Aletheia - die Nicht- Verborgenheit
Alltags- Bewusstsein und Selbst- Realisation
Aletheia ist einer der zentralen Begriffe des Neuen Testaments, wie Georg Kühlewind in seinem Buch „Das Reich Gottes“ heraus gearbeitet hat. Übersetzt wird dieser Begriff - ungenau- meist mit „Wahrheit“, die korrekte Bedeutung aber ist „Nicht- Verborgenheit, Nicht- Vergessenheit, Nicht- Verlorenheit“ - eine Form von Selbst- Offenbarung im Sinne von Realisation und Gewahr- Werdung des Selbst.
Es ist das Ich, das sich in seiner Beschäftigung mit Wahrnehmen, Denken, Reflexion, Aktion ständig selbst „vergisst“. Dies gilt auch für die heute angemessene Form des Alltagsbewusstseins, die Rudolf Steiner „Bewusstseinsseele“ nannte, in der das Ich auch über seine eigenen seelischen Besonderheiten, über das „Erhaltene“, ja selbst über das Konstrukt des Charakters seiner selbst reflektieren kann. Alle Reflexion - das „Denken- über- das- Denken“ kann aber doch die „Verborgenheit“ nicht vollständig überwinden, da es immer noch Nach- Denken bleibt, und eine Selbst- Realisation im Jetzt nicht erreicht.
Der Blitz, der stehen bleibt
Kühlewind beschreibt das Eintreten in die Aletheia auf seine sprachlich eigenartige, hoch konzentrierte Weise so: „Mit dem In-die-Welt-Treten des wahren menschlichen Ich durch das Tor der Bewusstseinsseele verändert sich die Welt und das Verhältnis des bisher Verborgenen zum Licht der Welt.“ Gemeint ist hiermit -technisch gesehen- das Gewahr- Werden der eigenen schöpferischen Ich- Kräfte- ein Zustand, den Rudolf Steiner auch als „Reines Denken“ bezeichnet. Verschiedentlich bezeichnete es Kühlewind in Vorträgen und Gesprächen auch als ein „Blitz, der stehen bleibt“- eine anhaltende Intuition. Man kennt den Augenblick plötzlicher Einsicht, das wirkliche Aha- Erlebnis schon aus Kindertagen- hier, im Zustand der Aletheia, bleibt dieser Augenblick plötzlichen tieferen Verstehens für einige Zeit bestehen. Das ist ein tatsächlich ungewöhnlicher Bewusstseins- Zustand, den man mit „Ganzheit“ erlebt, vielleicht auch im Sinne der Vereinigung mit Du, Natur, aber auch sich selbst; man weiß jedenfalls, dass es ein "meditativer" Zustand ist. Dieser Bewusstseins- Zustand unterscheidet sich von dem, was das reflektierte Denken ausmacht, denn das Ich, das das Bewusstsein ist, und das seiner selbst bewusst wird, bleibt auch dann bewusst, wenn es keine Inhalte des Denkens hat - es besteht in der „Leere“ und im Jetzt. Faktisch erlebt sich das Ich damit auch in einem veränderten Körpergefühl, denn die Unverborgenheit rührt an die oberen Chakren, wodurch das Körpergefühl dynamischer in diesen Regionen wird und über die Körpergrenzen hinaus geht. Die Körper- Rückmeldungen (Lage, Status, Hunger, Wärme, Druck) treten weit in den Hintergrund, ebenso wie das Gefühl für Zeit.
Innere Räume und imaginative Eindrücke
Aber auch das seelische Gefüge ändert sich in manchen Bereichen- der ununterbrochene verteidigende Ego- Gestus schwächt sich ab. Man will nicht bestehen - schon gar nicht auf „Standpunkten“. Es gibt nichts zu verteidigen. Es ist ganz deutlich, dass man in einen Bereich eingetreten ist, der einen anderen Charakter hat. Damit ändert sich das bisherige Konzept des Ich-bin radikal. Es ist aber- das sollte man doch immer bedenken- nicht mehr als der Hinzugewinn einer Fähigkeit, nicht eine Überwindung des Bestehenden. Das Sich- Hineinversetzen in den Flow ist der Gewinn von einer gestaltenden, aktiven, tänzerischen Fähigkeit, ein Ausdruck und Möglichkeit von neuen Eindrücken. Aber kein kitschiges „Erleuchtetsein“. Andererseits handelt es sich auch nicht um ein komplettes Ausfliessen in eine undefinierte Weite. Die umgebende „Räumlichkeit“ ist nicht definiert durch Körpergrenzen, sondern durch den Raum, den das Bewusstsein einnimmt, eine Art Blase der ausgebreiteten Aufmerksamkeit. Es gibt sehr wohl eine Grenze, und es gibt sehr wohl allerlei Eindrücke, die an die Grenzen dieser Blase anstossen. Erlebt werden diese ganzen Eindrücke auf der Ebene einer bildlichen, aber sehr dynamischen Erscheinung.
