Rhythmus, Logos & der Gesang aller Vögel

Mein Leben eine Welle

Wer sein eigenes Leben - hoffentlich mit einer Portion Humor- aus angenehmer Perspektive, ohne besonders entrückt oder, im Gegenteil, emotional verhaftet zu sein, anschauen kann, dem erscheint es vielleicht vor seinen Augen wie ein Wellenkranz auf der Oberfläche eines Sees, in den ein Stein geworfen worden war- eine Welle, die sich entfaltet, vermehrt, aufbaut, abflacht, an den Rändern des Wassers zurück geworfen wird, um dann in zahlreiche kreuzende und reflektierende Bewegungen zu zerbrechen. Und was kommt nicht alles hinzu, um diesen Ablauf zu variieren: Landzungen, Untiefen, überragende Äste, die die Wasser- Oberfläche, durch Wind getrieben, berühren, Wasserläufer, Fische, ein unerwarteter Zulauf aus dem Bach, der den See speist, eine Millisekunde, in der der Mond sich neigt und die Erdanziehung mit einem Seufzer seinem Bann folgt, ein Entenpaar, das landet, und ein Reiher, der ins Wasser sticht, um einen Lurch zu schnappen. Das alles sind die Umstände, in denen meine Wellen gebrochen werden, und es ist nur der Anfang. Ein Meteor, der ein wenig Meteoreisen in den See verstreut, ein alle sieben Tage auftretendes winziges Aufatmen des Erdkörpers, die unsichtbare Gravitationswelle einer zeitlich und räumlich unendlich entfernten Supernova- sie alle hinterlassen Spurenelemente in der Figur, die meine Welle in diesem See macht. Will man es beschreiben, hat die persönliche Spur sich mit dem Gegebenen, aber auch mit dem kosmischen Umkreis so verbunden, dass es nur in Gedichten, Bildern auszudrücken wäre- aber worthaft ist es schon: Ein Ausdruck des Individuellen inmitten des kosmischen Umfeldes, Wort inmitten des großen Wortes, das gesprochen wird, auf dass ich sprechen kann. Rhythmus im Rhythmus des Ganzen, des Feldes. Ich sehe mich in Dir. Ich übergebe mich Dir. Ich bin eine Welle in Deiner Welle. So weit die rhythmische Entrückung, vielleicht auch ein Stück Selbst- Verzückung. 


Im Einklang mit kosmischen Rhythmen

Bei Anthroposophen ist dieser Übereinklang von Rhythmen auch des Leibes mit denen des umgebenden Kosmos eine zentrale Perspektive: „Lebendig variable Rhythmen sind in vielen Naturvorgängen und insbesondere auch im menschlichen Organismus zu beobachten, die oft ihr Urbild in korrespondierenden kosmischen Rhythmen haben. So ist etwa der Puls- und Atemrhythmus des Menschen ein verkleinertes Abbild des großen Platonischen Weltenjahres, das aus der Präzessionsionsbewegung der Erde resultiert.“ (1) Die gegenseitige Korrespondenz erzeugt dann in den Lehren Steiners auch biografische rhythmische Gliederungen und Muster wie die Gliederung in Sieben- Jahres- Schritten, die wiederum auf planetarische und hierarchische Hintergründe verweisen. In den sich entfaltenden biografische Wellen gibt es besondere Chancen und Probleme in den Jahrsiebten, aber auch gegenläufige Bewegungen, die durch das schubweise Erwachsenwerden im Sinne einer zunehmenden Selbst- Vergegenwärtigung der geistigen Präsenz erzeugt werden können. Selbst in den Folgen von Inkarnationen von Menschen erkannte Steiner Muster, ja in den Aggregats- Zustände ganzer Sonnen und Planeten.

