch ‚Anthroposophie‘)“.[1] Diese wissenschaftliche Kritik beleuchtet die komplexe Rolle von Herausgeberinnen, einschließlich Marie Steiner, bei der Gestaltung der historischen Rezeption und Interpretation von Steiners Werk. Marie Steiner agierte somit als eine mächtige Interpretin und Kuratorin, die bewusst oder unbewusst die „offizielle“ anthroposophische Erzählung prägte und beeinflusste, wie zukünftige Generationen Steiners sich entwickelndes Denken verstehen würden. Dies verdeutlicht die vermittelte Natur historischer Texte innerhalb einer spirituellen Bewegung.
Führung, Einfluss und Herausforderungen nach Steiners Tod in der Anthroposophischen Gesellschaft
Marie Steiners Position als Steiners ausgewählte literarische Erbin und ihre Kontrolle über seinen Nachlass festigten ihre Rolle als mächtige, wenn auch oft umstrittene, Figur nach seinem Tod.[2] Die dokumentierten „langen Konflikte“ mit der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft [2] sind ein Indikator für erhebliche interne Machtkämpfe und divergierende Visionen für die zukünftige Ausrichtung der Bewegung. Eine kritische interne Perspektive aus dem anthroposophischen Milieu (insbesondere von „Bewegungsanthroposophen“) deutet darauf hin, dass die „Schuld für Dogmatismus“ „nicht nur den theosophischen Tanten, sondern der vorhergehenden Generation, insbesondere Marie Steiner-von Sivers, zugeschrieben wurde: ‚Das Gesäusel hat erst unter der Witwe angefangen‘“.[1] Diese scharfe Kritik stellt sie als eine potenziell rigide oder kontrollierende Figur dar, die alternative Entwicklungen oder Interpretationen innerhalb der Bewegung unterdrückt haben könnte.
Es ist bemerkenswert, dass Marie Steiner eine treibende Kraft hinter der Entwicklung innovativer künstlerischer Formen wie Eurythmie und Sprachgestaltung war, die sie zu Bühnenkunst, pädagogischen Werkzeugen und therapeutischen Methoden ausbaute.[2, 3, 4] Dies demonstriert eine tiefgreifende Fähigkeit zu künstlerischer Vision und praktischer Anwendung. Gleichzeitig war sie in „lange Konflikte mit der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft“ verwickelt [2] und wurde von einigen innerhalb der Bewegung des „Dogmatismus“ bezichtigt.[1] Dies offenbart ein fesselndes Paradox: Eine Persönlichkeit, die kreative und expressive Künste förderte, wurde gleichzeitig in institutionellen und doktrinären Angelegenheiten als starr oder kontrollierend wahrgenommen. Dies legt nahe, dass die Institutionalisierung der Anthroposophie, selbst in ihren künstlerischen Dimensionen, von Machtkämpfen und unterschiedlichen Interpretationen ihrer Kernimpulse geprägt war, wobei künstlerische Freiheit möglicherweise unruhig mit dem Wunsch nach doktrinärer Reinheit oder zentralisierter Kontrolle koexistierte.
Steiner selbst erkannte Marie Steiners entscheidenden Beitrag an, indem er feststellte, dass er ohne sie „nicht so viel erreicht hätte, wie er tatsächlich erreichte“.[2] Ihre Gründung des Verlags [2, 3, 4] und des Eurythmeums [2] belegt erhebliche unternehmerische und managerielle Fähigkeiten. Dies waren nicht nur administrative Aufgaben, sondern grundlegende Handlungen, die die materielle Infrastruktur für die kulturelle und künstlerische Reichweite der Anthroposophie schufen. Ohne ihre Fähigkeit, diese praktischen Felder zu organisieren, zu finanzieren und zu institutionalisieren, hätte die Anthroposophie weitgehend eine theoretische oder esoterische Philosophie bleiben können, ohne den weitreichenden kulturellen Einfluss, den sie durch veröffentlichte Werke und darstellende Künste erlangte. Dies unterstreicht, dass der Erfolg und die Langlebigkeit spiritueller Bewegungen oft ebenso sehr von praktischer, organisatorischer Führung abhängen wie von charismatischer Vision.
3. Die komplexe Beziehung zwischen Rudolf Steiner und Ita Wegman: Ärztin, Vertraute und karmische Projektionen
Beziehungen innerhalb esoterischer oder spiritueller Gemeinschaften weisen oft eine besondere Komplexität auf, da persönliche Bindungen nicht selten durch metaphysische Deutungen, insbesondere karmische Zuschreibungen, überhöht werden. Dies kann dazu dienen, individuelle Verlangen oder Beziehungsdynamiken in einen übergeordneten, schicksalhaften Kontext zu stellen, was eine Rechtfertigungsebene jenseits konventioneller Moralvorstellungen schafft. In der anthroposophischen Subkultur, geprägt durch gemeinsame Lebensstile, Arbeitsfelder und spirituelle Bedürfnisse, können solche karmischen Argumentationen die Wahl oder Beendigung von Partnerschaften beeinflussen, was von außen mitunter als ein wiederkehrendes Muster des Partnerwechsels innerhalb derselben Kreise wahrgenommen wird. Rudolf Steiner selbst betonte die Schwierigkeit, den Egoismus zu überwinden und sich dem Allgemein-Menschlichen und Kosmischen anzueignen, eine Herausforderung, die sich in persönlichen Beziehungen, insbesondere in der Liebe, als besonders virulent erweisen kann.
