Urschleim- Melancholiker und mediale Revolutionen oder: Das Gegenbild der sozialen Plastik
Manche Dinge ändern sich stetig, manche nie wirklich- vielleicht an der Oberfläche, vielleicht in einer Perspektive, die über die menschliche hinaus reicht.
Manche Innovationen führen zu Rückschlägen, zum Gegenbild dessen, was in der neuen Technik, Ausdrucksweise, Kultur oder in einem gesellschaftlichen Perspektivenwechsel angelegt zu sein scheint. So hat - nach Regis Debrays Betrachtungen (1) zum „Terrorismus des Himmels und der Platz des Todes in unserem Leben“ in Lettre International (2), der auf zartfühlende, sich auf Gott beziehende Terroristen ebenso eingeht wie auf das bizarre Testament des 9/11 Bombers Mohammed Atta, der seine Angehörigen aufrief, sich „nicht vom Leben ablenken zu lassen“ (1), aber auch von den Besuchern seines zukünftigen Grabmals (die ohnehin weder schwanger noch unrein zu sein hatten) verlangte, sich beim vorherigen Waschen ihrer Genitalien mit Handschuhen zu reinigen. So rein, so ideal, so himmlisch fühlte sich dieser Massenmörder bei seiner Tat, dass selbst die Besucher seines Grabes ganz und gar saubere Hände haben sollten. Noch immer gilt beim Mord dieses abgründige "Ich wasche meine Hände in Unschuld".
Aber unser Thema ist nicht die Unschuld, sondern der techno- kulturelle Wandel- es geht darum, dass wir Europäer nach der französischen Revolution in eine rationale Transzendierung des ewigen göttlichen Willens in den Kanon von Krankenkassen- Leistungen übergegangen sind- das Irrationale war zu sehr verbunden mit Rückfällen in die blanke Barbarei- für uns hat sich „die historische Zeit (..) von der kosmologischen Zeit abgekoppelt.“
Dachten wir zumindest. Aber Gott ließ sich nicht sozialisieren. Die „Kraft der Mythen“ (3) kehrte auf vielen Ebenen mit Macht zurück. Nicht zuletzt deshalb, weil der Mensch dazu neigt, zum Absoluten und Nicht- Verhandelbaren zurück zu kehren, wenn die faktischen Probleme nicht zu lösen sind. Die Utopie des Nicht- Faktischen, die „barbarischen Restblasen“ der Fundamentalisten stellen zwar eine „entfesselte kulturelle Balkanisierung“ (4) dar, aber diese identitären Aufwallungen haben eine archaische, kollektive Note, die zu dem Resistentesten in der menschlichen Existenz gehört. Davon sind der blanke Nationalismus und Rassismus nur eine, wenn auch wesentliche Note. Nichts wallt das identitäre Blut besser auf als eine anständige "ethnische Säuberung". Aber das lockende Irrationale, die Rückkehr der gewaltbereiten Götter ist weit gesteckt und bereit, jedem das Seine zu bieten. In diesem weiten Bereich kocht - im fröhlichen Ami- TV- Christentum, bei Ku- Klux- Klan- Freunden des amerikanischen Präsidenten, bei IS- Kämpfern und islamistischen Selbstmord- Attentätern, identitären Glatzen, Chemnitzer Menschenjägern, Ole- Nydahl- Buddhisten und Judith- von- Halle- Anhängern unter den Anthroposophen, der Urschleim im Individuum hoch, der stets ansteckende, kollektivistische Wirkungen hat. Und die hier gemeinte Infantilität ist nicht nur die mitgeschleppte Ur- Suppe, das, was Rudolf Steiner in Bezug auf den Melancholiker so charakterisierte, dass dieser „stets ein von ihm in der Zeit Erlebtes, ein Vergangenes in sich mitträgt“-, dass er ständig in sich „nachschwingen hat“ das, „was er miterlebt hat in vergangenen Zeiten“ (5). Zwar sind wir in dieser Hinsicht alle gefährdete Melancholiker. Aber die tatsächliche Aufstachelung zum fundamentalistischen Ausbruch, zur explosiven wütenden Ekstase, benötigt noch das Rückschlag- Potential eines technologischen Umschwungs, eines Paradigmenwechsels, einer kulturellen Revolution.
