Die anthroposophische anti- liberale Hybris, wieder einmal entflammt

Natürlich sind sie nicht alle gleich, die alten weißen Männer. Aber doch ein bißchen gleicher als andere, um George Orwell (1) zu paraphrasieren. Der Konservatismus liegt in der Natur des Alterns, so im allgemeinen, denn Flexibilität, Neugier, ungestümes Interesse, Multitasking- Fähigkeit und das Gefühl der offenen Wege, der unbegrenzten Möglichkeiten sind nun einmal vor allem das Privileg der Jungen. Die Alten kleben gern am Status Quo, was man in diesen Tagen gut an den alten weißen Männern der bayrischen CSU beobachten kann, die sich in besonderem Maße (nämlich bis hin zur Zerstörung der eigenen Regierungskoalition und Partei) an ihre Macht und Positionen klammern. Die Dissonanz zwischen Selbstwahrnehmung des Mächtigen und der Lächerlichkeit, die dieses Bild von außen abgibt, könnte nicht größer sein.

Die Verarbeitung sensorischer Impulse, die Fähigkeit zur Koordination, die Verlagerung räumlicher Abschätzung in Instrumente und z.B. die Außengrenzen eines PKWs- das lässt alles im Alter nach. Daher sieht man, wie viele Alte mit gedrosseltem Tempo krampfhaft versuchen, ihre Spur zu halten. Es ist eben nicht nur Erfahrung und Reife, was dieses Klammern am Status Quo hervor ruft- es liegt auch an der gedrosselten kognitiven Leistungsfähigkeit.

Die nachlassende Plastizität des Gehirns verlangsamt auch Top- down- Prozesse (2), d.h. das Erlernen und Beherrschen völlig neuen Inputs, neuer Medien, neuer Geräte. Installationen von Implantaten wie digitalen Hörgeräten werden komplizierter, weil die neuartigen sensorischen Impulse immer schwerer gedeutet und in das Verstehen integriert werden können. Neue Geräte und Technologien werden zum Fluch, weil der spielerische, aktive Umgang, das Erproben neuer Methoden der Aneignung verloren geht. Der Fahrkarten- Automat, das neue Smartphone, die Fernbedienung, das digitale Haus werden zu einer Herausforderung, die sich ständig verändernde (nicht nur technische) Umgebung wird immer mehr als bedrohlich, fremdartig und unverständlich wahrgenommen. Das Einspinnen in eine eigene Agenda, in kommunikative und kognitive Standards ist ebenso die Folge wie eine unbestimmte Wut - ein Prozess, der tatsächlich zur eskalierenden Isolation führen kann- in Form einer self- fulfilling prophecy. (3)

Gerade Anthroposophen haben sich das vielleicht ganz anders vorgestellt: Das Studium der Schriften, die Arbeit in meditativen Zusammenhängen, die Teilhabe an spirituellen Veranstaltungen sollte - so die Legende- zu einem Anwachsen von Weisheit, Bedeutung und Ansehen führen. Das bleibt, wie so viele andere Versprechen, was die Kulmination der anthroposophischen Bewegung und ihre Bedeutung in der Gesellschaft betrifft, offensichtlich aus. Vielleicht liegt es am Verlust der hypertrophen Selbstbilder, der ausgebliebenen Bedeutsamkeit und Sinnhaftigkeit, aber auch am Alterungsprozess schlechthin, dass so viele ältere Anthroposophen einen Furor auf die Gegenwartskultur entwickeln, der sich in einer immer schmaleren Perspektive, einer irrealen geistigen Verengung und Verleugnung von Faktizität, und vielfach auch in einer menschlichen und politischen Radikalisierung auslebt, aber zugleich auch in einem pompösen Selbstbild. In der Binnen- Selbstsicht wird die Weltdeutung, die durch nichts mehr zu hinterfragen ist, zu einer idealisierten, sektenartigen Absolutheit, zu einem Kleben am anthroposophischen Status Quo- bis hin zu ritualisierten, formelhaften sprachlichen Mustern („Anthro- Speech“).