In diesem Kontext ist die Beziehung zwischen Rudolf Steiner und Ita Wegman zu verorten. Ita Wegman, 1876 in Indonesien geboren, traf ab 1902 auf Rudolf Steiner. Ihre anfänglichen Eindrücke waren ambivalent; Steiner sprach "kurz und bedeutungsvoll" und "sah mich forschend an", doch Wegman besuchte zunächst "nicht viele seiner Vorträge", da ihr "etwas nicht gefiel".[1] Dennoch entwickelte sich eine tiefere Verbindung, wie ihre späteren Notizen belegen: "Wir verstanden uns sehr gut."[1] Biografische Interpretationen deuten hier auf ein Erwachen "Schicksalsahnungen" und "Bilder, die schon immer schweigend in ihr gewesen waren und jetzt zu sprechen begannen".[1]
Trotz einer brüsken Zurückweisung durch Steiner im Jahr 1906, als sie ihm nach Leipzig nachreiste und er fragte, "was sie hier suche"[1], blieb Wegman der anthroposophischen Bewegung verbunden. Ab 1914 war sie eine konstante Präsenz in Steiners Vorträgen in Dornach, wo sie als "wichtigste Ärztin im anthroposophischen Umfeld, innovativ, mutig, eine Unternehmerin und Gründerin" hervortrat.[1] Ab 1922 besuchte Steiner regelmäßig die von ihr geleitete Klinik, was zu einer intensiven Zusammenarbeit zweier eigenständiger Persönlichkeiten führte. Wegmans Temperament war bekannt; Steiner selbst sprach von ihrem "Gestrüpp", worauf sie selbstbewusst erwiderte: "Es wird dem Doktor noch leid tun, wenn ich zu sanft geworden bin."[1]
Ita Wegman als Ärztin Rudolf Steiners: Krankheit, Pflege und die "Michaelburg"
Ita Wegmans Rolle als Rudolf Steiners persönliche Ärztin während seiner langen Krankheit, die im Januar 1923 begann, war von entscheidender Bedeutung und prägte ihre Position innerhalb der anthroposophischen Bewegung maßgeblich. Steiner selbst beschrieb die Ätiologie seiner Erkrankung als eine gestörte Verbindung zwischen den "höheren Gliedern" seines Wesens und seinem physischen Körper, die seit Januar 1923 nicht mehr intakt gewesen sei.[1] Er empfand eine "sehr starke Entfremdung" von seinem physischen Leib, was zu einem "labilen Gleichgewicht der physischen Kräfte" führte.[1] Ita Wegman diagnostizierte eine "starke Lockerung des Ätherleibes bis zur teilweisen Trennung des Ätherleibes vom physischen Leib" und berichtete, Steiner habe oft geäußert, er sei "eigentlich schon auf der Erde gestorben", da sein "Ich" und sein Astralleib den physischen Körper lenkten und den Ätherleib ergänzten.[1]
Nach der Zerstörung des ersten Goetheanums durch einen Brand im Jahr 1922, ein Ereignis, das Steiner als einen Angriff auf seine Lebenskräfte interpretierte, hielt er sich laut Wegman mit "übermenschlichen Willenskräften" an seinem Körper fest.[1] Seine Ernährung, die für den Ätherleib notwendige Verinnerlichung fremder Substanz, wurde danach "schwierig und immer schwieriger".[1]
Ita Wegman betonte die "stille Abgeschiedenheit", in der sie lebten.[1] Marie Steiner-von Sivers fragte Rudolf Steiner in einem Brief vom 9. Oktober 1924, ob er "eigentlich Menschen außer denen, die ihn pflegten", sehe. Seine Antwort war prägnant: "Jeder Kontakt mit Menschen berührt mich furchtbar."[1] Nur ein sehr kleiner Kreis, darunter sein Sekretär Günther Wachsmuth, Albert Steffen und Ernst Aisenpreis, durfte ihn für kurze Momente besuchen.[1] Steiner sprach von seiner notwendigen Genesung und der Hoffnung auf Besserung, betonte jedoch auch, er müsse "alles 'Zerstörerische' einstellen".[1]
Selbst in dieser Phase der schweren Krankheit war Steiner intensiv mit dem Bau des zweiten Goetheanums befasst, das er gegenüber Ita Wegman als "Michaelburg" bezeichnete.[1] Dieses Gebäude sollte als Sitz der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft dienen, die in einer von Ahriman bedrohten Zivilisation Impulse für den Wandel geben sollte.[1] Trotz der Baugenehmigung im September 1924 sah sich Steiner starkem Widerstand ausgesetzt, der seine ohnehin geschwächte Konstitution zusätzlich belastete.[1] Am 3. Dezember verfassten Rudolf Steiner und Ita Wegman einen Dankesbrief an den Gemeinderat von Dornach, in dem sie andeuteten, sich auf den Bau konzentrieren und öffentliche Diskussionen vermeiden zu wollen, um den Frieden nicht zu stören.[1]