Regis Debray sieht in der Gegenwart diesbezüglich zweierlei, was alle „institutionellen Sicherungen durchbrennen“ (4) lässt- zunächst die Möglichkeit der „Vernetzung der wirklichkeitsfremden Schwärmer“, dann eine allzu schlichte, wortwörtliche Interpretation von sakralen Texten wie Koran und Bibel ohne intellektuellen „Zugang zur zweiten, symbolischen Textebene“ (6). Auch die Offenbarung des Johannes lässt sich dann - wortwörtlich aufgefasst- als apokalyptische Handlungsanweisung lesen. Nicht umsonst hat die katholische Kirche lange genug auf das Monopol für die biblische Auslegung gepocht, sie sogar sprachlich in die lateinische Diaspora verbannt, wo die heiligen Texte dem Pöbel verborgen blieben, und die ihr nicht genehmen Interpreten verbrannt wurden. Tatsächlich hat die technische Innovation der revolutionären Protestanten durch den Buchdruck und die Übersetzung der sakralen Texte zu einer kollektiven Do- it- yourself- Interpretation geführt - und somit, im Rahmen der ersten Alphabetisierungs- Wellen in Europa, auch zu fundamentalistischen, wortwörtlichen Auslegungen jeder Art. Jeder verbreitete in seiner post- mittelalterlichen Peergroup die ihm eigene, genehme visionäre Sicht der Dinge und sorgte so zugleich für die verheerenden Religionskriege des 16. Jahrhunderts, die einen Großteil der Bevölkerung betrafen- den Rest erledigte die Pest. (7)
Natürlich haben Alphabetisierung, Buchdruck, und vielseitige Interpretation von sakralen Texten in der westlichen Zivilisation letztlich über Jahrhunderte lang andauernde Auseinandersetzungen zur Aufklärung und zur gesellschaftlichen Komplexität, zur Demokratie und zur Wertschätzung der kulturellen Vielfalt geführt. Aber eben nicht ohne Rückfälle in kollektive Barbarei und hysterische Heilsbewegungen mit kriegerischen Exzessen. Auch die Nationalsozialisten setzten auf die Produktion von „Volksempfängern“ als technologische Wunderwaffe: „Deshalb lag es nahe, dass Goebbels unmittelbar nach dem ersten Schritt, der Gleichschaltung der ohnehin staatlichen zehn deutschen Sendeanstalten, einen einfachen und damit preisgünstigen Empfänger in Auftrag gab. Schon seine Typbezeichnung „VE-301“ zeigte die propagandistische Stoßrichtung: „VE“ stand für „Volksempfänger“ und „301“ für den 30. Januar 1933, den Tag der Machtübernahme der Nazis.“ (8)
Daher ist es wenig überraschend, dass auch das Internet als globales Mittel zur Informationsgewinnung heute in sein Gegenbild verkehrt wird. Das Delirium der Desinformation wird gerade in den sozialen Netzwerken zelebriert, wie auch der Apple- Chef Tim Cook öffentlich anprangert: „Cook zeigt sich nicht nur um die Meinungsfreiheit besorgt. Wenn Daten missbraucht würden, sieht der Apple-Chef gar das friedliche Zusammenleben gefährdet. Länder wie die Vereinigten Staaten oder Deutschland seien zwar so stark, dass ihnen niemand von außen existenziellen Schaden zufügen könne. „Was mir Sorgen bereitet, ist, dass es mit einer Schatztruhe voller Daten möglich ist, die Menschen auf eine Art und Weise zu manipulieren, dass sie irgendwann aufeinander losgehen“, sagte der Nachfolger des legendären Apple-Chefs Steve Jobs.“ (9) Radikale politische Interessengruppen und Sektierer untergraben liberale und demokratische Entwicklungen, anti- liberale Feindbilder werden auf nationalistischen Wellen getragen, als ginge es zum Kreuzzug. Das quasi- religiöse Erregungspotential wird von Populisten bedient. Wieder wird ein Medium, das eigentlich der Informationsgewinnung, Emanzipation und globalen Integration dienen könnte- ebenso wie Buchdruck und Radio-, in den Kurzschluss, die Ideologisierung, eigentlich in das eigene Schattenbild gezerrt.
