Siegfried im Osten, michaelischer Geisteskampf und die Apokalypse gegen die Neger

Zuckrige Volksseelen und Ödigkeit über der Erde


Dr Steiner denkt über Russland nach
Das Russlandbild Rudolf Steiners in seiner romantischen Verklärung, aber auch der schlichten, indirekten Ausformung eines Weltbilds, das in den Briten und Amerikanern den intellektuell „instinktiven“, machtbesessenen, materialistischen Antagonisten gegen den Russen sieht, feiert heute ja aus vielen Gründen seine fröhliche Auferstehung - in gewissen politischen Konstellationen, bei Putin- Verstehern jeglicher Couleur, aber selbstverständlich auch in einer gewissen einflussreichen Gruppe von Anthroposophen selbst. In der anthroposophischen Bewegung gilt immer wieder die Song- Zeile von Randy Newman: He didn´t grow up, he grew out: Manche werden einfach nicht erwachsen, d.h. selbständig gegenüber ihrem Meister, sondern stricken einfach die wie auch immer gearteten Aussagen ihres Meisters fort- in einem antiliberalen, autoritären, verschwörungs- theoretischen Geist. Aufs Schönste kommt diese Gesinnung aktuell in den gesammelten Zuschriften in „Anthroposophie weltweit“ (1) zum Ausdruck, in deren Hintergrundrauschen der bedingungslose Glaube an die politischen Konstruktionen Rudolf Steiners von vor 100 Jahren durchschimmert. Schauen wir uns daher das ursprüngliche manichäische Weltbild Rudolf Steiners doch einmal genauer und in der ganzen Breite an. 

Vorab ein Beispiel für die „hellsichtigen“ Behauptungen Rudolf Steiners. Die stärkere „Selbständigkeit der Denkfunktion“ (was bei Steiner ein Synonym für Intellektualismus und Materialismus ist), zeige sich schon darin, dass „in England fünfmal so viel Zucker konsumiert wird als in Russland“. Die Korrelation zwischen Zuckerkonsum und „Selbständigkeit der Denkfunktion“ ist eine, wie wir sehen werden, fragwürdige Angelegenheit - die von Steiner verwendeten Statistiken liegen zumindest für die Neuzeit überprüfbar vor (3), und zeigen, dass russische Bürger in Wirklichkeit statistisch zu den Konsumenten mit dem höchsten Zuckerverzehr gehören- mit erheblichem Vorsprung vor Ländern der EU und den USA. Die „intellektuellsten“ Länder der Welt sind demnach, wenn man Rudolf Steiners Maßstäbe anlegt, Brasilien, Australien, Russland und Saudi- Arabien. Tatsächlich geht der Zuckerkonsum in den industrialisierten Staaten zurück, deren Bevölkerung, in der Logik Rudolf Steiners, damit offensichtlich „das Ich so wenig wie möglich betonen“ (2) möchte. Man sieht schon an dieser Stelle, wie problematisch die Zuschreibungen und Generalisierungen Steiners schon bei kleinen Beispielen sind. 

Natürlich bedeutet die gering ausgeprägt „Selbständigkeit der Denkfunktion“ (2) visionär für Rudolf Steiner auch, dass der Russe an sich besonders geeignet sei für die Aufnahme von Theosophie bzw Anthroposophie. Für Russland wäre diese Weltanschauung sogar „das einzige Heil“- die einzige Möglichkeit, dass „das russische Volkstum den Anschluss findet an seine Volksseele“ (4) und die (Rudolf Steiner offenbar bekannte) Aufgabe erfüllen kann, „welche ihr vorbestimmt“ (4) ist. Dabei handelt es sich in Steiners Augen um eine überaus apokalyptische Aufgabe, denn es gilt, die „materialistische Weltanschauung“ (5), die sich in einer Form ausbreiten will, dass der Geist mechanisiert, die Seele verpflanzlicht, und der Leib vertiert wird, durch das zuckerfreie russische Bollwerk aufzuhalten. Wenn nicht, würde „Ödigkeit über die Erde hinfluten, und der Krieg aller gegen alle würde beschleunigt werden“ (5).


