Korruption der Macht

Ich weiß jetzt nicht, ob Sie, verehrte Leser, die Geduld haben, ganze Rudolf- Steiner- Passagen zu lesen, vor allem, wenn man nicht weiß, was man damit vielleicht anstellen, in wie weit sie einen belehren oder inwieweit man sie als Argument für irgend etwas einsetzen könnte. Daher hänge ich das Zitat (1) an den Text an und berichte Ihnen darüber wie ein Sportreporter vom Spiel. 

Die Anthroposophen, die mir in den letzten Wochen so über den Weg liefen, waren meist ganz versessen darauf, den Einfluss einer gewissen 16jährigen Klimaaktivistin zu relativieren und sich über statistische Hockeysticks zu verständigen, die gar nicht so schlimm sind, wie sie aussehen, weil die Erde ständig Stick und Peaks produziere, wie zum Beispiel eine Wärmeperiode im Mittelalter und so weiter. Gegen das Berechnen und die „Tendenz zum Erstarren, zum Totwerden“ (1) wendet sich ja auch Rudolf Steiner- hier aber nicht in Bezug auf das Klima, sondern in Bezug auf die Bewegungen des planetarischen Systems schlechthin. 

Er ist der Meinung, dass es immer mehr in den Systemen gibt als „leicht durchschaubare Formeln“ erfassen könnten, geschweige denn „leicht durchschaubare(s) Figurale(s)“ (1). Und natürlich hat er recht. Zu Steiners Zeit hat Einstein die Schwerkraft mit absolut esoterischen und keinesfalls leicht durchschaubaren Formeln schon als Krümmungen des Raum- Zeit- Kontinuums zu beschreiben versucht, und heute entsteht eine Konstruktion nach der anderen, um eigentlich physikalisch unmögliche Phänomene mittels Hilfskonstruktionen wie dunkler Materie doch noch erklärbar zu machen. Die neuen Teleskope und Beobachtungsmethoden erschließen eine Individualisierung des Erscheinungsbilds ganzer Galaxien, dass man von Systemen kaum mehr sprechen mag, schon wegen der für den menschlichen Geist kaum zu erfassenden Fülle und Vielfalt. Die von Rudolf Steiner als notwendig erachteten „Annäherungslinien“ (1) für Bewegungen im ganzen Kosmos ergeben sich, wie wir heute wissen, schon wegen der Einflüsse durch irreguläre Ausdehnung des gesamten Kosmos, durch systemische Ungleichgewichte in der Rotation ganzer Galaxien, durch Rotation des Sonnensystems im Verhältnis zur Achse der Milchstraße, durch Schwankungen im Verhalten des schwarzen Lochs im Zentrum der Galaxie, Sagittarius A* (4) im Sternbild des Schützen. Womöglich gibt es bereits Einflüsse durch die anstehende Verschmelzung unseres Systems mit Andromeda- soll man von Verschmelzung oder von einem Tanz sprechen? Die kosmologischen Bilder (2) legen letzteres nahe. 

Immerhin wissen wir, dass alle die wunderbaren Galaxien von einem extrem masse- reichen Nichts, einem Schwarzen Loch, zusammen gehalten werden (3). Die pure Gravitation, die selbst das Licht verschlingt und gerade deshalb die Macht generiert, ein Gleichgewicht entstehen zu lassen für die im Umkreis aufblühende Spiral- Galaxie, hat eine gewisse Poesie. Das Licht verschlingende Monstrum, das sich der Erkenntnis, was sich darin abspielt, schon deshalb entzieht, weil es kein Darin gibt, ist aber auch gerade deshalb ein Symbol für die Macht schlechthin. Oder auch für die Frage, wie derartig scheinbar ungeeignete Figuren in menschlichen (nicht kosmischen) Gesellschaften zu einer derartigen Fülle von Macht gelangen können. 