Manche Dinge ändern sich eben wenig. Andere doch, in kürzester Zeit. Die kulturell- technologisch- medialen Sprünge läuten stets ein anderes Zeitalter ein. Das sieht man, wenn man den gegenwärtigen medialen Wandel mitsamt seinen destruktiven Aspekten betrachtet, auch an Kommunikation- Analytikern wie Vilem Flusser, der vor 20 Jahren (1998 herausgegeben) in seiner „Kommunikologie“ (10), einer Theorie menschlicher Kommunikation „von der Höhlenmalerei bis zur Kommunikation in Computernetzen“ (10) deutlich unterschied zwischen „linearen Texten“, die immer noch gelesen und aktiv entschlüsselt werden müssen einerseits und programmierten, „massifizierten“ Codes der Massenkultur auf der anderen Seite, die als „Technobilder“ (11) wirksam sind, ohne dass der Konsument sich wehren könnte. Werbung und Propaganda gestalten und formen den Menschen der Massenkultur. Bücher und Zeitschriften dagegen kultivieren den denkenden, reflektierenden Menschen, der den Texten sowohl als auch sich selbst gegenüber innerlich einen Schritt zurück tritt: „Der Leser von linearen Texten steht den Texten gegenüber: er transzendiert sie. Das ist, was mit „Denken“ gemeint ist: ein Zurücktreten und dann ein Sich- beugen über das Zubedenkende. Das heisst, wer liest, steht außerhalb des Gelesenen und sieht sich gewissermaßen zu, während er liest. Aber eine solche Reflexion ist Technobildern gegenüber unmöglich“ (12). Die manipulativen „Technobilder“ Flusses dagegen „umgeben den Empfänger, er ist in sie getaucht, „befindet sich mitten unter ihnen““ (12). Der Mensch der Massenkulturen wird „Spiegel von Spiegeln - Spiegel einer Welt, die durch Technobilder kodifiziert wird“ (12).
Diese Überlegungen Flusses sind, eine Generation und eine mediale Revolution später, offensichtlich obsolet geworden. Die sozialen Netzwerke haben genau diese Unterscheidung zwischen reflektiertem und nur bespiegeltem medialem Konsum aufgehoben; der Leser, der auf seinem Smartphone agitierende Botschaften eines Twitter- Agitators, einer Facebook- Gruppe, einer Peergroup auf WhatsApp empfängt, reflektiert beim Lesen nicht mehr. Die medialen, vernetzten Echo- Kammern bedienen genau den Spiegel- im- Spiegel- Effekt, die Flusser vor rund 30 Jahren noch exklusiv den Botschaften der Technobilder- Welt entsteigen sah. Heute produziert der Leser innerhalb der medialen Spiegelwelten selbst Nachrichten und emotionale Botschaften- er verlängert den Spiegeleffekt damit ins Unendliche. Zur selben Zeit wie Flusser hat auch Joseph Beuys sein (sich auf Novalis beziehendes) Credo - Jeder Mensch ist ein Künstler - als „Bewusstsein für die eigene schöpferische Kraft, welche im eigenen Denken begründet liegt“ (13) formuliert. Dieser Autonomie und Souveränität des Denkens ist durch die sozialen Medien ein so mächtiger Gegner entstanden, weil aus dem „Jeder Mensch ein Künstler“ ein „Jeder Mensch ein Propagandist“ geworden ist- die medialen Spiegelwelten rühren den archaischen Urschleim auf- sie befördern keinesfalls das von Flusser noch so explizit hoch gehaltene reflektierte individuelle Denken, das in seine Reflexion auch sich selbst einbezieht. Die sozialen Netzwerke wie Twitter, Facebook, WhatsApp und Instagram werden so zum diametralen Gegenbild zu dem, was Joseph Beuys unter „sozialer Plastik“ begriff: „Eine Soziale Plastik ist jederzeit formbar, sie erstarrt nur, wenn das Denken aufhört – wenn man gedanklich leblos wird. Beuys fordert die Kreativität und aktive Teilnahme aller Menschen, um die soziale Gemeinschaft zu transformieren und zu verbessern.“ (13)