Anti- Amerikanismus und manichäische Legenden


Nun, das sind keine schönen Aussichten. Kein Wunder, dass gutgläubige Anthroposophen ihren Anti- Amerikanismus pflegen und in Vladimir Putin ihren Gralsritter gegen den Materialismus zu sehen wünschen, selbst wenn dieser über getreue Mittelsmänner Milliarde nach Milliarde nach Zypern und auf die Cayman- Inseln schmuggeln läßt. So etwas hätte vielleicht Rudolf Steiner nicht weiter gestört, der stattdessen in der heute stramm staatstreuen (d.h. Putin- getreuen) griechisch- orthodoxen Kirche den „luziferischen Geist“(6)  gesehen hat, der Russland geistig in seinen Klauen halten soll.  

Aber die Steinzeit- Anthroposophen, Anti- Materialisten und Putinisten haben noch viele Trümpfe im Ärmel, mit denen Rudolf Steiner die Überlegenheit der russischen Seite begründet. Im Kampf gegen die erstarrenden Ätherleiber im Westen bietet Steiner sogar den größten anthroposophischen Kämpfer in der geistigen Welt auf, den Erzengel Michael, der für ihn den Zeitgeist schlechthin, aber aber auch den Repräsentanten des spiritualisierten Denkens darstellt. Der „Kampf gegen den Drachen“ stellt so gesehen einen Kampf des russischen Ostens gegen den westlichen Materialismus dar: „Daher muß Michael einen Kampf kämpfen in Europa. Er muß etwas beitragen, daß diese westeuropäischen starren Ätherleiber aufgelöst werden in der ätherischen Welt. Dazu muß er diejenigen Ätherleiber nehmen, die sich gerne auflösen, die Ätherleiber im Osten, und muß mit ihnen kämpfen gegen Westen. Das bewirkt, daß sich seit 1879 ein mächtiger Kampf in der astralen Welt vorbereitet hat zwischen russischen und westeuropäischen Ätherleibern, und dieser Kampf durchtobt die ganze astralische Welt.“ An anderer Stelle wird Rudolf Steiner noch deutlicher und spricht vom „Kampf zwischen Osten und Westen“ - ein Kampf „für die Reinheit des spirituellen Horizontes“ (8). Genau das - diese „Reinheit“ im reinen, michaelischen Denken, die Rudolf Steiner repräsentiert sieht auf russischer Seite, hat er ja stets als Credo für den Anthroposophen schlechthin ausgegeben. Die Suche des wahren Anthroposophen mündet in diesem spiritualisierten Russland, das für ihn ja auch die nächste Stufe der Kulturentwicklung darstellt. Nur im reinen russischen Geist kann daher für Rudolf Steiner auch der Christus hellsichtig gesehen werden, da der Blick durch die korrumpierten westlichen „Ätherleiber“ dies nur „in unrichtiger Weise“ (9) vermag.

Natürlich ist nicht alles schlecht. Und selbstverständlich hat Rudolf Steiner nicht nur manichäische Weltbilder entworfen, so wie es Lorenzo Ravagli als den Sturz der Geister der Finsternis beschreibt: „Der Herbst 1879 stellt in der geistigen Entwicklung der »europäischen und amerikanischen Menschheit« einen bedeutungsvollen Einschnitt dar, denn damals fand ein Kampf seinen Abschluß, der in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts im Himmel begonnen hatte, ein Geisteskampf zwischen jenem Erzengel, der im Jahr 1879 seine Zeitalterregentschaft antreten sollte und den »Geistern der Finsternis«, die ihm diese Regentschaft streitig machten. Es war »geradezu eine Art Krieg in der geistigen Welt«, den der Erzengel Michael mit seinen Scharen gegen »gewisse ahrimanische Mächte« führte und der mit dem Sieg Michaels im Herbst 1879 endete. Dieser durch vier Jahrzehnte hindurch tobende Krieg fand seinen Abschluss darin, daß die von Michael bezwungenen Geister der Finsternis, bei denen es sich um »ahrimanische Engel« handelte, vom siegreichen Erzengel aus der geistigen Welt auf die Erde herabgestoßen wurden. Die Vertreibung ahrimanischer Engel auf die Erde hatte zur Folge, daß die Vertriebenen sich in den Seelen der Menschen niederließen, daß sie seither »ihre Festungen« im »Denken«, im »Empfinden« und in den »Willensimpulsen« der Menschen aufgerichtet haben. (10) 