Wen sollte man für die Beantwortung einer solchen Frage besseres finden als den Altmeister des Polit- Dramas und seiner destruktiven Tyrannen, William Shakespeare? Bevor wir uns dem Buch von Stephen Greenblatt über ihn widmen - „Tyrant: Shakespeare on Politics“ (5)-, das Angela Merkel in ihrem Urlaub als Lektüre gelesen haben soll, noch ein Blick auf Robert Menasses aktuellen Schlüsselroman „The Capital“(6), das in Deutsch bereits 2017 erschienen ist, und ein Beben zwischen Buchpreisen und Unwohlsein ausgelöst hat (7). 

Denn Menasse blättert ein aktuelles Sittenbild von Brüssel, dem EU- Moloch, und seinen verwirrten Politikern und Bürgern auf, das komisch, zynisch und bitter selbstzerstörerisch erscheint- ein Koloss der Machtlosigkeit durch Selbstdemontage. Der Präsident - offensichtlich ein Bild Jean-Claude Junckers (8), der der Europäischen Kommission vorsteht, ist in Menasses Darstellung ein Clown, der durch leicht bizarres Verhalten wie Küsschen, direkte „unpolitische“ Sprache, Umarmungen und körperliches Schwanken eine Willkür vorspielt, die nur tatsächlich mächtigen Personen gestattet zu sein scheint- tatsächlich ist er der Vorsteher eines Apparates, in dem jede Initiative, selbst die wohlwollendste, versickert, und so letztlich lediglich der Apparat in seinen komplizierten Proporz- Prozessen zwischen Hierarchien, EU- Staaten, Rivalitäten der internen Institutionen, Blöcken innerhalb der EU und endlosen persönlichen Eifersüchteleien und Eitelkeiten bestimmt, was sich politisch durchsetzt- so Menasses „politisches Manifest“ (9) Roland Freudenstein umfasst dieses Manifest inhaltlich so: „Die Handlung verfolgt ein Set Brüsseler Figuren: Einen belgischen Holocaust-Überlebenden im Seniorenheim, einen Professor und einen Schweinezüchter aus Wien, einen belgischen Polizeikommissar, einen katholischen Killer aus Polen und jede Menge EU-Beamte. Die EU-Beamten treibt die Frage um, wie die Europäische Kommission in Brüssel am sinnvollsten den sechzigsten Jahrestag ihrer Gründung feiern sollte. Die sympathischeren Protagonisten wollten eine Feier in Auschwitz organisieren. Diese Idee wird von den Spielverderbern – also den Bremsern in Brüssel und den Mitgliedstaaten – kunstvoll torpediert. Eingebettet ist die politische Handlung in einen Krimiplot. Am Anfang steht ein Mord, am Ende ein Terroranschlag, in der Mitte eine den Kontinent umspannende Verschwörung.“ (9)

Ich finde nicht, dass Menasse mit diesem Schlüsselroman ein „links-westeuropäisches“ Manifest gegen den Nationalismus verfasst hat- für mich ist es die Schilderung eines im Prozess der Überwindung des Nationalismus feststeckenden Apparats, der Absurditäten en masse produziert, unfreiwillig komisch wirkt und häufig absurde politische Entscheidungen so absondert, als seien sie durch mehrere Erdschichten hindurch gesickert, aber letztlich doch so weit weg vom Holocaust ist wie nur irgendwie möglich. Das strukturelle Problem Menasses dabei ist es, dass er diese politische Landschaft mit absurden Personen und Handlungssträngen anreichert, die irgendwo beginnen und irgendwo enden, aber allesamt über den Charakter von Karikaturen oder Comic- Figuren nicht hinaus kommen: der frömmelnde Killer, der fette belgische Kommissar, der nicht nur in seinen Fritten fest sitzt, die ehrgeizige zypriotische Polit- Assistentin, der trickreiche, intrigante Vorzimmer- Zuarbeiter des Präsidenten. In jedem Fall ist die Macht in diesem Roman zu einem komplexen Prozess der Entscheidungsfindung bzw. zur Verhinderung geworden, in einem politischen Apparat, der sich vor allem leidenschaftlich selbst blockiert und permanent gefährdet ist von nationalen Interessen, aber auch von Lobbyisten wie - hier exemplarisch als der Verband der Schweine- Massen- Züchter und -Schlachter auftretend. Dieser Apparat verleiht Macht an Repräsentanten wie den Präsidenten, der die Ergebnisse des politischen Sickerprozesses verkünden, aber auch ein wenig Macht demonstrieren darf. 