Natürlich bemerkt man den greisenhaften Furor nicht nur in anthroposophischen Zusammenhängen - der Fremdenhass als die Angst vor dem Unbekannten, Neuen, kulturell Anderen ist seit jeher der simple Reflex der Senilität. Die Ausgrenzung und Bekämpfung des jeweils Fremden konstituiert ein Gefühl der Identität- für das Individuum, für eine Nation, für einen Rassisten oder für den Frauenhasser. Nichts konstituiert das Selbstgefühl besser als Hass. Dass mit vergreisenden demokratischen Systemen die Sehnsucht nach Führern - ganz gleichgültig, wie korrupt sie sein mögen - und nationalistischen und rassistischen Abgrenzungen entflammt, gespeist von diffusem Furor und einer Empörungs- Attitüde, die sich in surrealen Erklärungsmodellen eine Rechtfertigung sucht - Verschwörungstheorien-, ist tatsächlich ein geistig dekadentes Phänomen. Die simpelsten Reflexe des Anti- Liberalismus, der Homophobie, des Antisemitismus und Rassismus, die den neuen identitären Nationalismus füttern, sind Anzeichen einer Alzheimerisierung der Gesellschaften. Man kann nur auf eine rationale und kraftvolle Revolte der Jungen hoffen, die einen Ausgleich zu schaffen vermag gegen diese individuelle und gesellschaftliche Sklerotisierung, die offensichtlich ansteckenden Charakter hat.

Kann man in dieser Hinsicht auf kraftvolle Impulse aus der anthroposophischen Bewegung hoffen, die in ihrer 100jährigen Geschichte doch so oft enttäuscht hat (1933, 1968)? Wie eingesponnen sind diverse Repräsentanten in die Deutungs- Cluster der neuen Rechten, in das orbanisierte und trumpisierte Hohelied vom Sturz der liberalen Eliten, ob sie nun Clinton, Soros oder die Weisen von Zion heißen? Wie immun sind die anthroposophischen Repräsentanten gegen die identitären Reflexe, die vom Umsturz der globalisierten Systeme träumen? Nicht sehr, wenn man z.B. einem Lorenzo Ravagli folgt, (4) der auf seiner Website und vermutlich unter dem Pseudonym Sophie von Freiberg „Das Fiasko der „offenen Anthroposophie““ (Achtung, Anführungszeichen- Attacke!) beklagt.

Die liberale Elite, die von Freiberg innerhalb der anthroposophischen Bewegung lokalisiert und attackiert, umfasst Verleger und Autoren, die sich in der Zeitschrift Anthroposophie weltweit (Nr. 7-8/18) zu den antiliberalen Tendenzen der Gegenwart (5) geäußert hatten wie „Verminte Dialoge“, Verschwörungstheorien, Schwarz- Weißdenken, Simplifizierungen, Fanatismus, Vergiftung des sozialen Klimas, apokalyptisches Grundgruseln. Die Stelle von Clinton & Soros nehmen für Ravagli faktisch Held & Heisterkamp ein. Neben einem altväterlichen Sarkasmus fordert er für den aufrechten Anthroposophen der Gegenwart das Recht auf eskalierende Verschwörungstheorien ein. Selbst ein rein rationales Statement wie das von Dr. David Marc Hoffmann (Rudolf Steiner Archiv) findet bei von Freiberg keine Zustimmung, sondern nackte reaktionäre Hybris:

Im anthroposophischen Umfeld begegne ich immer wieder Vertretern der krudesten Ideologien: Holocaustleugnung, Theorien der Verschwörung durch Juden, Jesuiten, Bilderberger oder Freimaurer, spirituell ver­brämte Deutschtümelei und Bekämpfung des längst überholten Vorwurfs der deut­schen Alleinschuld für den Ersten Welt­krieg, die ‹Chemtrail›­These und dergleichen mehr. Gemeinsamer Nenner solchen Den­kens ist die faszinierte Fixierung auf ‹das Böse› und sein Wirken in der Welt sowie die Auffassung des Weltgeschehens als ein von einer kleinen Gruppe manipuliertes Marionettentheater. Und dies ausgerechnet im Kontext der Anthroposophie, die wesent­lich der Entwicklung des freien Individuums und des selbstständigen Denkens gewid­met ist!
Solche Ideologien sind mit einer auf­klärerischen Anthroposophie grundsätzlich nicht vereinbar, weder inhaltlich noch me­thodisch. Sondern sie missbrauchen einen Erkenntnisweg, der das Geistige im Men­schenwesen zum Geistigen im Weltall füh­ren will, für ihre billigen und eindimensio­nalen Welterklärungsmodelle und Macht­spiele. Für die verbohrten bis fanatischen Vertreter solch unsauberen, unredlichen und unanständigen Denkens und ihre suggestiven Methoden schäme ich mich vor der Welt. Mit diesen ‹terribles simplificateurs› will ich nichts zu tun haben. | Dr. David Marc Hoffmann, Rudolf Steiner Archiv“ (5)

Die Reaktion von Freibergs auf diese Aufrufe gegen den Missbrauch des anthroposophischen Erkenntnisweges besteht darin, die Verfasser als anonyme Verschwörer einzustufen: „Wer im Einzelnen diese »Vertreter und Vertreterinnen« waren und um welche »Einrichtungen« es sich handelte, erfährt man nicht. Man könnte aufgrund der Anonymität dieser Gruppe von Verschwörern und einer Verschwörung sprechen, die sogenannte »offene Anthroposophie«, eine subtile Erfindung dieser Verschwörer, »ins größere Gespräch« zu bringen.“ (4) Stattdessen phantasiert von Freiberg von einer Anthroposophie, die „in jeder Hinsicht revolutionär“ (4) sein sollte, und somit „mit allen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Konventionen“ bricht und „die Menschheit durch einen epochalen Bruch auf ein höheres Niveau des Bewusstseins“ (4) führt. Die Hybris, der Furor und das Superoritäts- Gefühl des vergreisten, frustrierten Anthroposophen ist hier mit Händen zu greifen- der „epochale Bruch“ mit allen Konventionen hat freilich etwas von hohlem Pathos, aber auch von einem Griff nach einem gefährlich irrationalen Moment, in dem essentielle Menschenrechte leicht zu bloßen „gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Konventionen“ werden.

Freilich, die wütende Hybris und die blindwütige Abkehr von den „Konventionen“, die die Gesellschaft zusammen halten, passen nur zu gut in eine anti- liberale, aufgeheizte politische Stimmungslage. Man kann diese Positionierung nicht nur unter der Rubrik gerontologische Problemfälle alter frustrierter weißer Männer subsumieren. Andererseits reicht ein Blick auf ein anthroposophisches Studienhaus der Gegenwart und das Alter und die Anzahl der Zweigleser doch aus, um zu sehen, dass das Gras drüber wächst und der empörte Schrei der verwundeten anthroposophischen Seele nur die Mauerblümchen erschüttert. Die egozentrische Selbstbedeutungs- Zuschreibung zeigt sich ja selbst in Ravaglis (von mir vermutetem) Pseudonym Sophie von Freiberg. Ravagli sieht sich offenbar in einer Linie mit Georg Philipp Friedrich von Hardenberg, und seiner geliebten und ihn inspirierenden Sophie. Aber der Bezug vom anti- liberalen Zeitgeist - Pamphlet zu Novalis erscheint doch sehr, sehr weit hergeholt, um nicht zu sagen: Von lächerlicher Hybris diktiert.

------------

1 https://de.wikipedia.org/wiki/Farm_der_Tiere
2 Hier nur allgemein zu top- down und bottom-up- Prozessen: https://de.wikipedia.org/wiki/Top-down_und_Bottom-up
3 https://de.wikipedia.org/wiki/Selbsterf%C3%BCllende_Prophezeiung
4 https://anthroblog.anthroweb.info/2018/das-fiasko-der-offenen-anthroposophie/?fbclid=IwAR0Pnqn3oNR6Rm_o3J22NStDaxehTvv1SxMCDSnaZzt4WHVr2AtP_o8Dpes
5 https://anthroblog.anthroweb.info/wp-content/uploads/2018/10/AWD2018_07_08_Offene_Anthroposophie.pdf