Das ist eine moralische Klippe bei Rudolf Steiner: Der Antagonismus zwischen Ich und Ich. So weit die Präsenz, die pure Kraft des transzendenten Ichs eingebunden ist in die leiblich- seelischen Prozesse, befindet es sich - als Ego- sozusagen unter Wasser: Es wird mit den Wellen fortgerissen, es wird von den Umständen determiniert, verbraucht in seiner egoistischen Selbstbehauptung, seiner obsessiven Abgrenzung und intellektuellen Bewusstmachung aber zugleich unendlich viele Ressourcen, ja es saugt sich selbst auf wie ein sich selbst verzehrendes Wesen- eine Auto- Kannibalisierung, ein eigentlich erniedrigendes existentielles Schattendasein im biologisch- kosmischen Rhythmus, der eigentlich kein Selbstbewusstsein kennt, keine Zeit, keinen Raum: „In der Weisheit, im Rhythmus ist alles fertig, ausgeglichen. Im Menschen ist alles Rhythmische, Weisheitsvolle im Ätherkörper. Der Ätherkörper ist daher das am Menschen, was die Weisheit repräsentiert. Im Ätherkörper herrscht Ruhe, Rhythmus.“ (2) Das ist die andere Seite. In dieser kosmisch- irdischen Ruhewelt fächeln sich die Pantoffeltierchen kleine Wasserwirbel zu, und ein paar Milliarden Jahre sind wie ein Tag. Aber die kosmische Ruhe besteht, wenn es gut geht, beim Menschen ja nur im Tiefschlaf. Leise klappern die Augendeckel im Rhythmus des REM, der Geist ist flüchtig, der Atem geht tief und die Seele wabert durch bildlose Traum- Landschaften. Das Wasser kommt und geht, im biologischen Selbst tanzen die Pantoffeltierchen, und das Meer geht mitten durch mich durch. Aber dann ist Schluss mit der Harmonie.


Das andere Ich

Die Ruhe, wenn die Sterne blinzeln und die Gezeiten durch den Körper auf und abschwellen, gibt es nicht mehr, sobald der Mensch erwacht. Gefühlig, getrieben, in Notwendigkeiten eingeschweißt, der Tatendrang, die Operette der Aufgaben, Verpflichtungen, Vergnügungen. Die vielschichtige, komplexe, unergründliche, nicht entflechtbare Aufgabe, einfach der zu sein, der man ist. Und es auch nicht zu sein. Manchmal überrascht man sich selbst und hat eine plötzliche gedankliche oder moralische Intuition. Und sei es auch nur: Das geht doch nicht. Das machen wir anders. Manchmal überraschen einen die Zeiten, weil sie sich plötzlich ändern, so oder so. Plötzlich ist alles andere von gestern. Die Zeit von Trump, zum Beispiel, oder die Zeit vor der Pandemie. Und dennoch bleibt da unten, die Welt des Rhythmus, die Welt der atmenden Pantoffeltierchen, dieselbe. Dort, wo eine Milliarde Jahre wie ein Tag sind, dort, wo die Gesteine sich aufrichten, zerschmelzen, wandern und erodieren. Dort, wo Muscheln sich ablagern, zerdrücken, und zu Stein zermahlen werden. Dort hat die Auto- Kannibalisierung ein Ende. Mein Muschelhaus, mein atmendes Untendrunter. Hier liegst du mit dem Ohr am atmenden Puls der Erde, dort siehst du die Sterne aufgehen und zerfallen. Hier ist der existentielle Antagonismus nicht mehr existent. Das Haus der Toten, man sitzt an einem Tisch und trinkt den Wein und bricht das Brot. Man weiß, an diesem Tisch gibt es keinen Zerfall. Man ist ein Teil davon, man beleuchtet es, man ist ein Teil davon, immer gewesen, und für immer dabei. Das Haus der Toten, im Muschelgrund, ist der Tisch, der uns alle nährt. Aber dann klopft es an der Tür, du weißt, es ist wieder so weit, und du tauchst auf, du verlässt das Wasser, du wirst wach, und du bist wieder der, der du bist. 