Ganz anders die Figuren Shakespeares, die Greenblatt vorstellt, und die keinesfalls Macht nur repräsentieren, sondern sie wirklich als Tyrannen und Potentaten ergriffen haben. Shakespeare hat die Ingredienzien der Macht seiner Zeit sehr genau gekannt, studiert und auf die Bühne gebracht: „From the early 1590s, at the beginning of his career, all the way through to its end, Shakespeare grappled again and again with a deeply unsettling question: how is it possible for a whole country to fall into the hands of a tyrant?“ (10) Shakespeare hat im Laufe seiner Karriere, wie das Buch darstellt, alle denkbaren Modelle von Macht- Missbrauch buchstäblich durchgespielt- nur nicht die seiner eigenen Herrscherin, Elizabeth I, da dies selbstmörderisch gewesen wäre. Die Kritik an zeitgenössischen totalitären Herrschern erfolgte, falls man nicht als Autor früh sterben wollte, verschleiert durch einen Code- und dieser erforderte, dass die handelnden Figuren mindestens seit 200 Jahren tot, meist aber lieber klassische Figuren der Weltgeschichte waren: „Hence the fascination he found in the legendary Roman leader Caius Martius Coriolanus or in the historical Julius Caesar; hence the appeal of such figures from the English and Scottish chronicles as York, Jack Cade, Lear, and, above all, the quintessential tyrants Richard III and Macbeth. And hence, too, the lure of entirely imaginary figures: the sadistic emperor Saturninus in Titus Andronicus; the corrupt deputy Angelo in Measure for Measure; the paranoid King Leontes in The Winter’s Tale.“ (11)

Greenblatt schildert in der Folge die politischen und gesellschaftlichen Umstände, in den Shakespeare lebte und wirkte. Dann geht er der „Codierung“ der korrupten Machtentfaltung der Figuren in Shakespeares Theaterstücken nach, den Facetten der Gewalt, die nach und nach wie in einer Versuchsanordnung aufgerollt werden. 
Ein mörderischer Tyrann wie Richard III (12) z.B. kann nur unter der Voraussetzung nach der Macht greifen, dass ihm diverse Interessengruppen in die Hände spielen- eine Konstellation, die sich Greenblatt wie folgt darstellt: 
Einerseits wären da die, die dem Tyrannen tatsächlich glauben, die Naiven, die ihre Naivität teuer bezahlen werden: „A few characters are genuinely fooled by Richard, crediting his claims, believing in his pledges, taking at face value his displays of emotion.“ (5)

Dann die, die vor der blanken Gewalt Richards erschrocken zurück schrecken: „There are also those who feel frightened or impotent in the face of bullying and the menace of violence.“ Vielleicht am erschreckendsten die, die sehr wohl wissen, was das Stündlein mit diesem Herrscher geschlagen hat, die es sich aber schön reden: „Then there are those who cannot keep in focus that Richard is as bad as he seems to be. They know that he is a pathological liar and they see perfectly well that he has done this or that ghastly thing, but they have a strange penchant for forgetting, as if it were hard work to remember just how awful he is. They are drawn irresistibly to normalize what is not normal.“ (5) Man kann es einfach nicht glauben, da der Schrecken die Vorstellungskraft übersteigt: „Richard is so obviously and grotesquely unqualified for the supreme position of power that they dismiss him from their minds.“ (5) 

Dann natürlich die Opportunisten, die Lauen, die den Diktator zu ihrem Vorteil nutzen wollen, aber meinen, ihn sehr wohl beherrschen zu können: „A more sinister group consists of those who persuade themselves that they can take advantage of Richard’s rise to power. Like almost everyone else, they see perfectly well how destructive he is, but they are confident that they will stay one step ahead of the tide of evil or manage to seize some profit from it.“ (5) Und endlich die, die den Aufruhr, das Sterben, das Zerstückeln und Zerstören genießen und daran teilhaben wollen, so viel und so weit es nur geht: „Finally, there a motley crowd of those who carry out his orders, some reluctantly but simply eager to avoid trouble; others with gusto, hoping to seize something along the way for themselves; still others enjoying the cruel game of making his targets, often high in the social hierarchy, suffer and die.“ (5)