Ita Wegman blieb auch während Steiners Krankheit eine wichtige Ansprechpartnerin für die esoterische Schulung. So riet sie am 16. Oktober der Klassenhalterin Anna Wager Gunnarsson, die Fragen zur Weitergabe der Klassenmantren hatte: "Versuchen Sie, mit allen friedlich auszukommen. Es ist jetzt wichtig, den Michael-Strom voranzutreiben. Diejenigen, die Ihnen vertrauen, werden sicherlich kommen; die anderen werden einfach fernbleiben; das müssen sie selbst wissen. Machen Sie die Lektionen der Ersten Klasse einfach inhaltsreich und ernsthaft, dann werden Sie gute Arbeit leisten."[1] Dies unterstreicht Wegmans anhaltende Rolle in der esoterischen Lehre und ihre Bemühungen, Steiners Anliegen auch unter diesen schwierigen Umständen fortzuführen.
Im Jahr 1924 wurde Steiner in seinen Briefen an Wegman zunehmend affektiver. Er nannte sie "meine liebe Mysa-Isa" und äußerte den Wunsch nach ihrer Anwesenheit: "Schön wäre es, wenn Mysa da wäre. Doch man muss diese Dinge eben „vernünftig“ einrichten."[1] Der Kosename "Mysa" bezog sich auf eine Mysterienpriesterin des Artemistempels in Ephesos im fünften vorchristlichen Jahrhundert, was eine karmische Verbindung andeutete.[1] Während er in Koberwitz „Karmavorträge" hielt, schrieb er an Wegman: "Bei allem ist mein guter Freund M-I. bei mir, und meine Gedanken gehen zu ihr."[1] Wenige Tage später wurde er explizit: „Du gehst als Freund mit mir in geistige Welten." und „Es ist so in unserem Karma, dass ich an Dir einen echten, unerschütterlichen Freund finden muss, wenn die Schülerschaft den rechten Weg gehen soll. So will es unser Karma. Wenn dies Karma zunächst einen tragischen Zug haben muss, so wird das nach keiner Richtung in der Zukunft mehr hemmend sein können. Es ist ja gewiß traurig, daß Du nicht schon früher mit mir zusammenkamest.."[1] Er deutete eine gemeinsame karmische Vergangenheit an, in der Wegman in ihrer Jugend an seiner Seite gestanden habe, und beschrieb eine tiefe emotionale Verbundenheit: „Als Du damals von mir gingst, war viel von mir genommen. Die Jugend, die in Dir an meiner Seite stand, ward von mir genommen. Ich war in keiner Inkarnation so alt als damals. „Mit ihm ist mein Herz über den Pontus gegangen“. Das war meine Stimmung."[1] Diese Passagen, die auf eine gemeinsame karmische Vergangenheit als Aristoteles und Alexander den Großen spekulieren, können als Liebesbriefe interpretiert werden, in denen Steiner seine Zuneigung und das Verlangen nach einer einzigartigen Einheit ausdrückte: "Du schreibst „Wirst du mich jetzt immer lieben bleiben?“ Meine liebe Mysa: Diese Liebe ruht auf dem unerschütterlichen Fels. Sie ruht ja auf dem, was Deine Wesenheit mir offenbart. Und das ist viel, sehr viel."[1] Er betonte, dass er zu keinem anderen Menschen so stehen könne wie zu ihr und dass er "nur im vollen Eins-sein mit Dir leben möchte."[1] Die erhaltenen Briefe Wegmans hingegen wirken im Vergleich nüchterner, und sie forderte Steiner offenbar zur Zurückhaltung auf: "Du sagst: „Es ist nicht immer gut alles zu schreiben“."[1]
Diese intensive, emotional geprägte Zuschreibung Steiners an Wegman, die sie offenbar überforderte, führte nach seinem Tod zu ihrer weitgehenden Ausgrenzung aus der Anthroposophischen Gesellschaft. Marie Steiner-von Sivers warf ihr Anmaßung spiritueller und karmischer Art vor. Wegman konnte die Rolle, in der Steiner sie sah, nicht ausleben, sondern wurde zur Geächteten. Steiners Briefe offenbaren seine Einsamkeit, das Gefühl des Eingeengtseins, seine Erschöpfung und Überforderung in seinen letzten Lebensjahren.