Was eine Illusion ist. Der stumme Muschelmund spricht anders, und er kennt andere Worte. Aber weiter unten, unter dem Schlick, öffnet sich der Blick ja wieder. Hier hat nichts mehr Bestand, das eigene Bestehen gilt nicht mehr, denn es ist Strömung unter Strömung, Licht in Licht, Blase unter Blasen, und alles immer in Bewegung. Unter dem Räderwerk des Seins tut sich der Boden auf, in einer Unerschöpflichkeit, von der man selbst ein Teil ist. Ein wirbelnd- mäanderndes Sein unter anderen, die Un- Ruhe schlechthin. Das, was wird, was erstarrt, was Form gewinnt, was in die Zeit fällt, ist eine Verkrustung dieses Wirbels, selbst das Ich. Die Ebene der reinen Denkens, der puren Erkenntnis, ist die des Wachstums und Schaffens schlechthin. Hier entspringt alles Sein, weil dies das Sein schlechthin ist, und das Selbst ist davon ein Teil. 


Rhythmus zwischen Struktur und Chaos

Eine Kultur der Initiation ist also immer eine der Zwischenräume, eine der nicht sprachlich und dinglich fest zu machenden Zonen außerhalb des erkennbaren, klar umgrenzten Rhythmus. Wie sehr das dann auch schief gehen kann- etwa in einer Inflation post- religiöser Dogmen, Ersatz- Propheten, rassistischer und sexistischer Renaissance, Etablierung von Klassengesellschaften mit priesterlichen und kriegerischen Kasten- das ist Teil einer weiteren Betrachtung, die folgen soll. 

An dieser Stelle wenden wir den Blick zurück, in eine Zeit vor 2700 Jahren, in denen der Begriff Rhythmus bereits existierte, aber nicht gebunden war an die heutige Kopplung an Musik. Der Begriff hatte eine ganz andere Konnotation, deren Wandel Thrasybulos Georgiades in „Nennen und Erklingen“ (3) nachgeht. Hier (4) stellt er auch fest, dass „der Rhythmus als solcher ursprünglich kein rein musikalisches, sondern ein mit dem Ganzheitlich- Menschlichen, auch mit dem Räumlichen zusammen hängendes Phänomen ist. Es hat Jahrhunderte gedauert, bis es zu der Bedeutung des Wortes kam, die wir heute primär damit verbinden, den musikalischen Rhythmus, oder zumindest etwas, das in der Zeit vor sich geht.“ Das ist auch deshalb bedeutsam, weil „Rhythmus“ als Begriff „alle Kultursprachen aus dem Griechischen übernommen haben, um das zu bezeichnen, was wir eben Rhythmus nennen. Was aber bedeutet das Wort? Und wie kommt es, dass alle Sprachen es übernehmen, ohne in der Lage zu sein, für das darunter Verstandene (als Wort, nicht als Terminus) ein eigenes Wort aufzubringen, es zu übersetzen?“ So mächtig die Intuition für dieses Wort gewesen sein muss, um es die Kulturen der Welt penetrieren zu lassen, so schwankend und unklar scheint es selbst bereits im Griechischen gewesen zu sein, denn auch in der Verwendung differieren die Bedeutungsebenen. 

Dieses Wort sprengt die einmal gefundene Semantik immer wieder, es ist zu groß und zu viral, um sich in ein Korsett sperren zu lassen. Georgiades zitiert in diesem Zusammenhang Aristoxenos (der sich wiederum auf Aristoteles bezieht, also in einer deutlich späteren Zeit), der Rhythmus definiert als etwas, das nicht „aus einer Zeiteinheit (aus einer Zeit)“ (5) bestehen könne, sondern seine „Entstehung bedarf des Vorher und Nachher“ (5)- Rhythmus konstituiert sich aus dem Gegensatz zum Nicht- Rhythmischen, zur Stille, zum Nichts. So wie jedes Ding sinnlich erfassbar wird dadurch, dass es ausgeschlossen wird von dem, was Nicht- Ding ist, so wie das Leben beginnt, wenn der Rhythmus des Herzschlags einsetzt (oder wieder einsetzt), so ist eine strukturierte Zeiteinheit nur vor dem Hintergrund des Nichts oder des Chaos erkennbar- das Nicht- Rhythmische wird in diesem ursprünglichen Begriff von Rhythmus mitgedacht, es wird durch ein Relations- Prinzip definiert. 