Aber der brillante Herrscher- der, der wirklich mit den Instinkten spielen kann-, wird endlich alle, die ihn hervor gebracht haben, zerstören, nachdem sie ihm nicht mehr nützlich sind oder selbst zu viel Macht gewonnen haben. Er wird bis dahin aber souverän mit den mächtigen, untergründigen emotionalen Strömungen arbeiten, von denen sie bewegt und erschüttert werden, er wird sie benutzen und sich ihrer dann entledigen- das Spiel der Macht, so alt wie der Mensch. 

Aber natürlich haben auch die Tyrannen Launen- einige, wie die Ungeduld, wachsen sogar mit der Macht ins Unermessliche, da der imperiale Impetus die sofortige Erfüllung jedes Bedürfnisses des Herrschers erfordert: „Impatience is another of the qualities that, in Shakespeare’s view, inevitably marks the tyrant’s experience of power. He expects his wishes to be carried out almost before he has expressed them aloud. New developments keep arising, most of them alarming, and time is no longer a friend.“ (5) Nicht nur Fehler schleichen sich durch das überstürzte, fordernde Verhalten des Mächtigen ein, er hat seinen Zenit irgendwann generell überschritten und wird nun in den ihm eigenen Abgrund stürzen, wobei er so viele mitnehmen wird wie möglich. Es ist so eigenartig, dass der Aufstieg und der Sturz im Nachhinein so folgerichtig scheinen- als hätte keine Wahl bestanden. Und tatsächlich gab es etwas wie eine innere Leere dieses mächtigen Herrschers- so sehr er auf der Klaviatur der Instinkte, des Schreckens und der Gewalt spielen konnte, war er doch ein schwarzes Loch: „..a painful emptiness. It is as if we look inside the tyrant and find that there is virtually nothing there, merely a few shrunken traces of a self that had never been allowed to grow or to flourish.“ (5)

Und natürlich liegen dem Hunger nach Macht auch, wie der Rundgang durch Shakespeares Stücke zeigt, andere Schwäche zugrunde: „The tyrant, Macbeth and other plays suggest, is driven by a range of sexual anxieties: a compulsive need to prove his manhood, dread of impotence, a nagging apprehension that he will not be found sufficiently attractive or powerful, a fear of failure.“ Oder die Ursache liegt, wie so oft vor allem bei alten Männern, im Erleben der Impotenz, der nachlassenden Verankerung in ihrer Position, und einer schleichenden Demenz oder Depression, was in der Kombination zur berüchtigten Alters- Paranoia führt; mit einem Groll, der sich vor allem gegen das Junge, Weibliche und/oder Fremde richtet. Man könnte das den Lear- Komplex nennen, und es ist schwer heilbar. Wie z.Z. in Russland, wo die Jugend gegen die engstirnige, ideologisierte Kleptokratie ernsthaft auf die Strasse geht und Putin seine Killer von der ukrainischen Grenze zurück in die Hauptstadt beordert, richtet sich der Lear- Komplex auch gegen die Kinder und gegen die folgende Generation. Denn da kommen die möglichen Nachfolger her, die denkbar andere Prioritäten haben als Wirtschaft, Land, Bevölkerung und Wirtschaft auszuplündern und sich einen Wall gegen das Sterben zu errichten. Wir sehen das ja auch in Fragen der Umwelt- Politik: Die Lears dieser Welt produzieren höchstens Lippenbekenntnisse, mögen aber am Status Quo, der auch ihre Macht begründet, nicht ernsthaft etwas ändern. Und so opfern die mächtigen Alten- schon bei Shakespeare-  lieber die kommende Generation: „Tyranny attempts to poison not merely the present but generations to come, to extend itself forever. It is not the exigencies of plot alone that make Macbeth, like Richard, the killer of children. Tyrants are enemies of the future.“ (5)