Die „Teilnahme aller Menschen“ haben wir eine Generation später erreicht, aber sie hat die „soziale Gemeinschaft“ technologisch völlig korrumpiert, da die reflektierte Kreativität durch Gerüchte, Lügen, politische Agitatoren und propagandistische Aktionen in einem globalen Maßstab durchsetzt worden ist. Nichts bildet das Versagen sozialer Medien wie Facebook besser ab als die Geschichte ihrer Instrumentalisierung durch das buddhistische Regime in Myanmar, das damit die ethnische Vertreibung und Ermordung der Rohingya organisierte- und sowohl das Medium wie seine buddhistische Bevölkerung instrumentalisierte: „The report highlights yet another case of Facebook struggling to manage the rapid spread of hate and misinformation across one of its platforms — and the impact of those failings on society.
The United Nations has called for Myanmar's military leaders to be investigated and prosecuted for genocide, crimes against humanity and war crimes following a campaign of persecution and killing of Rohingya. The violence forced more than 700,000 people to flee their homes in northwestern Myanmar to settle in refugee camps in neighboring Bangladesh.“ (14) Aber seien wir doch ehrlich. Das geheuchelte Bedauern der Facebook- Verantwortlichen ist doch lachhaft. Nichts befeuert ihr Geschäft besser als massenhafte Hetze und erregtes Hass- Speech. Hass befördert die Klick- Zahlen wie nichts anderes. Auf diesen Erregungswellen, die Myanmar vergiftet haben, gelangen Politiker heute an die Macht, werden Regime gestürzt und wird Geheimdienst- Arbeit geleistet.
Freilich, das reflektierte Denken Vilem Flussers ist dabei ebenso wie die soziale Plastik von Joseph Beuys zu Schaden gekommen; die „entfesselte kulturelle Balkanisierung“ (Regis Debray) schreitet voran.
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Verweise
1 Regis Debray Der tote Winkel. Der Terrorismus des Himmels und der Platz des Todes in unserem Leben S. 07 in (2)
2 Lettre International 123 Winter 2018
3 Regis Debray S 8
4 Regis Debray S 9
5 Rudolf Steiner, Welche Bedeutung hat die okkulte Entwicklung des Menschen für seine Hüllen und sein Selbst? Dornach 1976, S. 73
6 Regis Debray, S. 10
7 Auch dies vermutlich eine Folge des damals bereits globalen Handels - mit Pelzen, in denen die Ansteckung transferiert werden konnte: „Auf einem genuesischen Schiff kam der Schwarze Tod 1347 nach Europa. Eine neue Genom-Studie liefert eine Antwort darauf, was die Seuche aus Asien nach Europa trieb: der lukrative Handel mit Pelzen.“ https://www.welt.de/geschichte/article184760046/Seuchen-Mit-diesem-Luxusgut-kam-die-Pest-nach-Europa.html
8 DIE WELT: Goebbels’ beste Idee war der Volksempfänger https://www.welt.de/geschichte/article119046691/Goebbels-beste-Idee-war-der-Volksempfaenger.html
9 Tom Cook warnt vor dem Manipulieren von Daten: https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/diginomics/apple-chef-tim-cook-warnt-vor-datenmissbrauch-15942008.html
10 Vilem Flusser, Kommunikologie, 2007/4 Flusser ist aber schon 1991 gestorben
11 Flusser, S. 66 ff
12 Flusser, S. 68
13 https://modernperformanceart.wordpress.com/joseph-beuys-jeder-mensch-ist-ein-kuenstler/
14 https://edition.cnn.com/2018/11/06/tech/facebook-myanmar-report/index.html