Die manichäische Legende, an der Steiner arbeitete, ergibt sich daraus, dass die gesammelten Teufel des neuen Zeitalters ihre „Festungen“ in den Hirnen, Empfindungen und Willensimpulsen des Westens errichtetet hätten- während der Mensch des Ostens eher mit mangelnder Selbstbezogenheit und Individualität zu kämpfen habe: „Der Osten hatte einstmals ein grandioses Geistesleben. Und heute ist gerade der östliche Mensch bis herein nach Russland in einem merkwürdigen Zwiespalt, weil er auf der einen Seite noch aus seinem Erbe heraus in dem alten spirituellen Elemente lebt, und weil auf der anderen Seite auch auf ihn wirkt dasjenige, was aus der gegenwärtigen Epoche der Menschheitsentwickelung kommt, das Trainieren zur Individualität hin.“ (11) Auch beim Querlesen durch das Gesamtwerk Rudolf Steiners mit Hilfe von Stichwörtern und Suchmaschinen wird dieses zutiefst manichäische Prinzip- die Dämonisierung des Intellekts, des Individualismus und des Westens schlechthin- auch in der Gegenprobe deutlich, in den Zuschreibungen dessen, was er im „Menschen des Ostens“, im Russen an sich zu sehen geneigt war. Denn dieser wunderbare Russe wird durch die ihm widerfahrene Unterdrückung in seiner intellektuellen Entfaltung behindert (12) und ist zugleich auch nicht geneigt, die für den Westen typische dämonische Doppelgänger- Natur in seinem Inneren zu entfalten. Dadurch wird er aber zum Opfer für die dämonisierten Kräfte und Kulte des Westens, die in geheimen Weltlenker- Clubs selbst die sozialistischen Experimente dem Osten übergestülpt hätten, ja sogar vorhätten, die gesamte östliche Menschheit zu unterjochen und zu ihrer „Sklavenkaste“ zu machen: „Wenn vom Osten aus – und mit diesem Osten meine ich alles dasjenige, was vom Rhein nach Osten liegt bis nach Asien hinüber – kein Widerstand erhoben wird, so wird eben die englisch sprechende Weltherrschaft sich mit dem Untergange des romanisch-lateinischen Franzosenelementes so entwickeln, wie es in diesen Intentionen liegt, eine Herrenkaste des Westens zu begründen und eine wirtschaftliche Sklavenkaste des Ostens, eine Sklavenkaste, welche sozialistisch organisiert werden soll.“ (14) Also bitte. Vom Rhein aus bis nach Shenzhen, alles Sklaven der westlichen Logen. Kann man es, wenn man diesem Weltbild anhängt, Orban, Putin und den Reichsbürgern im Erzgebirge übel nehmen, dass sie sich ein bisschen wehren? 


Der wahre Siegfried war ein Russe


Die eher sachlichen Auslassungen Rudolf Steiners, was die Entwicklung von Assoziationen und Kolchosen in Russland oder die Gefahren des Bolschewismus betrifft, bleiben marginal, wenn man durch sein Gesamtwerk blättert. Im Gegenteil, der manichäische Charakter seiner Charakterisierungen zündet - zumindest bei diesem Thema - an dem hier dargestellten Punkt erst richtig und nimmt Fahrt auf, und nimmt damit auch endgültig zeitübergreifenden, apokalyptischen Charakter an- einen Charakter, der insoweit toxisch wird, dass er von radikalen politischen und sozialen Gruppen aufgegriffen, missbraucht, weiter gesponnen und in anti- humanistischem Sinne verstanden werden kann. 

Denn der östliche -vom Rhein bis nach Asien beheimatete- Mensch im allgemeinen und der Russe im besonderen ist - so Rudolf Steiner-  nicht durch Zufall prädestiniert, dem westlichen intellektuellen und individualistischen Impuls zu widerstehen, sich aber dennoch sich in seine ihm zugedachte Opfer- und Sklavenrolle zu ergeben. Es gibt nicht nur die räumliche Achse der Verdammnis - den Rhein-, sondern auch eine zeitliche. Der Russe geht, seit Urzeiten durch exklusive, uralte Mysterien seelisch- geistig eingestimmt, der sechsten nachatlantischen Kulturepoche entgegen, in der allgemeine Hellsichtigkeit und universelle Brüderlichkeit über die Menschheit herein gebrochen sein werden. Dann wird der Russe nach Steiner ganz in seinem Element sein. Es ist dies die mythische Melodie von alter Größe, dem Fallen in die Erdenschwere und von verheißener Auferstehung, die Rudolf Steiner in Bezug auf das Russentum anstimmt- aber auch von einer geistigen Passivität, die durch den alles beherrschenden Westen erst befruchtet werden muss. Übrigens zelebriert Steiner bei diesem Thema - im schärfsten Gegensatz zu dem Autor der „Philosophie der Freiheit“- auch den klassischen Kontrast zwischen Intellektualität und Spiritualität, also puren Dualismus. Die intellektuelle Herrenkaste kann die von Steiner gemeinte spirituelle Vervollkommnung offenbar nur in abstrakten Ansätzen verwirklichen- zur kulturellen Blüte wird sie erst im erwachten Slawentum kommen.