Und natürlich schielt Greenblatt, der Moderator dieser Shakespeare-Exkursionen, auch auf die heutigen Mächtigen, allen voran Trump, wenn er im Resümee über die Korruption der Macht schreibt: „Even in systems that have multiple moderating institutions, the chief executive almost always has considerable power. But what happens when that executive is not mentally fit to hold office?“(5) Plötzlich geht es um die mentale “Fitness“ im Amt und an der Macht, und auch um die Impulsivität eines Narzissten: „It is extremely dangerous to have a state run by someone who governs by impulse… It is ugly, and it is about to get still uglier. But the stripping away of the retainers stems from the recognition that an impulsive narcissist, accustomed to ordering people about, should not have control even of a very small army.“ (5)

Der Narzisst ist aber gerade das Gesicht der Zeit, der pathologische und kontinuierliche Lügner und Populist, der scheinbar mit allem davon kommt und dessen - wenn man davon sprechen kann- moralische Kurzsichtigkeit kontinuierlich schwindet, je weiter der Machtbereich voran schreitet. Tapfer die wenigen Bürger, die den Mut haben, offen zu sprechen- schon bei Shakespeare werden sie hinweg gefegt. Letztlich höhlen sich die Figuren an der eigenen Korruption aus und gehen zugrunde- so Greenblatts Zusammenfassung: „There are periods, sometimes extended periods, during which the cruelest motives of the basest people seem to be triumphant. But Shakespeare believed that the tyrants and their minions would ultimately fail, brought down by their own viciousness and by a popular spirit of humanity that could be suppressed but never completely extinguished.“ (5)

Aber es kann dauern. Die Vernunft ist ein gefährdetes, von der Ausrottung bedrohtes Tier, zumindest in diesen gewissen Zeiten, wenn die Populisten und Tyrannen ihr Haupt erheben, und es bedarf Zeit und großer Opfer, um nach den folgenden destruktiven Eruptionen wieder ein Gleichgewicht herzustellen, denn das „Schwarze Loch“ der Macht, das  solche Tyrannen um sich herum etablieren, hat seine eigene Ordnung des Schreckens und seine eigenen Gesetze- vor allem das der kontinuierlichen Eskalation. Man kann solche destruktiven Machtstrukturen auch in Sekten beobachten. Aber das Beobachten hat kaum Kraft angesichts der Faktizität und Unmittelbarkeit tatsächlicher Machtentfaltung. Gerade in der unmittelbaren Handlungsfähigkeit nackter Macht liegt ja ein mitreissendes, faszinierendes Moment. Demgegenüber erscheinen die langwierigen Abstimmungsprozesse in einem Apparat wie Brüssel wenig anziehend. Man hat den Eindruck, dass man Milliarden hinein steckt, und unten kommen Verordnungen über Bananen und Klobürsten heraus. Was ist das schon im Vergleich mit den Versprechen eines Boris Johnson, die nationale Würde wieder herzustellen - als hätten die demokratischen Prozesse innerhalb der EU letztere jemals beschädigen können. Aber auch in Großbritannien kommt die kriegerische Rhetorik und impulsive, personalisierte Machtkonzentration Inn diesen Jahren an, immer mit den Untertönen nationaler Vergewisserung- und unter der Führung eines sprunghaften, skandalträchtigen Premiers, von dem man konstatieren kann: „Skandale jeglicher Art gleiten seit jeher von ihm ab, weil die Erklärung "So ist eben Boris" noch jedes Fehlverhalten in den Augen seiner Anhänger wegwischen konnte.“ (13)