Ita Wegmans Reisen und ihre Weltsicht nach Steiners Tod
Nach Rudolf Steiners Tod im Jahr 1925 unternahm Ita Wegman, die von Steiners Witwe und Erbin, Marie Steiner, aus ihren Ämtern und Funktionen in der Anthroposophischen Gesellschaft gedrängt worden war, ausgedehnte Reisen. Sie war sich ihres spirituellen Rangs sehr bewusst, was sich auch in den Briefen widerspiegelt, die sie während ihrer Reisen an Freunde und Mentoren schickte.[1]
Ein bemerkenswertes Beispiel hierfür ist ihre Reise nach Griechenland und...source man bedenkt, dass Ephesos durch die Lage an dem großen Fluss Kaystros, der jetzt versandet ist, damals direkt mit dem Meer in Verbindung stand, weil der Fluss breit ins Meer mündete, dann ist man schon erstaunt über die Veränderung. Zwischen dem Meer und Ephesos liegt ein weites Stück fruchtbares Land jetzt. Und wo um das stolze Artemision herum die Wohnungen der Ephemer und ihre öffentlichen Gebäude standen, ist jetzt das ärmliche Dörfchen Selcus (..)“[1]
Ihre Beobachtungen verband Wegman mit einer kritischen Haltung gegenüber dem Islam. Sie schrieb: „Die Ottomanen mit ihrem Islam werden niemals die Weltentwicklung befördern. Wehe, wenn sie noch mehr Macht bekämen!“[1] Sogar die Vegetation entsprach nicht ihren Vorstellungen aus der Vergangenheit; sie bemerkte, dass der Wald um Artemision aus Feigenbäumen bestand, obwohl sie der Meinung war, es müssten Akazienbäume sein oder gewesen sein.[1]
In einem weiteren Brief an Fried Geuter vom 26. Mai 1932 äußerte Wegman ihr Unverständnis für das "ä“Karmawirken" der Menschen und die „Tragik auf unserem Wirken in diesem wie im vorigen Leben", die Rudolf Steiner erkannt hatte.[1] Sie beklagte, dass von den alten Mysterienstätten nichts als „ein Trümmerhaufen" übrig sei und „das menschliche Herz, das manches miterlebt hat in diesen alten Zeiten".[1] Die Kontraste zwischen „damals" und heute führten bei ihr zu einer Klage über Ephesos: „wo Türkenwirtschaft und Türkenherrschaft alles zugrunde richten, was noch eventuell da sein könnte.“[1] Dieses als ungebildet wahrgenommene Milieu rief bei ihr tiefe emotionale Reaktionen hervor, bis hin zu dem Wunsch, „einen neuen Kreuzzug anzuregen."[1]
Ita Wegman vertrat die Ansicht, dass die Menschen, die mit Artemision verbunden waren, ohne eigenes Wissen in der Anthroposophischen Gesellschaft reinkarniert waren. Mit einer Haltung, die als rassistisch interpretiert werden kann, befand sie, dass Türken nicht in die Türkei gehörten: „..man möchte jeden Türken, der da herumläuft, herausragen, er gehört nicht da; das ist eine große Tragik.“[1] Aus diesem Grund verzichtete sie auch auf einen Besuch in Istanbul, das sie beharrlich "Konstantinopel" nannte. Ihre Gefühle kultureller Überlegenheit verband sie eng mit der Anthroposophie, was ihre Haltung besonders problematisch erscheinen lässt. In einem Brief an Dr. v. Deventer vom 22. Mai 1932 schrieb sie: „Ich gehöre mit meinem ganzen Wesen zu dem Werke Rudolf Steiners und deshalb auch zu Ihnen allen, die so treu hüten dasjenige, was ich für einige Zeit verlassen habe, ja, habe verlassen müssen.“[1]
4. Ita Wegman: Die Mitbegründerin der anthroposophischen Medizin und therapeutischen Innovation
Ita Wegman, geboren 1876 als Maria Ita Wegman in Karawang, West-Java, kehrte um 1900 nach Europa zurück, um therapeutische Gymnastik und Massage zu studieren.[2, 6] Ihre erste Begegnung mit Rudolf Steiner erfolgte 1902. Fünf Jahre später, 1907, begann sie ihr Medizinstudium an der Universität Zürich und erwarb 1911 ihr medizinisches Diplom mit Spezialisierung auf Frauenheilkunde.[2, 6] Die anthroposophische Medizin wurde explizit als ein System „entwickelt von Dr. Rudolf Steiner, in Zusammenarbeit mit der Ärztin Ita Wegman, in den frühen 1920er Jahren in der Schweiz“ beschrieben.[7, 8] Dies unterstreicht ihre direkte und grundlegende Rolle als Mitbegründerin. Die theoretischen Grundlagen dieses neuen medizinischen Ansatzes wurden in ihrem gemeinsam verfassten Werk Erweiterung der Heilkunst (auch bekannt als Grundlagen der Therapie) dargelegt, welches bemerkenswerterweise Steiners letztes Buch war.[6] Diese gemeinsame Autorenschaft verdeutlicht ihre intellektuelle und praktische Partnerschaft mit Steiner bei der Etablierung dieses Medizinsystems.