Manche Innovationen führen zu Rückschlägen, zum Gegenbild dessen, was in der neuen Technik, Ausdrucksweise, Kultur oder in einem gesellschaftlichen Perspektivenwechsel angelegt zu sein scheint. So hat - nach Regis Debrays Betrachtungen (1) zum „Terrorismus des Himmels und der Platz des Todes in unserem Leben“ in Lettre International (2), der auf zartfühlende, sich auf Gott beziehende Terroristen ebenso eingeht wie auf das bizarre Testament des 9/11 Bombers Mohammed Atta, der seine Angehörigen aufrief, sich „nicht vom Leben ablenken zu lassen“ (1), aber auch von den Besuchern seines zukünftigen Grabmals (die ohnehin weder schwanger noch unrein zu sein hatten) verlangte, sich beim vorherigen Waschen ihrer Genitalien mit Handschuhen zu reinigen. So rein, so ideal, so himmlisch fühlte sich dieser Massenmörder bei seiner Tat, dass selbst die Besucher seines Grabes ganz und gar saubere Hände haben sollten. Noch immer gilt beim Mord dieses abgründige "Ich wasche meine Hände in Unschuld".
Aber unser Thema ist nicht die Unschuld, sondern der techno- kulturelle Wandel- es geht darum, dass wir Europäer nach der französischen Revolution in eine rationale Transzendierung des ewigen göttlichen Willens in den Kanon von Krankenkassen- Leistungen übergegangen sind- das Irrationale war zu sehr verbunden mit Rückfällen in die blanke Barbarei- für uns hat sich „die historische Zeit (..) von der kosmologischen Zeit abgekoppelt.“
Dachten wir zumindest. Aber Gott ließ sich nicht sozialisieren. Die „Kraft der Mythen“ (3) kehrte auf vielen Ebenen mit Macht zurück. Nicht zuletzt deshalb, weil der Mensch dazu neigt, zum Absoluten und Nicht- Verhandelbaren zurück zu kehren, wenn die faktischen Probleme nicht zu lösen sind. Die Utopie des Nicht- Faktischen, die „barbarischen Restblasen“ der Fundamentalisten stellen zwar eine „entfesselte kulturelle Balkanisierung“ (4) dar, aber diese identitären Aufwallungen haben eine archaische, kollektive Note, die zu dem Resistentesten in der menschlichen Existenz gehört. Davon sind der blanke Nationalismus und Rassismus nur eine, wenn auch wesentliche Note. Nichts wallt das identitäre Blut besser auf als eine anständige "ethnische Säuberung". Aber das lockende Irrationale, die Rückkehr der gewaltbereiten Götter ist weit gesteckt und bereit, jedem das Seine zu bieten. In diesem weiten Bereich kocht - im fröhlichen Ami- TV- Christentum, bei Ku- Klux- Klan- Freunden des amerikanischen Präsidenten, bei IS- Kämpfern und islamistischen Selbstmord- Attentätern, identitären Glatzen, Chemnitzer Menschenjägern, Ole- Nydahl- Buddhisten und Judith- von- Halle- Anhängern unter den Anthroposophen, der Urschleim im Individuum hoch, der stets ansteckende, kollektivistische Wirkungen hat. Und die hier gemeinte Infantilität ist nicht nur die mitgeschleppte Ur- Suppe, das, was Rudolf Steiner in Bezug auf den Melancholiker so charakterisierte, dass dieser „stets ein von ihm in der Zeit Erlebtes, ein Vergangenes in sich mitträgt“-, dass er ständig in sich „nachschwingen hat“ das, „was er miterlebt hat in vergangenen Zeiten“ (5). Zwar sind wir in dieser Hinsicht alle gefährdete Melancholiker. Aber die tatsächliche Aufstachelung zum fundamentalistischen Ausbruch, zur explosiven wütenden Ekstase, benötigt noch das Rückschlag- Potential eines technologischen Umschwungs, eines Paradigmenwechsels, einer kulturellen Revolution.