Nun sollte man sich nichts vormachen. Es mögen ja gewisse Veränderungen vor sich gegangen sein. Aber in den tieferen Regionen spürt man sehr wohl die alten Reflexe, Ängste, Konfigurationen, mit denen man sich seit jeher herum geschlagen hat. In den Tiefen, in den „unteren“ seelischen Zonen, in denen das Gefüge an die Lebenskräfte heran rührt, existieren und regieren der Lebenskampf, das Begehren, der Ehrgeiz, die rechthaberischen Reflexe ganz ungebrochen. Existentielle Prägungen rühren tief. Aber dennoch: Eine Möglichkeit des Perspektiv- Wechsels ist gefunden.
Selbstkonzept, Flow und die eigenen Grenzen
Aber dennoch: Mit dem Eintritt in die Aletheia ist doch eines geschehen: Die bisher fast ungebrochene, scheinbar unauslöschliche Einheit des Selbstkonzepts ist ein Stück weit aufgebrochen und man darf die Energie des „Flow“ spüren: „Denkend empfinde ich eines mit dem Strom des Weltgeschehens.“ In diesem Moment enthüllt sich auch erst der Sinn von Rudolf Steiners so genannten „Nebenübungen“, die vor allem soziale Prozesse betreffen. Denn „Gleichmut“ und „Unbefangenheit“ sind Dinge, die man im Alltagsbewusstsein nur mit Verkrampfung üben kann. Menschen, die penetrant Gleichmut, Gedankenkontrolle und Gelassenheit üben, können den Charme einer Ziegelstein- Mauer verbreiten. Anders ist das in der Aletheia. Hier sind die Nebenübungen das geeignete, ja das einzig angemessene Element. Sie ergeben sich faktisch von selbst, ohne Krampf und ohne Selbstbespiegelung. Das bewegliche, flüssige, offene und zugleich selbst- gegenwärtige Ich bewegt sich in diesem Element auf die denkbar natürlichste Art- ohne Brüche, ohne widersprüchliche Gefühle und den Wust der eigenen Lasten.
Im Fluss der Unverborgenheit bauen sich keine Mauern auf, denn man steht tief im Dialogischen und in sozialen Prozessen. Der weich gewordene Wille ist durchaus nicht schwach und passiv, aber er ist frei genug, um empathisch in Prozessen stehen zu können. Die soziale Wahrnehmung, aber auch die Fantasie, um schwierige Verhältnisse situationsangemessen lösen zu können, erweitert sich erheblich. Man steht wirklich in der existentiellen Bejahung des Anderen, die Carl Rogers und Martin Buber (Ich- Es und Ich-Du- Beziehungen) in ihren Arbeiten gefordert haben. Man ist in der Lage, Anderen den Raum geben zu können, den sie für ihre Entfaltung benötigen- zumindest in Hinsicht auf die Betrachtungen, die Vorhaben und Entschlüsse, die man sich im Flow so macht. Schön und gut. Man erinnere sich aber auch an die Frau des Zen- Lehrers Jack Kornfield, der nach einem monatelangen Retreat vollkommenen inneren Frieden und Erleuchtung gefunden hatte- bis er das Haus betrat und seine Mutter anrief. Alles, was so verankert, gesichert und vertieft in innerer Eintracht gefunden worden war, fiel innerhalb von Sekunden auseinander.
Der Weg des Saturn und das heilige Dingdong
In anthroposophischen Zusammenhängen nennt man diese Art der hier angesprochenen Schulung auch den „Saturn-“ oder Willensweg in der Schulung, der im Gegensatz zu den klassischen Erleuchtungs- Prozessen steht. Aber natürlich treten in der Willensschulung der Aletheia auch Erlebnisse auf, die stark den oft geschilderten Erleuchtungs- Erfahrungen ähneln. Man legt nur wenig Wert darauf- oder es wird sogar als eher hinderlich betrachtet. Bildhafte Prozesse von Licht- Vorgängen sind auf der Ebene der Selbst- Gewahrwerdung eben nur dies: Bilder von einer Ebene, die Verstehen, aktives Begreifen einfordert. Sich dem bildhaften Lichterscheinen auszusetzen hat dem gegenüber einen ablenkenden, ja destruktiven Charakter. Es sind auch leicht destabilisierende Selbstgefühl damit verbunden. Das alles führt vom eigentlich relevanten Weg nur ab.
Der Weg der Nicht- Verborgenheit bedeutet auf dieser Ebene eben auch, dass das alles, was da „sieht“ oder zu verstehen meint, immer auch vor dem Hintergrund der eigenen Bedürftigkeit betrachtet wird. Das gehört zu den denkbar härtesten Aufgaben: Die Prüfung des im scheinbar „reinen Denken“ gewonnenen Schatzes mit der Fragestellung, wie sehr man sich das gewünscht hat, es gebraucht, ja fabriziert hat. Was kompensiert man mit diesen Bildern, Gedanken, Gefühlen? Welchen Grad von Selbst- Bedeutsamkeit versucht man zu konstruieren? An der ersten Schwelle, an der kein Anker der Vernunft und Kontextualisierung mehr hilft, muss man sich selbst als Instrument prüfen. Es stellt sich leider immer wieder heraus, dass die Sucht nach narzisstischer Bestätigung die treibende Kraft ist, den Blick auf Begleitung- Phänomene zu richten, aus denen man dann Selbstgefühle zieht: Das heilige Dingdong. Relevant ist nicht der Effekt der Bilder, Körpergefühle, Selbstbilder und Mythen, die man so erlebt, sondern die sachliche Aufrechterhaltung reiner Disziplin in der Gewahrwerdung. Es geht um Einsicht, nicht um Selbstbetörung.