Der Tyrann ist -zumindest in den westlichen Demokratien- zum twitternden Ekel Trump, zum quecksilbrigen Boris, zum Salvini in Badehosen geworden, also zu einem medialen Unterhaltungs- Magneten. Diese Typen sind viel eher Erben Silvio Berlusconis als blutrünstige Lears. Der Tyrann dieses Zuschnitts muss heute medial dauerpräsent und unterhaltsam sein. Ständige „Schwankungen im Verhalten des schwarzen Lochs“ sind damit unbedingt erforderlich- eine gewisse Unberechenbarkeit gehört zum Konzept. Mit diesen medialen Entfesselungskünstlern muss man erst einmal zurecht kommen. Noch ist dagegen kein Kraut gewachsen, vor allem wenn populistische und nationalistische Trümpfe gezogen werden. Andererseits mag auch ein Trost darin liegen, dass die Versuchungen der Macht, ihre Abgründe und ihre Popularität, ebenso wie die Aspekte ihrer destruktiven Selbstdemontage kein Phänomen der Neuzeit sind. Shakespeare hat sie bis in die römische Gesellschaft zurück verfolgt. Die Mechanismen bleiben über Zeiten, Generationen und Gesellschaftsstrukturen hinweg, bemerkenswert ähnlich.




*Filmplakat unter https://images.app.goo.gl/TQehh5EZ7rkeS1mLA
Ursprung hier: http://www.filmstarts.de/kritiken/136526.html

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1 „Wenn wir die Umlaufzeiten der Planeten miteinander vergleichen, so stellen sich inkommensurable Größen heraus. Denn wären die Größen kommensurabel, so würden die Planetenbahnen nach und nach in ein solches Verhältnis kommen, daß das ganze Planetensystem starr würde. Aber es ist ja in unserem Planetensystem diese Tendenz zum Erstarren, zum Totwerden drinnen. Versucht man mit leicht durchschaubaren Formeln oder mit leicht durchschaubarem Figuralen die Erscheinungen des Himmels zu fassen, so entschlüpfen einem die Erscheinungen. (Ein solches) System wird aber nur dann in der richtigen Weise aufgefaßt, wenn man sagt: Würde ich es nun ganz bestimmt hinzeichnen in irgendeiner Form, so könnte es höchstens das Richtige sein für die gegenwärtige Zeit. Schon wenn die Zeit einer künftigen Eiszeit eintritt, dann müßte ich dieses System in einer wesentlichen Art modifizieren, so modifizieren, daß ich die Konstanten der Kurve variabel nehme und sie selber wiederum ziemlich komplizierte Funktionen sind. Also ich bin gar nicht in der Lage, wenn ich adäquat die Himmelskörper mit ihren Bahnen fassen will, fertige Linien zu zeichnen. Wenn ich fertige Linien zeichne, sind es Annäherungslinien, und ich muß Korrekturen einführen. Das heißt: Jeder fertigen Linie entschlüpft hinterher dasjenige, was real am Himmel ist. Es ist ein Gegensatz im Sonnen- oder Planetensystem zwischen der Tendenz nach der Starrheit und der Tendenz nach der Veränderlichkeit, nach dem Heraustreten aus sich selber.“ R St 323.324ff  

2 https://de.wikipedia.org/wiki/Wechselwirkende_Galaxien
3 https://de.wikipedia.org/wiki/Schwarzes_Loch
4 https://de.wikipedia.org/wiki/Sagittarius_A*
5 Stephen Greenblatt, „Tyrant: Shakespeare on Politics“
6 Robert Menasse, The Capital 
7 https://www.tagesspiegel.de/kultur/buchpreistraeger-robert-menasse-europa-braucht-ein-netzwerk-der-regionen/20449408.html
8 https://ec.europa.eu/commission/commissioners/2014-2019/president_de
9 https://www.tagesspiegel.de/politik/die-zukunft-von-europa-wie-robert-menasse-europa-kaputtschreibt/20843276.html
10 Greenblatt, Stephen. Tyrant: Shakespeare on Politics (S.1). W. W. Norton & Company. Kindle-Version. 
11 Greenblatt, Stephen. Tyrant: Shakespeare on Politics (S.3). W. W. Norton & Company. Kindle-Version. 
12 https://www.nosweatshakespeare.com/play-summary/richard-iii/
13 https://www.dw.com/de/tory-parteitag-boris-johnson-im-kampfmodus/a-50634187