Regis Debray sieht in der Gegenwart diesbezüglich zweierlei, was alle „institutionellen Sicherungen durchbrennen“ (4) lässt- zunächst die Möglichkeit der „Vernetzung der wirklichkeitsfremden Schwärmer“, dann eine allzu schlichte, wortwörtliche Interpretation von sakralen Texten wie Koran und Bibel ohne intellektuellen „Zugang zur zweiten, symbolischen Textebene“ (6). Auch die Offenbarung des Johannes lässt sich dann - wortwörtlich aufgefasst- als apokalyptische Handlungsanweisung lesen. Nicht umsonst hat die katholische Kirche lange genug auf das Monopol für die biblische Auslegung gepocht, sie sogar sprachlich in die lateinische Diaspora verbannt, wo die heiligen Texte dem Pöbel verborgen blieben, und die ihr nicht genehmen Interpreten verbrannt wurden. Tatsächlich hat die technische Innovation der revolutionären Protestanten durch den Buchdruck und die Übersetzung der sakralen Texte zu einer kollektiven Do- it- yourself- Interpretation geführt - und somit, im Rahmen der ersten Alphabetisierungs- Wellen in Europa, auch zu fundamentalistischen, wortwörtlichen Auslegungen jeder Art. Jeder verbreitete in seiner post- mittelalterlichen Peergroup die ihm eigene, genehme visionäre Sicht der Dinge und sorgte so zugleich für die verheerenden Religionskriege des 16. Jahrhunderts, die einen Großteil der Bevölkerung betrafen- den Rest erledigte die Pest. (7)
Natürlich haben Alphabetisierung, Buchdruck, und vielseitige Interpretation von sakralen Texten in der westlichen Zivilisation letztlich über Jahrhunderte lang andauernde Auseinandersetzungen zur Aufklärung und zur gesellschaftlichen Komplexität, zur Demokratie und zur Wertschätzung der kulturellen Vielfalt geführt. Aber eben nicht ohne Rückfälle in kollektive Barbarei und hysterische Heilsbewegungen mit kriegerischen Exzessen. Auch die Nationalsozialisten setzten auf die Produktion von „Volksempfängern“ als technologische Wunderwaffe: „Deshalb lag es nahe, dass Goebbels unmittelbar nach dem ersten Schritt, der Gleichschaltung der ohnehin staatlichen zehn deutschen Sendeanstalten, einen einfachen und damit preisgünstigen Empfänger in Auftrag gab. Schon seine Typbezeichnung „VE-301“ zeigte die propagandistische Stoßrichtung: „VE“ stand für „Volksempfänger“ und „301“ für den 30. Januar 1933, den Tag der Machtübernahme der Nazis.“ (8)
Daher ist es wenig überraschend, dass auch das Internet als globales Mittel zur Informationsgewinnung heute in sein Gegenbild verkehrt wird. Das Delirium der Desinformation wird gerade in den sozialen Netzwerken zelebriert, wie auch der Apple- Chef Tim Cook öffentlich anprangert: „Cook zeigt sich nicht nur um die Meinungsfreiheit besorgt. Wenn Daten missbraucht würden, sieht der Apple-Chef gar das friedliche Zusammenleben gefährdet. Länder wie die Vereinigten Staaten oder Deutschland seien zwar so stark, dass ihnen niemand von außen existenziellen Schaden zufügen könne. „Was mir Sorgen bereitet, ist, dass es mit einer Schatztruhe voller Daten möglich ist, die Menschen auf eine Art und Weise zu manipulieren, dass sie irgendwann aufeinander losgehen“, sagte der Nachfolger des legendären Apple-Chefs Steve Jobs.“ (9) Radikale politische Interessengruppen und Sektierer untergraben liberale und demokratische Entwicklungen, anti- liberale Feindbilder werden auf nationalistischen Wellen getragen, als ginge es zum Kreuzzug. Das quasi- religiöse Erregungspotential wird von Populisten bedient. Wieder wird ein Medium, das eigentlich der Informationsgewinnung, Emanzipation und globalen Integration dienen könnte- ebenso wie Buchdruck und Radio-, in den Kurzschluss, die Ideologisierung, eigentlich in das eigene Schattenbild gezerrt.