Rhythmus, Komposition und Mathematik

Aus solchen Spannungen am Rand der Stille hat übrigens John Cage komponiert, ja er hat die Stille geradezu zum Thema moderner Musik gemacht: „Dem gemäß vertritt Cage eine Musik der freien, gleichwertigen Klänge, die nicht aus der kompositorischen, dirigistischen oder interpretatorischen Absicht heraus, sondern aus sich heraus wirken und deren Zusammenhang in einem durch die Zeit (Dauer) vorgegebenem Rahmen, welcher der Wahrnehmungsförderung dienen soll, sich zufällig ergibt. Zufall ergibt die größte Chance aus allen Möglichkeiten das Naturgemäße zum Zuge kommen zu lassen. Um das zu gewährleisten wendet er in allen Phasen des künstlerischen Prozesses die Methode der „Unbestimmtheit“ an. Vorgegebenes ist zu starr und wirkt sich seiner Beobachtung nach entmündigend und negativ auf die Beteiligten aus. „Unbestimmtheit“ führt zum aufmerksamen Nebeneinander im Handeln, natürlicher Verantwortungsbereitschaft, gepaart mit Lebensfreude und stetigem mentalem Training. „Voraussetzungslosigkeit“ bedeutet, sich nicht von Prägungen bestimmen zu lassen und „Absichtslosigkeit“ der Verzicht subjektive Vorlieben und Abneigungen zum Ausdruck zu bringen. Die Stille ist der Moment, in welchem alle diese Möglichkeiten potentiell vorhanden sind. Deshalb hat die Stille in Cages Denken eine besondere Bedeutung. Sein stilles Stück 4’33’’ ist wohl das berühmteste und auch von ihm selbst am meisten geschätzte.“ (6)

Das Relations- Prinzip des Rhythmus bedeutet aber auch die mathematische Grundierung, wenn man den Rhythmus auf das Musikalische einschnürt: „Ganzzahlen- Verhältnisse konstituieren also auch den Rhythmus. Die Relationen „haken ein“; dazwischen ist „nichts“, wie auch zwischen den Ganzzahlen „nichts“ ist. Auch hier sind allmähliche Übergänge nicht möglich; das Moment des Kontinuierlichen scheidet auch hier aus. Der Musiklehrer ruft: „Zählen“, nicht: „Messen!“, und er meint damit ein Treffen, ein Zielen auf Zahlen, ebenso wie sich die Ermahnung „Rein intonieren!“ Auf das Treffen des „richtigen“, des wirklichen, das heisst des den Ganzzahlen entsprechenden Intervalls bezieht- das „Dazwischen“ ist „unrein“, das heisst nichts musikalisch Wirkliches.“ (7) Als Relations- Phänomen kann ein Rhythmus, wenn er denn „getroffen“ ist, ohne weiter transponiert werden in höheres oder geringeres Tempo, und damit auch die Melodie bedeutend variieren. Rhythmus als ein in sich stimmiges Verhältnis, das von seinen Rändern her definiert wird, ist ein Zeit- Phänomen, das eben doch unabhängig von Musik auftritt, etwa beim Tanz, in biografischen Zusammenhängen, in der Biologie, in geografischen Formationen. 