Aber schauen wir uns dieses Slawentum weiter aus Rudolf Steiners Perspektive an. Am Anfang standen neben den ganz auf die Natur bezogenen „unproduktiven“ (15) Schamanen die ganz alten nördlichen Mysterien: „Eine berühmte Einweihungsschule war im Norden des heutigen Russland. Die Eingeweihten dort nannte man die Trotten.“ (16) An anderer Stelle charakterisiert er diese Mysterien näher, und zwar ausgerechnet als die des „Siegfried“- Mythos. Die Drottenmysterien seien „gegründet von dem ursprünglichen Eingeweihten Sieg, Siegfried oder Sigge. Alle Sagen über Siegfried gehen auf ihn zurück“ (16) Nach Steiner funktionierten diese Mysterien nach dem üblichen bei ihm so dargestellten 12 plus 1 -Stereotyp, analog zu Rosenkreuzern, Templern oder Urchristen: „Wenn die Menschen sich so versammeln und jeder das Seine tut, dann bilden sie etwas wie einen höheren Organismus, einen höheren Leib, und dadurch machen sie es für ein höheres geistiges Wesen möglich, unter ihnen zu wohnen. Sieg bildete so einen Kreis von 12 Menschen, von denen jeder auf eine ganz besondere Weise seine Seele entwickelte. Wenn dann diese alle zusammenwirkten, alles zusammenfloß bei ihren heiligen Versammlungen, dann waren sie sich klar, daß unter ihnen eine höhere geistige Wesenheit wohnte als die Seele im menschlichen Leibe, daß die Seelen die Glieder sind eines höheren Leibes. Der Dreizehnte wohnte so unter den Zwölf.“ So sollen die „germanischen Götter“ beschworen worden sein, was kulturbildend in Bezug auf Ost- und Mitteleuropa gewirkt haben soll, denn - so Steiner- die Mysterienkultur, die hier ihren Anfang nahm, setzte sich dorthin fort. 


Die apokalyptische Endschlacht gegen die Farbigen


Bemerkenswert erscheinen allerdings nicht nur die Stereotypien in den Erzählungen Rudolf Steiners, sondern auch der angeblich germanische Ursprung jeglicher religiös- kultischer Kultur; der Siegfried- Kult, dem sowohl das Russentum wie Mitteleuropa entsprungen sein sollen. Leider ist das Slawentum ja, so Steiner, selbst nicht produktiv genug, um ein eigenes Geistesleben hervor zu bringen. Aber die Verheißung für eine zukünftige 6. Kulturepoche besteht. Daher hat die heutige Menschheit - speziell die Anthroposophenschaft, doch etwas zu tun, um den  Russen geistig einen Schubs zu geben: „So muß sich die Geschichte abspielen, daß von der gegenwärtigen, die eigentlichen Kulturimpulse in sich tragenden Menschheit eine spirituelle Kultur geschaffen wird, welche die eigentliche geschichtliche Nachfolge der 5. Kultur ist, und daß diese Kultur verarbeitet wird von dem, was nachfolgt.“ (18) Wenn aber die anthroposophische Weisheit aufgenommen und das Luziferische der lästigen orthodoxen Religion überwunden sein wird (6), dann werden die Russen und Slawen östlich des Rheins bis nach China in alte kulturelle Mysterienhöhen gelangen. Fast, zumindest. 