Manche Dinge ändern sich eben wenig. Andere doch, in kürzester Zeit. Die kulturell- technologisch- medialen Sprünge läuten stets ein anderes Zeitalter ein. Das sieht man, wenn man den gegenwärtigen medialen Wandel mitsamt seinen destruktiven Aspekten betrachtet, auch an Kommunikation- Analytikern wie Vilem Flusser, der vor 20 Jahren (1998 herausgegeben) in seiner „Kommunikologie“ (10), einer Theorie menschlicher Kommunikation „von der Höhlenmalerei bis zur Kommunikation in Computernetzen“ (10) deutlich unterschied zwischen „linearen Texten“, die immer noch gelesen und aktiv entschlüsselt werden müssen einerseits und programmierten, „massifizierten“ Codes der Massenkultur auf der anderen Seite, die als „Technobilder“ (11) wirksam sind, ohne dass der Konsument sich wehren könnte. Werbung und Propaganda gestalten und formen den Menschen der Massenkultur. Bücher und Zeitschriften dagegen kultivieren den denkenden, reflektierenden Menschen, der den Texten sowohl als auch sich selbst gegenüber innerlich einen Schritt zurück tritt: „Der Leser von linearen Texten steht den Texten gegenüber: er transzendiert sie. Das ist, was mit „Denken“ gemeint ist: ein Zurücktreten und dann ein Sich- beugen über das Zubedenkende. Das heisst, wer liest, steht außerhalb des Gelesenen und sieht sich gewissermaßen zu, während er liest. Aber eine solche Reflexion ist Technobildern gegenüber unmöglich“ (12). Die manipulativen „Technobilder“ Flusses dagegen „umgeben den Empfänger, er ist in sie getaucht, „befindet sich mitten unter ihnen““ (12). Der Mensch der Massenkulturen wird „Spiegel von Spiegeln - Spiegel einer Welt, die durch Technobilder kodifiziert wird“ (12).
Diese Überlegungen Flusses sind, eine Generation und eine mediale Revolution später, offensichtlich obsolet geworden. Die sozialen Netzwerke haben genau diese Unterscheidung zwischen reflektiertem und nur bespiegeltem medialem Konsum aufgehoben; der Leser, der auf seinem Smartphone agitierende Botschaften eines Twitter- Agitators, einer Facebook- Gruppe, einer Peergroup auf WhatsApp empfängt, reflektiert beim Lesen nicht mehr. Die medialen, vernetzten Echo- Kammern bedienen genau den Spiegel- im- Spiegel- Effekt, die Flusser vor rund 30 Jahren noch exklusiv den Botschaften der Technobilder- Welt entsteigen sah. Heute produziert der Leser innerhalb der medialen Spiegelwelten selbst Nachrichten und emotionale Botschaften- er verlängert den Spiegeleffekt damit ins Unendliche. Zur selben Zeit wie Flusser hat auch Joseph Beuys sein (sich auf Novalis beziehendes) Credo - Jeder Mensch ist ein Künstler - als „Bewusstsein für die eigene schöpferische Kraft, welche im eigenen Denken begründet liegt“ (13) formuliert. Dieser Autonomie und Souveränität des Denkens ist durch die sozialen Medien ein so mächtiger Gegner entstanden, weil aus dem „Jeder Mensch ein Künstler“ ein „Jeder Mensch ein Propagandist“ geworden ist- die medialen Spiegelwelten rühren den archaischen Urschleim auf- sie befördern keinesfalls das von Flusser noch so explizit hoch gehaltene reflektierte individuelle Denken, das in seine Reflexion auch sich selbst einbezieht. Die sozialen Netzwerke wie Twitter, Facebook, WhatsApp und Instagram werden so zum diametralen Gegenbild zu dem, was Joseph Beuys unter „sozialer Plastik“ begriff: „Eine Soziale Plastik ist jederzeit formbar, sie erstarrt nur, wenn das Denken aufhört – wenn man gedanklich leblos wird. Beuys fordert die Kreativität und aktive Teilnahme aller Menschen, um die soziale Gemeinschaft zu transformieren und zu verbessern.“ (13)