Die anthroposophische Medizin wird als ein „menschenzentrierter Ansatz für Gesundheit und Heilung definiert, der die nicht-physischen (spirituellen, emotionalen, kreativen und vitalen Energie- oder Lebenskraft-) Komponenten der Realität im Menschen und in der gesamten Natur anerkennt“.[7, 8] Sie zielt darauf ab, konventionelles wissenschaftliches Wissen mit einem „spirituellen und ganzheitlichen Verständnis des ganzen Menschen“ zu integrieren.[8] Zu den Kernprinzipien der anthroposophischen Medizin gehört der Glaube, dass Krankheit eine Gelegenheit für „positive Entwicklung und Veränderung“ sein kann und dass der menschliche Organismus aus vier miteinander verbundenen Ebenen besteht: dem physischen, ätherischen (Lebenskraft), astralischen (bewusstes Gewahrsein) und spirituellen (Selbstbewusstsein oder Ego) Körper.[8, 9] Die Behandlung ist darauf ausgelegt, „die Heilkraft des Menschen zu stärken, die Gesundheit zu verbessern und die Selbsterkenntnis zu vertiefen“.[8]
Gründung des Klinisch-Therapeutischen Instituts (Ita Wegman Klinik) und Weleda
Bereits 1919 hatte Ita Wegman eine Gemeinschaftspraxis mit zwei weiteren Ärztinnen etabliert.[6] Ihren Unternehmergeist demonstrierend, erwarb sie 1920 Land in Arlesheim, Schweiz, und eröffnete im folgenden Jahr ihre eigene Institution, das „Klinisch-Therapeutische Institut“, das bis 2014 als Ita Wegman Klinik bekannt war.[6] Dies kennzeichnet sie als eine zentrale Figur bei der Etablierung der ersten institutionellen Basis für die anthroposophische Medizin. 1922 erweiterte sie ihre Initiativen durch die Gründung des „Haus Sonnenhof“, einer therapeutischen Einrichtung für Kinder mit geistiger Behinderung, ebenfalls in Arlesheim.[6] Entscheidend war auch ihre Mitbegründung von Weleda, einem pharmazeutischen Labor, im Jahr 1922.[6] Weleda hat sich seitdem zu einem „bedeutenden Hersteller von Arzneimitteln und Gesundheitsprodukten“ entwickelt [6], was ihre Weitsicht bei der Etablierung eines Produktionszweiges für anthroposophische Heilmittel unterstreicht.
Entwicklung einzigartiger therapeutischer Modalitäten: Rhythmische Massage und Misteltherapie (Iscador)
Ita Wegman entwickelte eine „spezielle Form der Massagetherapie, die rhythmische Massage genannt wird“ [6, 8], welche aus schwedischen Massagetechniken adaptiert wurde.[8] Dies stellt eine direkte und individuelle therapeutische Innovation dar. 1917 entwickelte sie „nach Hinweisen von Steiner“ eine Krebsbehandlung unter Verwendung eines Mistelextrakts.[6] Dieses ursprüngliche Heilmittel, Iscar genannt, wurde später zu Iscador verfeinert, das heute weit verbreitet als komplementäre Krebsbehandlung eingesetzt wird.[6, 9] Obwohl Steiner konzeptionelle Anregungen gab, war es Wegman, die diese Therapie klinisch entwickelte und anwandte.
Ihre Rolle in der Medizinischen Sektion des Goetheanums und spätere Konflikte
1923 lud Rudolf Steiner Wegman ein, dem Vorstand der neu strukturierten Anthroposophischen Gesellschaft am Goetheanum in Dornach, Schweiz, beizutreten.[6] Sie übernahm auch die Leitung der Medizinischen Sektion des Forschungszentrums am Goetheanum [6], was ihre hohe Führungsposition innerhalb der breiteren anthroposophischen Bewegung kennzeichnet. Jedoch „entflammten“ 1926 „Schwierigkeiten“ zwischen Wegman und dem restlichen Vorstand, was zu ihrer Entfernung aus dem Vorstand und dem Entzug ihrer Mitgliedschaft und der ihrer Unterstützer in der Anthroposophischen Gesellschaft führte.[6] Dies spiegelt die internen Konflikte wider, die auch Marie Steiner erlebte, und deutet auf ein wiederkehrendes Muster von Machtkämpfen und ideologischen Divergenzen innerhalb der Führung nach Steiner hin.