Leider muss vorher noch der apokalyptische Endkampf gegen die „Farbigen“ gewonnen werden, bis die Nachkommen Siegfrieds wirklich frei sind: „Aber ohne heftige Kämpfe gehen diese Dinge in der Welt nicht ab. Die weiße Menschheit ist noch auf dem Wege, immer tiefer und tiefer den Geist in das eigene Wesen aufzunehmen. Die gelbe Menschheit ist auf dem Wege, zu konservieren jene Zeitalter, in denen der Geist ferne gehalten wird vom Leibe, in denen der Geist gesucht wird außerhalb der menschlich-physischen Organisation, bloß dort. Das aber muß dazu führen, daß der Übergang von der 5. Kulturepoche in die 6. Kulturepoche sich nicht anders abspielen kann denn als ein heftiger Kampf der weißen Menschheit mit der farbigen Menschheit auf den mannigfaltigsten Gebieten. Und was diesen Kämpfen vorangeht, die sich abspielen werden zwischen der weißen und der farbigen Menschheit (beispielsweise der Neger in USA und der mongolischen Völker in Russland), das wird die Weltgeschichte beschäftigen bis zu der Austragung der großen Kämpfe zwischen der weißen und der farbigen Menschheit. Die zukünftigen Ereignisse spiegeln sich vielfach in vorhergehenden Ereignissen.“  (19)

Das Beispiel in Klammern ist eine Erläuterung, eine Ergänzung im Rudolf- Steiner Lexikon (20) und bestätigt lediglich den rassistischen Aspekt, den Rudolf Steiner in dieser von ihm behaupteten, Weltkriegs- ähnlichen Kulmination sah. Man sieht das schlichte Strickmuster bei ihm, das ein auserkorenes Siegfried- Volk durch eine Phase der Bedrängung durch westliche materialistische Machenschaften hindurch am Ende nach der Endschlacht gegen die „Farbigen“ das spirituelle Zeitalter einläuten lässt- wobei „der Russe“ oder „der Slawe“ für ihn Synonyme sind für den eigentlichen Anthroposophen, denn „Es wäre möglich gewesen, wenn nicht so vieles verschüttet worden wäre, in der Tat mit diesem dreigliedrigen Organismus gerade in Russland am ehesten Anhänger zu gewinnen.“ (21) Der auserkorene Slawe erscheint als Chiffre für den Anthroposophen selbst. Denn auch dieser sieht sich in seinem Auserkorensein als Vertreter der Geistes, der, durch die Machenschaften der westlichen Geheimgesellschaften und ahrimanische Konspirationen momentan an der Vollendung verhindert ist, aber einer weißen Urkultur von Mysterien entstammt, die, vom Erzengel geführt, als tragendes Element die Kultur der Zukunft determinieren wird. Anthroposophie versteht sich als gegenwärtige Erscheinungsform einer solchen Mysterienkultur. Dieser Mythos, den Rudolf Steiner zelebriert, schmeichelt seinen Zuhörern und Lesern und entbehrt nicht einer verschwörungstheoretischen, aber auch rassistischen Konnotation. Vor allem ist die Legende dem Neuen Testament entlehnt- der Geschichte vom verlorenen Sohn. Die biblische Sinngebung von der verheißenen „Heimkehr“ wird von Rudolf Steiner quasi räumlich und zeitlich ausgewalzt und exklusiv auf seine eigene Lehre bezogen. Gerade die Lokalisation und Festschreibung auf bestimmte rassische und völkische Elemente, die Ausdeutung der konspirativen Versucher und Verführer auf den materialistischen Westen, bringt den toxischen Charakter dieser Legende mit sich. Solche heiligen Missionen können politisch auf vielen Ebenen und zu diversen Zwecken instrumentalisiert, aber auch zu quasi- religiösen Weltbildern und übersteigerten Selbstbildern ausgedeutet werden. 

Dass immer wieder - und gehäuft seit der letzten Jahrhundertwende- Mythen Rudolf Steiners politisch zu deuten unternommen wird, verwundert da ebenso wenig wie die Neigung gerade von Rechtspopulisten und anti- amerikanischen Ideologen, sich das Weltgeschehen aus dieser Perspektive zurecht zu legen. Selbst eindeutig rassistische, identitäre Interessengruppen suchen für ihre kruden, menschenverachtenden Weltbilder einen quasi- religiösen Background. Die globalisierte Moderne hat ohnehin die Neigung, sich wieder einmal an sehr schlichten Feindbildern zu versuchen, um die Komplexität der Lebenswirklichkeit zu übertünchen. Da kommt das toxische Element in den Ost- West- Konstruktionen Rudolf Steiners mit seinen apokalyptischen Versprechungen und Erlösungs- Vorstellungen gerade recht. Das Strickmuster der rechten Anthroposophen betont die intrigante, verschwörerische Dominanz der Amerikaner (ohne dabei eine antisemitische Konnotation auszuschließen) und die Opferrolle des Ostens. Man kann das jederzeit aus dem Fundus mit verqueren Steiner- Aussagen garnieren wie „Denn es werden nicht bloß Menschen hassen. Mittel- und Osteuropa wird gehaßt werden, nicht von Menschen, sondern von gewissen Dämonen, die in Menschen wohnen werden. Die Zeit, wo Osteuropa vielleicht noch mehr gehaßt wird als Mitteleuropa, die wird schon kommen.“ (22)