Rhythmus als Charakter und biografische Fessel

Rhythmus ist in frühen griechischen Belegen nach Homer, etwa ab 700 bC noch einmal ganz anders, nämlich als biografische Fessel, verstanden worden: „Erkenne, welcher Rhythmus den Menschen in seinen Banden hält“- im Sinne von „Haltung“, „Eigenart“, „Charakter“ eines Menschen- das den Menschen Bestimmende" (7). Sieht man die ältesten Bedeutungen von Rhythmus in diesem Zusammenhang als Phänomen an der Grenze zwischen Sein und Nichtsein, als von Vor- und Nachgeburtlichem abgegrenztes zeitliches Phänomen, so tritt im Inneren der Existenz ein Korsett, eine Struktur, eine Determination auf: Der strukturell bedingte Charakter. Rhythmus wird in diesen alten griechischen Verständnis- Mustern zu etwas wie einer biografischen, menschlichen Last, die zum Ausruf des Lyrikers Anakreon führt: „Ich hasse aber alle, die chtonische und schwere Rhythmen tragen“. Dass uns heute, über zwei Jahrtausende später, ein rhythmisches Element als Moment der Leichte erscheint, zeigt die Verschiebung der Gravität unserer Begriffe und unseres Denkens: In der Antike erschien Rhythmus im besten Fall als etwas wie „Haltung“ des Menschen, im schlimmsten Fall aber als tyrannische Disposition. Zunehmend verschob sich, über die Jahrhunderte, der Begriff in bildhaft, allegorische Richtungen, indem er etwa auf Erde und Zeitalter bezogen wurde: „Manches ändert sich an den Dingen durch lange Zeit. Nichts bleibt im selben Rhythmus.“ (7). Am Treffendsten ist vielleicht der Aufschrei des Prometheus, den ans Irdische Gefesselten, an die materielle Existenz, der im Original lautet „Ich bin hier in diesen Rhythmus gebannt“ (7). Rhythmus wird hier zur Maßregelung, zur Strafe der Götter, zur eigentlichen Fesselung an eine biologische Notwendigkeit. 


Rhythmus als Grundlage der sakralen Architektur und der Vernunft

Die Bindung des Begriffs an eine solche existentielle Ebene hat von da an Tür und Tor geöffnet für eine metaphorische Eskalation. „Rhythmus“ wurde zur Charakterisierung bei der Begradigung von Flüssen, bei Schmuck- Entwürfen und Mustern, bei der formalen Umgestaltung von Schriftzeichen- so dass die mitschwingende Ebene Proportion, Maß, Form, Verhältnismäßigkeit bedeutete. Schließlich wurde in Bezug auf einen Tempelbau (bei Pindar) als Maß aller Dinge gefragt: was für einen Rhythmus hatte er? Rhythmus wurde zum architektonischen Grund- Prinzip, zumindest in Bezug auf das Sakrale. 

Andererseits fragt Demokrit nach dem Rhythmus der Atome und meint damit nicht eine Bewegung, sondern die Form, das Schema, die Struktur des Lebens. Zugleich schrieb Demokrit aber auch schon vom Rhythmus als musikalischem Phänomen. Natürlich wurde die Ordnung in rhythmischer Hinsicht in Bezug auf Rhetorik gelehrt, aber auch schlechthin in Bezug auf die Struktur von Prosa und Dichtung. Bei Aristophanes sehen wir die Aufforderung zum Tanz: „Reicht einander die Hände, im Reigen- Rhythmus schreitet, hüpfet hurtig tanzend im Ring herum!“. Damit war wohl auch eine Allegorie in Bezug auf Vers- Rhythmen gemeint. Nach Platon verengte sich das Verständnis des Begriffs immer mehr auf musikalische Elemente, bei denen Rhythmus und Tonlage sich mischten in eine höhere Harmonie. Das Verständnis hierfür- die Fähigkeit zu Verstehen, das Denken der Harmonie und ihrer Elemente, wurde zum eigentlich menschlichen Unterscheidungs- Merkmal gegenüber den natürlichen Wesen: „Die anderen Lebewesen haben kein Gefühl für die Ordnung der Bewegungen, deren Name Rhythmos und Harmonia sind.“ (7) Das Erkennen von Rhythmen, Strukturen, höheren Ortungen, Kategorien wie solchen des harmonischen Zusammenklangs ist Kennzeichen der ureigenen menschlichen Vernunft. 