Trotz dieser institutionellen Konflikte „blühte“ ihre medizinische Arbeit „auf“, und sie reiste ausgiebig, insbesondere in den Niederlanden und England, um die schnell wachsende Bewegung zu unterstützen.[6] Dies zeigt ihre Widerstandsfähigkeit und ihren anhaltenden Einfluss, selbst nachdem sie aus dem zentralen Organisationsgremium ausgeschlossen worden war. Die kritische Aufsatzsammlung Anthroposophieforschung [1] hält Ita Wegmans vorausschauende Beobachtung aus dem Jahr 1933 fest, die sich auf die Annäherung der Goetheanum-Führung an den Nationalsozialismus bezog: „Die Goetheanumleitung wird sich doch mehr und mehr identisch erklären mit dem Nationalsozialismus“.[1] Dieses Zitat zeigt ihre politische Wachsamkeit und kritische Haltung, die wahrscheinlich zu den späteren Konflikten mit der Vorstandsleitung beitrug.
Ita Wegman war mit ihrer formalen medizinischen Ausbildung [6] die entscheidende Persönlichkeit, die Steiners abstrakte spirituelle Erkenntnisse in konkrete, klinisch anwendbare Behandlungen und institutionelle Strukturen übertrug. Sie gründete die erste Klinik [6], war Mitautorin des grundlegenden medizinischen Textes mit Steiner [6] und entwickelte spezifische therapeutische Modalitäten wie die rhythmische Massage und die Misteltherapie.[6] Dies belegt, dass sie nicht nur Empfängerin von Steiners Ideen war, sondern eine aktive „klinische Architektin“, die die Anthroposophie im medizinischen Bereich operationalisierte. Ihre medizinische Expertise war entscheidend für die Validierung und Implementierung dieser Ansätze im Gesundheitswesen, wodurch die anthroposophische Medizin zu einer greifbaren Realität wurde.
Die Fähigkeit Wegmans, ihre Klinik zu gründen und zu erweitern sowie Weleda mitzugründen [6], und das „Aufblühen“ ihrer medizinischen Arbeit selbst nach ihrem Ausschluss aus dem Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft [6], ist von großer Bedeutung. Dies zeigt, dass die praktischen Felder der Anthroposophie, einmal etabliert, ein gewisses Maß an Autonomie und Widerstandsfähigkeit entwickeln konnten, unabhängig vom zentralen institutionellen Körper. Es deutet darauf hin, dass der Erfolg dieser Anwendungen nicht ausschließlich von der direkten Aufsicht der Hauptgesellschaft abhing, sondern durch die engagierten Bemühungen von Persönlichkeiten wie Wegman, selbst im Konflikt, aufrechterhalten werden konnte. Dies stellt eine monolithische Sicht auf die Entwicklung der Anthroposophie in Frage und hebt ihre dezentrale und robuste Natur in der Praxis hervor.
Ita Wegmans Ausschluss aus dem Vorstand im Jahr 1935 [6] (Ita Wegman wurde am 14. April 1935 auf der Generalversammlung aus der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft (AAG) ausgeschlossen und schied damit aus dem Vorstand aus.) und ihre kritische Beobachtung von 1933 bezüglich der zunehmenden Annäherung der Goetheanum-Führung an den Nationalsozialismus [1] offenbaren tiefe ideologische Spaltungen innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft nach Steiners Tod. Dies war nicht nur ein persönlicher Streit, sondern ein Kampf um die politische und ethische Ausrichtung der Bewegung in einer turbulenten historischen Periode. Wegmans prinzipieller Widerstand gegen die wahrgenommenen Kompromisse oder Sympathien der Führung mit dem Nationalsozialismus deutet auf einen tieferen ethischen Konflikt hin, der zu ihrer Marginalisierung beitrug. Dies fügt der historischen Erzählung der Anthroposophie eine entscheidende Schicht politischer und ethischer Komplexität hinzu und beleuchtet bedeutende ideologische Risse unter ihren Schlüsselfiguren.
5. Verwebte Schicksale, eigenständige Vermächtnisse: Eine vergleichende Analyse
Marie Steiner-von Sivers und Ita Wegman waren beide maßgeblich daran beteiligt, Rudolf Steiners esoterische und geisteswissenschaftliche Impulse in konkrete, praktische Felder zu überführen, die einen spürbaren Einfluss auf die Gesellschaft hatten: Kunst und Verlagswesen für Marie, Medizin und Therapie für Ita.[2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9] Beide spielten entscheidende Rollen bei der Institutionalisierung dieser Bereiche, indem sie grundlegende Organisationen wie Verlage, Kunstschulen/-zentren und Kliniken/Pharmaunternehmen etablierten.[2, 6] Diese Bemühungen waren von entscheidender Bedeutung, um die Langlebigkeit, Zugänglichkeit und breitere gesellschaftliche Verbreitung anthroposophischer Praktiken zu gewährleisten. Ihre gemeinsame Arbeit erweiterte Steiners Vision über abstrakte theoretische Konzepte hinaus und trug maßgeblich dazu bei, dass die Anthroposophie zu einem „Kulturimpuls“ mit „immenser kultureller Bedeutung“ durch ihre „Praxisfelder“ wurde.[1] Beide Frauen bekleideten hohe Führungspositionen innerhalb der zentralen Anthroposophischen Gesellschaft und dienten in deren Vorstand [2, 6], was ihre anerkannte Bedeutung innerhalb der Kernstruktur der Bewegung unterstreicht.