Der Weg zu einem rationalen Umgang mit den toxischen Ingredienzen in Steiners Werk ist damit nicht verbaut. Er ist aber nicht möglich, wenn man das Selbstbild einer privilegierten Anhängerschaft pflegt und verbreitet. Die sektiererische Selbstvergottung ohne notwendige kritische Verarbeitung verfällt genau dem Strickmuster, das hier geschildert wurde: Der Adept, der sich in einer Marschrichtung von Siegfried zur 6. Nachatlantischen Kulturepoche sieht, gerät zwischen den Mythen und Legenden hoffnungslos unter die geistigen Räder. 


Anmerkungen und Verweise


2 „Der russische Bauer wird das Ich so wenig wie möglich betonen. Bei dem Engländer ist das Gegenteil der Fall. Das findet schon einen rein äußerlichen Aus- druck in der Schreibweise: der Engländer schreibt das Ich groß. Geht man diesem Sachverhalt nach, so findet man, daß in England fünfmal so viel Zucker konsumiert wird als in Russland. Der Vorgang, welcher in der Verdauung durch Zuführung einer größeren Menge von Zucker bewirkt wird, hat im oberen Menschen sein Korrelat in einer stärkeren Selbständigkeit der Denkfunktion.“ 96.173
4 „Für andere Gegenden der Erde wird Theosophie ein Vortreffliches, ein die Menschen Weiterbringendes sein. Für Russland wird Theosophie das einzige Heil sein, dasjenige, was da sein muß, damit das russische Volkstum den Anschluß findet an seine Volksseele, damit diese Volksseele nicht zu andern Aufgaben in der Welt berufen wird als die, welche ihr vorbestimmt ist.“ 158.219
5 „Würde die materialistische Weltanschauung siegen, so würde sich von Rußland ausgehend die ganze Menschheit dem Geiste nach mechanisieren, der Seele nach vegetabilisieren, dem Leibe nach animalisieren, weil die Erdentwickelung selber dazu drängt, dann würde Ödigkeit über die Erde hinfluten, und der Krieg aller gegen alle würde beschleunigt werden.“ 192.246
6 „Im Osten, in Asien und im europäischen Russland, waltet Luzifer durch die Kultur hindurch. Das luziferische Prinzip besteht darinnen, daß gute Geister zurückbleiben. In der griechisch-orthodoxen Kirche war bis in das 6., 7. Jahrhundert ein guter Geist, aber das, was zu einer Zeit ein guter Geist ist, verwandelt sich in einen luziferischen Geist, wenn es über diese Zeit fort behalten wird. Das Festhalten an der orthodoxen Religion ist ein «in den Klauen des Luzifer sein». Und viel intensiver noch ist das der Fall bei den geistigen Formen, welche sich im Orient entwickeln, die für Urzeiten ihre Berechtigung hatten.“ 159.236
7 159.263
8 „Und so sehen wir den Geist Michael und in seinem Gefolge eine Anzahl russischer Seelen für die Reinheit des geistigen Horizontes kämpfend und in hartem Kampfe mit den Seelen, die aus dem Westen gekommen sind, die scharf ausgeprägte Phantasiebilder hinaufbringen. Die müssen zerstreut, aufgelöst werden. Wir sehen diesen Kampf zwischen Osten und Westen vorbereitet schon seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, einen scharfen Kampf, der dem Fortschritt der Menschheit dienen soll, und der darin besteht, daß geistig der europäische Osten kämpft gegen den europäischen Westen, daß das geistige Russland einen scharfen geistigen Kampf führt gegen das geistige Frankreich.“ 174a.40f
9 „Wenn im Laufe dieses 20. Jahrhunderts gewissen Seelen die geistigen Augen hellsichtig geöffnet würden – und das wird geschehen – für das, was in der ätherischen Welt lebt, würden sie gestört werden durch jene Ätherleiber, die von Westeuropa her sich ausbreiten. Auf die würde der geistige Blick zuerst fallen, und man würde in unrichtiger Weise die Gestalt des Christus sehen. Daher muß Michael einen Kampf kämpfen in Europa. Er muß etwas beitragen, daß diese westeuropäischen starren Ätherleiber aufgelöst werden in der ätherischen Welt. Dazu muß er diejenigen Ätherleiber nehmen, die sich gerne auflösen, die Ätherleiber im Osten, und muß mit ihnen kämpfen gegen Westen. Das bewirkt, daß sich seit 1879 ein mächtiger Kampf in der astralen Welt vorbereitet hat zwischen russischen und westeuropäischen Ätherleibern, und dieser Kampf durchtobt die ganze astralische Welt.“ 159.263 