Die „Teilnahme aller Menschen“ haben wir eine Generation später erreicht, aber sie hat die „soziale Gemeinschaft“ technologisch völlig korrumpiert, da die reflektierte Kreativität durch Gerüchte, Lügen, politische Agitatoren und propagandistische Aktionen in einem globalen Maßstab durchsetzt worden ist. Nichts bildet das Versagen sozialer Medien wie Facebook besser ab als die Geschichte ihrer Instrumentalisierung durch das buddhistische Regime in Myanmar, das damit die ethnische Vertreibung und Ermordung der Rohingya organisierte- und sowohl das Medium wie seine buddhistische Bevölkerung instrumentalisierte: „The report highlights yet another case of Facebook struggling to manage the rapid spread of hate and misinformation across one of its platforms — and the impact of those failings on society.
The United Nations has called for Myanmar's military leaders to be investigated and prosecuted for genocide, crimes against humanity and war crimes following a campaign of persecution and killing of Rohingya. The violence forced more than 700,000 people to flee their homes in northwestern Myanmar to settle in refugee camps in neighboring Bangladesh.“ (14) Aber seien wir doch ehrlich. Das geheuchelte Bedauern der Facebook- Verantwortlichen ist doch lachhaft. Nichts befeuert ihr Geschäft besser als massenhafte Hetze und erregtes Hass- Speech. Hass befördert die Klick- Zahlen wie nichts anderes. Auf diesen Erregungswellen, die Myanmar vergiftet haben, gelangen Politiker heute an die Macht, werden Regime gestürzt und wird Geheimdienst- Arbeit geleistet.
Freilich, das reflektierte Denken Vilem Flussers ist dabei ebenso wie die soziale Plastik von Joseph Beuys zu Schaden gekommen; die „entfesselte kulturelle Balkanisierung“ (Regis Debray) schreitet voran.
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Verweise
1 Regis Debray Der tote Winkel. Der Terrorismus des Himmels und der Platz des Todes in unserem Leben S. 07 in (2)
2 Lettre International 123 Winter 2018
3 Regis Debray S 8
4 Regis Debray S 9
5 Rudolf Steiner, Welche Bedeutung hat die okkulte Entwicklung des Menschen für seine Hüllen und sein Selbst? Dornach 1976, S. 73
6 Regis Debray, S. 10
7 Auch dies vermutlich eine Folge des damals bereits globalen Handels - mit Pelzen, in denen die Ansteckung transferiert werden konnte: „Auf einem genuesischen Schiff kam der Schwarze Tod 1347 nach Europa. Eine neue Genom-Studie liefert eine Antwort darauf, was die Seuche aus Asien nach Europa trieb: der lukrative Handel mit Pelzen.“ https://www.welt.de/geschichte/article184760046/Seuchen-Mit-diesem-Luxusgut-kam-die-Pest-nach-Europa.html
8 DIE WELT: Goebbels’ beste Idee war der Volksempfänger https://www.welt.de/geschichte/article119046691/Goebbels-beste-Idee-war-der-Volksempfaenger.html
9 Tom Cook warnt vor dem Manipulieren von Daten: https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/diginomics/apple-chef-tim-cook-warnt-vor-datenmissbrauch-15942008.html
10 Vilem Flusser, Kommunikologie, 2007/4 Flusser ist aber schon 1991 gestorben
11 Flusser, S. 66 ff
12 Flusser, S. 68
13 https://modernperformanceart.wordpress.com/joseph-beuys-jeder-mensch-ist-ein-kuenstler/
14 https://edition.cnn.com/2018/11/06/tech/facebook-myanmar-report/index.html