Trotz ihrer engen Zusammenarbeit mit Steiner und ihrer Abhängigkeit von seinen „Hinweisen“ oder „Impulsen“ brachten beide Frauen einzigartige berufliche Hintergründe und unternehmerische Antriebe in ihre jeweiligen Bereiche ein. Marie Steiners umfassende künstlerische Ausbildung in Schauspiel und Rezitation [2, 3] war entscheidend für die Entwicklung und Institutionalisierung der Eurythmie und Sprachgestaltung. Im Gegensatz dazu war Ita Wegmans Medizinstudium und Spezialisierung [6] unverzichtbar für die klinische Anwendung und Entwicklung der anthroposophischen Medizin. Marie Steiners besondere Autorität ergab sich aus ihrer Ernennung zu Steiners literarischer Erbin und ihren akribischen Bemühungen, seine Gesamtausgabe zu verwalten [2, 1], was ihr eine einzigartige Rolle als Hüterin des textuellen Erbes verlieh. Diese Rolle unterschied sich von Ita Wegmans primärem Fokus auf klinische Praxis und medizinische Innovation.
Beide Frauen erlebten nach Steiners Tod erhebliche interne Konflikte innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft, was darauf hindeutet, dass ihre starken individuellen Handlungsfähigkeiten und Visionen manchmal mit den breiteren institutionellen Dynamiken und Interpretationen von Steiners Erbe kollidierten.[2, 6, 1]
Die von ihnen gegründeten oder mitbegründeten Institutionen, darunter der Verlag am Goetheanum, das Eurythmeum, die Ita Wegman Klinik und Weleda, bleiben zentrale Säulen der anthroposophischen Bewegung und ihrer praktischen Anwendungen bis heute.[2, 6] Die von ihnen entwickelten oder mitentwickelten künstlerischen und medizinischen Therapien – Eurythmie, Sprachgestaltung, rhythmische Massage und Iscador – sind weiterhin Kernbestandteile der anthroposophischen Praxis weltweit.[3, 4, 5, 7, 8, 9] Ihre Arbeit spielte eine entscheidende Rolle dabei, die Anthroposophie als eine Bewegung mit greifbaren, praktischen Anwendungen zu etablieren und damit maßgeblich zu ihrer öffentlichen Sichtbarkeit, Akzeptanz und der Fähigkeit beizutragen, „Sympathisanten“ auch außerhalb ihrer organisierten Mitgliedschaft anzuziehen.[1] .
Die Anthroposophie versteht sich als „wissenschaftliche“ Weltanschauung [1], die auf „höherem Wissen“ und „spirituellen Erkenntnissen“ basiert.[7, 9, 1] Marie Steiner und Ita Wegman waren entscheidend für die Entwicklung praktischer Felder (Kunst, Medizin), die, obwohl sie aus diesen spirituellen Erkenntnissen stammten, implizit oder explizit eine Form der Validierung durch ihre Anwendung und wahrgenommene Wirksamkeit suchten. Die Erwähnung von „wissenschaftlichen Belegen“ für die Misteltherapie [8, 9] und die Integration der anthroposophischen Medizin in „konventionelle medizinische Praktiken“ [7, 8, 9] unterstreicht diesen strategischen Versuch, die Lücke zwischen esoterischem Wissen und empirischen Ergebnissen zu überbrücken. Ihre Arbeit stellt einen entscheidenden Versuch dar, anthroposophische Anwendungen in der breiteren Welt zu legitimieren und einen pragmatischen Ansatz für ein ansonsten esoterisches System zu demonstrieren.
Sowohl Marie Steiner als auch Ita Wegman, als zentrale Figuren nach Rudolf Steiners Tod, erlebten „lange Konflikte“ und „Schwierigkeiten“ mit dem Vorstand der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, die zu ihrer Distanzierung oder ihrem Ausschluss führten.[2, 6] Dieses wiederkehrende Konfliktmuster unter Steiners engsten Mitarbeiterinnen weist auf eine grundlegende Herausforderung hin, die charismatischen Bewegungen eigen ist: Wie lassen sich die Nachfolge regeln, das komplexe und sich entwickelnde Erbe des Gründers interpretieren und die institutionelle Einheit nach dem Tod des charismatischen Anführers aufrechterhalten? Ihre starke individuelle Handlungsfähigkeit, obwohl entscheidend für die Expansion der Bewegung in praktische Felder, trug auch zu interner Fragmentierung und Machtkämpfen bei. Dies offenbart die inhärente Instabilität bei der Übertragung einer singulären, charismatischen Vision in ein nachhaltiges, kollektives und einheitliches Unternehmen.