11 200.44f
12 „In Russland, gleichgültig, ob das der Zar oder der Lenin tut, wird die Intelligenz polizeilich unterdrückt und wird noch lange polizeilich unterdrückt werden. Vielleicht liegt gerade darin der Nerv ihrer Stärke, daß sie polizeilich unterdrückt wird. Man kann überhaupt mit Bezug auf dieses eine ziemlich schematische, aber doch gültige Zusammenstellung machen. Man kann sagen: In Russland wird die Intelligenz verfolgt, in Mitteleuropa gezähmt, und im Westen ist die Intelligenz schon zahm geboren.“ 186.245
13 „Innerhalb jener Gesellschaften, die solche okkulte Wahrheiten, die auf die Wirklichkeit gehen, pflegten, wurde zum Beispiel der Satz ausgesprochen: Man muß eine solche Politik befolgen, daß, nachdem das russische Zarenreich zum Heile des russischen Volkes gestürzt sein wird, in Russland die Möglichkeit geboten wird, sozialistische Experimente zu unternehmen, die man in westlichen Ländern nicht unternehmen will, weil sie sich da nicht als vorteilhaft, nicht als wünschenswert herausstellen. Es handelt sich darum, daß man diese Länder zunächst so weit bringt, daß sozialistische Experimente notwendig sind. – Erhält man sie dann bei dem Nichtwissen über eine soziale Ordnung, dann macht man die soziale Ordnung bei ihnen, dann macht man sich zum Regierer der sozialistischen Experimente. Sie sehen, in dem Vorenthalten einer gewissen Art von okkultem Wissen, das sehr sorgfältig gerade in diesen Zentren gepflegt wird, liegt eine ungeheure Macht. Und keine Rettung gibt es gegen diese Macht, als indem das Wissen von der anderen Seite erworben wird und entgegengehalten werden kann. Auf diesem Gebiete redet man nicht von Schuld oder Unschuld, auf diesem Gebiete redet man eben einfach von Notwendigkeiten, von den Dingen, die da kommen müssen, weil sie jetzt schon in den Untergründen, in der Region der Kräfte, die noch nicht Phänomene sind, aber die schon Kräfte sind und zu Phänomenen werden, wirksam sind.“ 186.67f 
14 186.69
15 „Vollständig verstehen, auch äußerlich, kann man das, was ostwärts und südwärts vom Kaspisee sich abspielte, nur dann, wenn man es vergleicht mit dem, was mehr nördlich davon vorging, also in Gegenden, die an das heutige Sibirien, an das heutige Russland angrenzen, sogar bis nach Europa hinein sich erstrecken. Da waren Menschen, welche sich im hohen Grade das alte Hellsehen bewahrt hatten. Bei ihnen war in weitesten Kreisen noch ein Hineinschauen in die geistige Welt vorhanden, war es ein niederes astralisches Hellsehen. Wer mit dieser Art niederen astralischen Hellsehens begabt ist, wird ein ganz bestimmter Mensch. Er hat im wesentlichen den Drang, von der Naturumgebung zu fordern, was er zu seinem Lebensunterhalt braucht, und möglichst wenig zu tun, um es der Natur zu entreißen. Schließlich weiß er ja, daß es göttlich-geistige Wesenheiten gibt, die in alle dem darinnen stecken; denn er sieht sie. Er weiß auch, daß sie die mächtigen Wesen sind, die hinter den physischen Wesenheiten stehen. Aber er kennt sie auch so genau, daß er von ihnen fordert, sie sollen ihm ohne viel Arbeit das Dasein fristen, in das sie ihn hineingestellt haben. Aber etwas zu leisten, um das Kulturniveau zu erhöhen, um die Erde umzugestalten, dazu waren diese Völker nicht aufgelegt.“ 123.28f
16 97.261