Das innere Königtum
„Das ganze Neue Testament steht ja im Zeichen der Aletheia, der Unverborgenheit…“, schreibt Georg Kühlewind in „Das Reich Gottes“ (S. 65). Aber schon im Leben Christi bestand ja das Problem seiner Zeitgenossenschaft darin, dass das sich enthüllende Wesen missverstanden und kaum erkannt wurde. Die Erwartung an den Messias gestaltete sich „ganz äußerlich“: „Man erwartete und hoffte auf ein äußeres Reich, eine äußere Veränderung der Welt, der Umstände, des Lebens.“ Nicht nur Judas, der zu Unrecht Vielgescholtene, erhoffte ja in Jesus einen Sozialrevolutionär. Eingepfercht zwischen Besatzern und einer allmächtigen religiösen Kaste erwartete nicht nur Judas einen politischen Ruck: Am ersten Sonntag der Karwoche wünschte das ganze Volk eine politische und soziale Kehrtwendung von Christus, als dieser umjubelt und frenetisch empfangen in Jerusalem einritt. Das „innere Königtum“ Christi wurde nicht gesehen. Wem wollte man das verübeln? Wie können wir die eigene, verborgene Intentionalität erfassen? Wir müssten uns erinnern. Denn die Fähigkeit, Intentionalität rein geistig zu erfassen, hatten wir als Kleinkinder. Anders als durch Symbiose, durch Aufnehmen im Sinne der Aletheia kann kein Kind Sprache erlernen. Die Begriffe sind anders gar nicht zu erlernen als eben dadurch, denn das Kind kann weder Definitionen noch sprachliche Herleitungen verstehen. Es erfasst die Bedeutung von Begriffen einzig durch Aufnahme der Intention des Sprechenden.
Empfangende Aufmerksamkeit und sanfter Wille
Diese „empfangende Aufmerksamkeit“ (Kühlewind) steht dem Erwachsenen nicht mehr von selbst zur Verfügung. Aletheia kann nur durch „Wandlung der menschlichen Fähigkeiten“ realisiert werden. Das verborgene „innere Königtum“ bezieht sich nun allerdings auch auf uns selbst. Wir sind uns selbst zum Rätsel geworden. Nun war in Bezug auf Christus die Stunde seines grössten Triumphes - der Einritt in Jerusalem- gleichzeitig auch die Stunde des tiefsten Missverständnisses. Vielleicht ist das auch so in unseren persönlichen Biografien. Vielleicht stehen wir uns gerade dann am fernsten, wenn die Erfolge am grössten sind. Nicht umsonst gilt das Bonmot, dass die grössten persönlichen Katastrophen entweder im Scheitern unserer Intentionen oder aber eben in deren Realisation liegen. Umjubelt, anerkannt, gefeiert stehen wir uns fremd gegenüber.
Analog wird es auf dem Weg der Unverborgenheit unsicher, wenn die Fragehaltung schwindet, das Gefühl des stetigen Neubeginns. Natürlich gibt es eine technische Professionalisierung. Natürlich gibt es eine Haltung, eine gewisse Skepsis gegenüber den eigenen seelischen Reflexen, aber auch eine sichere Beobachtung der geistigen Tragkraft im Flow. Worum es geht, ist es, den Raum zu begründen und transparent zu machen, ohne zu schnellen Rückschlüssen, Bildern und Selbstsuggestionen auf den Leim zu gehen. Es ist in jedem Moment ein Entschluss. Der sanfte Wille ist eben der, der sich prägen lässt, ohne sich zu verlieren. Die Unverborgenheit lebt in der Stille, auch wenn man in ihr ganz öffentlich wirkt. Sie ist allerdings auch nicht - ein weiteres Missverständnis - abhängig von einer „Überwindung des Ich“ im Sinne alter Mysterien und fernöstlicher Praktiken: Man verliert das „Ich-bin-Prinzip“ nicht, „im Gegenteil: Das Königtum der Aletheia bedeutet, dass die erneuerte Fähigkeit des Empfangens der oberen Botschaften gerade durch die Individualisierung der bisher überbewussten Logoskräfte, durch die entstehende höhere Ichhaftigkeit vor sich geht.“ (Kühlewind, dito)
Der „innere Raum“, der sich öffnet, schafft Platz für Präsenz über Präsenz. Auf einer Nadelspitze sind Welten gebaut, und es türmt sich ein Himmel. Es ist nur zu ahnen, dass auch dieser Himmel nichts als eine Nadelspitze darstellt.
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Georg Kühlewind, Das Reich Gottes. Die Zukunftsvision des Neuen Testaments
Der vorliegende ist eine erweiterte und ergänzte Variante früherer Textfragmente und Blogeinträge