6. Fazit: Die unverzichtbaren Säulen der anthroposophischen Entwicklung (Zusammenfassung)
Marie Steiner-von Sivers war maßgeblich an der Gestaltung des künstlerischen Ausdrucks der Anthroposophie beteiligt, insbesondere durch ihre Pionierarbeit in Eurythmie und Sprachgestaltung, und gewährleistete die akribische Bewahrung und weltweite Verbreitung von Rudolf Steiners umfangreichem schriftlichen und mündlichen Erbe durch ihre verlegerischen Initiativen.[2, 3, 4, 5] Ihre Beiträge schufen die wesentliche ästhetische und intellektuelle Infrastruktur für die kulturelle Reichweite der Bewegung. Ita Wegman, eine ausgebildete Ärztin, war Mitbegründerin der anthroposophischen Medizin und übersetzte Steiners spirituelle Erkenntnisse effektiv in ein umfassendes, menschenzentriertes Gesundheitssystem.[6, 7, 8, 9] Ihre visionäre Gründung von Kliniken (wie der Ita Wegman Klinik) und pharmazeutischer Produktion (Weleda) sowie ihre Entwicklung spezifischer Therapien wie der rhythmischen Massage und der Misteltherapie (Iscador) schufen einen robusten und dauerhaften praktischen heilenden Zweig der Anthroposophie.[6, 8]
Die Karrieren von Marie Steiner-von Sivers und Ita Wegman zeigen eigenständige Handlungsfähigkeit, unternehmerischen Geist und ein großes Engagement für die Verwirklichung des anthroposophischen Potenzials im praktischen Leben. Sie waren nicht bloße passive Empfängerinnen oder Assistentinnen von Steiners Vision, sondern aktive Mitgestalterinnen, die erhebliche institutionelle Herausforderungen bewältigten und der Form, Funktion und öffentlichen Wahrnehmung der Bewegung einen unauslöschlichen Stempel aufdrückten. Ihre Arbeit sicherte den Übergang der Anthroposophie von einem theoretischen Rahmen zu einer lebendigen, angewandten kulturellen Kraft. Selbst "Mitgestalterinnen" trifft den Kern der Sache nicht richtig. Man darf den "Visionär" Steiner gar nicht ohne die denken, die die Visionen lebensfähig und praktikabel machten.
Zukünftige Untersuchungen könnten die Dynamiken ihrer Zusammenarbeit mit Rudolf Steiner weiter beleuchten und dabei zwischen seinen ursprünglichen Impulsen und ihrer nachfolgenden, oft unabhängigen Entwicklung und Verfeinerung anthroposophischer Praktiken unterscheiden. Ein wichtiger Forschungsansatz wäre die Untersuchung der geschlechtsspezifischen Aspekte ihrer Führung und der Rezeption ihrer Autorität innerhalb einer überwiegend männlich geführten esoterischen Bewegung, um zu erforschen, wie ihr Geschlecht ihre Rollen, Herausforderungen und Vermächtnisse beeinflusste. Die Analyse, wie ihre individuellen Vorstellungen, Rollen und die internen Konflikte, denen sie begegneten, die langfristige Entwicklung der praktischen Felder der Anthroposophie prägten, insbesondere als Reaktion auf externe Kritik und anhaltende interne Debatten, würde neue Einblicke in die Evolution der Bewegung ermöglichen. Eine detaillierte vergleichende Studie ihrer jeweiligen Führungsstile und wie diese die unterschiedlichen institutionellen Kulturen der künstlerischen und medizinischen Zweige der Anthroposophie beeinflussten, würde wertvolle Perspektiven auf die Organisationsentwicklung innerhalb esoterischer Bewegungen bieten.
Quellen__________________________
* [1] Hintergrund- Informationen per AI aus 'Viktoria Vitanova-Kerber, Helmut Zander (Hrsg.)A N T H R O P O S O P H I E -F O R S C H U N G. F O R S C H U N G S S TA N D - P E R S P E K T I V E N - L E E R S T E L L E N
* [1] zudem: Hintergrund Information aus Rudolf Steiner, GA 223.pdf
* [8] https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC3865373/
* [6] https://en.wikipedia.org/wiki/Ita_Wegman
* [7] https://drhertle.com/anthroposophic-medicine/
* [3] http://www.exploringtheword.com.au/wp/about-marie-steiner/
* [2] https://www.rudolf-steiner.com/en/rudolf-steiner-englisch/marie-steiner-englisch/
* [4] https://www.exploringtheword.com.au/about-marie-steiner/