Die Entdeckung des Logos und der Gesang aller Vögel

Hier entdecken wir eine bemerkenswerte Übereinkunft zwischen der Tätigkeit des Erkennens und dem Erkannten: Insoweit, wie sich das aktive Denken erheben kann zur Erkenntnis der Harmonie, die die Bewegung der denkenden Aktivität leitet wie ein höheres Fühlen, ja wie eine Anlehnung an einen kosmischen Logos, ist das Denken selbst Teil dieser Harmonie. Das „Gefühl für die Ordnungen“ wie Harmonie und Rhythmus strukturiert nicht nur die Bewegungen des Denkens, fokussiert sie nicht nur, sondern gibt ihnen Sinn und Richtung. Der Mensch ist ein auf Sinn ausgerichtetes Wesen, da sein Denken es ihm erlaubt, in die Logos- Struktur des Seins aufzusteigen. Dieses Selbstgefühl des Geistes war sicherlich Teil dieser Hochkultur, wenn auch nur für eine exklusive Elite und Kaste. Das ursprüngliche Grundempfinden, das der Intuition des Begriffs um etwa 700 bC zugrunde lag, war dabei verloren gegangen: Dass die Struktur nur erkennbar ist vor dem Hintergrund der Nicht- Struktur, dass der Logos vor dem Nichts besteht und sich erschöpft, dass Zeit ein Konstrukt ist und wir alle nur ein gemurmeltes Wort vor dem formlosen Nichts. 

Und dennoch: Das klare Denken ist in der Lage, vor dem Chaos zu bestehen- zumindest, wenn es sich in dem Erleben und Erkennen.von Harmonie und Rhythmus als „zu erfassendes Geschenk der Musen an den Menschen“ (7) erlebt wird, wobei die Seele dabei „mit sich selbst in Übereinstimmung und zu Gleichmaß“ (7) kommen könne. Der Übergang zur Musik, insbesondere in der Form des Chorreigens, erscheint fliessend. Das, was im Rhythmus einerseits als (auch charakterlicher) Panzer, als seelische Form erlebt wurde, wird andererseits, in seiner hellen Seite, zur festen Haltung, zur eigentlichen Menschlichkeit, zum Charakter im besten Sinn. Diese Zwitter- Natur des Begriffs, zwischen Vollendung und erstarrender Perfektion, zwischen eigensinniger Form und harmonischem Einklang, durchzieht, wie Georgiades ausführt, ganze essentielle Teile der griechischen Philosophie. Aristoteles bezieht die Frage des Rhythmus umfänglich auf Rhetorik und Sprache schlechthin. Er schafft damit die Grundlage für Metrik und Kunstprosa späterer Epochen. 

Das ist sehr viel mehr Grundlage für Reflexion und Kunst- Betrachtung als die 400 bis 500 Jahre älteren Vorstellungen, die deutlich sakralen Charakter hatten. Ein Beispiel ist der schon öfter zitierte Dichter Alkman aus Sparta mit seinem berühmten „Ich kenne die Nomoi aller Vögel“, wobei: „Nomos ist hier etwa mit „Weise“, „Sangesweise“ wiederzugeben. Aber die Hauptbedeutung von Nomos ist „Gesetz“, ein Begriff, der (eigentlich) dem Bereich des Rechts und des Staates angehört.“ (8) Abgesehen davon, dass Nomoi in dieser Zeit kleine homerische Kompositionen darstellten, seien sie instrumentalisiert oder ein Gesang, bestand der Wille dieser Künstler, in der Komposition eben das zugrunde liegende „Gesetz“ darin abzubilden. Selbst im Gesang der Vögel vermag das geschulte Ohr mehr zu hören als formloses Nichts: Eben dies macht die Aussage Alkmans zu einer zeitlosen Beschreibung eines initiierten Denkens. 


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1 https://anthrowiki.at/Rhythmus

2 Rudolf Steiner, GA 93a, S. 23f

3 Thrasybulos Georgiades, Nennen und Erklingen, Göttingen 1985

4 S. 94f

5 S. 92

6 Thea Florea, https://www.grin.com/document/286502

7 Nennen und Erklingen, S. 93ff

8 Nennen und Erklingen. S. 101