17 „Mehr im Norden, in Skandinavien und im nördlichen Russland, finden wir die Drottenmysterien, gegründet von dem ursprünglichen Eingeweihten Sieg, Siegfried oder Sigge. Alle Sagen über Siegfried gehen auf ihn zurück. Gerade in diesen Mysterien sehen wir etwas, was im Grunde allen Mysterien zugrunde liegt, was hier aber zuerst besonders deutlich hervortritt. Nun ging man davon aus, daß, wenn man einen Kreis von Menschen zusammenbringt, in dem jeder eine besondere Aufgabe übernimmt, und die doch im ganzen zusammenwirken, daß dann unsichtbar in ihnen etwas wirkt wie die Seele im (einzelnen) Menschen. Wenn die Menschen sich so versammeln und jeder das Seine tut, dann bilden sie etwas wie einen höheren Organismus, einen höheren Leib, und dadurch machen sie es für ein höheres geistiges Wesen möglich, unter ihnen zu wohnen. Sieg bildete so einen Kreis von 12 Menschen, von denen jeder auf eine ganz besondere Weise seine Seele entwickelte. Wenn dann diese alle zusammenwirkten, alles zusammenfloß bei ihren heiligen Versammlungen, dann waren sie sich klar, daß unter ihnen eine höhere geistige Wesenheit wohnte als die Seele im menschlichen Leibe, daß die Seelen die Glieder sind eines höheren Leibes. Der Dreizehnte wohnte so unter den Zwölf. Oder man nahm einen Dreizehnten, der dann im Kreise der Zwölf das Anziehungsband bildete für das, was sich herunter senken wollte. So war dieser Dreizehnte ein solcher, den man einen Stellvertreter der Gottheit in den Einweihungsstätten nannte. So war man sich klar: wenn so zwölf Menschen vereinigt waren, die in sich die Kraft entwickelten, ein Höheres unter sich zu haben, dann erhob man sich aus der physischen in die geistige Welt; zu seinem Gott erhob man sich. Sie betrachteten sich als die 12 Attribute, die 12 Eigenschaften des Gottes. Das alles bildete sich ab als die 12 germanischen Götter in den nordischen Göttersagen. Derjenige, der in diesem erlauchten Kreise ein Glied sein wollte, hatte zur Aufgabe das Aufsuchen Baldurs. Das war die Einweihung. Baldur ist dasjenige im Menschen, was sein geistiger Teil ist, was die Seele sucht, was sie findet in der Einweihung, was ihr da entgegentritt. Wer hat Baldur getötet? Die haben Baldur getötet, die das Hellseherische am Menschen getötet haben, die das Physische zusammengefügt haben, die dem Menschen das sinnliche Schauen gegeben haben, die das Physische zu schnell mißbrauchen konnten: Loki, die Feuerkraft, und ihr Ausdruck Hödur der Blinde, der darstellt die menschliche Sinnlichkeit, die unfähig ist, in das Höhere, in die geistige Welt hineinzuschauen.“ 57.412ff
18 „Denn was dann nachkommt als sechste, als siebente Kulturepoche, das muß geistig von den Schöpfungen der fünften leben, das muß die Schöpfungen der 5. Kulturepoche in sich aufnehmen. Diese hat die Aufgabe, das äußere idealistische Leben zum spirituellen Leben zu vertiefen. Das aber, was so als spirituelles Leben vom Idealismus erobert wird, das muß später angenommen werden, das muß weiterleben. Denn im Osten (Träger der 6. Epoche) wird man nicht die Kräfte haben, ein eigenes Geistesleben produktiv hervorzubringen, sondern nur dasjenige, was hervorgebracht ist, in sich aufzunehmen. So muß sich die Geschichte abspielen, daß von der gegenwärtigen, die eigentlichen Kulturimpulse in sich tragenden Menschheit eine spirituelle Kultur geschaffen wird, welche die eigentliche geschichtliche Nachfolge der 5. Kultur ist, und daß diese Kultur verarbeitet wird von dem, was nachfolgt.“ 174b. 38f
19 174b. 38f
20 Anthroposophie. Die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners Ein alphabetisches Nachschlagewerk in 14 Bänden unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes von Rudolf Steiner. Mit über 7400 Stichworten und auch sehr umfangreichen Artikeln. Illustriert. Hrsg: 1996 Urs Schwendener, CH-4252 Bärschwil/SO
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