Die Meister und das 20. Jahrhundert - über Aleister Crowley und Rudolf Steiner

Kommune, Biest und ein wenig Meskalin

Na ja, werden Sie zu Recht fragen, welchen Sinn soll das machen, das edle Haupt eines christlichen Eingeweihten wie Rudolf Steiner zu beleuchten aus der Perspektive des Black bottom, des Anti- Christen, dämonisch inspirierten Magick- Begründers Aleister Crowley? Eine Unmöglichkeit, eine Anmaßung, ein vollständig falsche Perspektive? Die Dinge verkehren sich, wenn man sich einarbeitet, auf vielerlei Art und Weise. Eine davon ist die hier eingenommene, die die Meister- Frage einbezieht- die Quellen der jeweiligen Inspirationen und Intuitionen, d.h. das Verhältnis der Erkenntnis zum Nicht- Ich, zum Irrationalen, zum Göttlichen, zum Mysterium. Hier hat Crowley insofern die Nase vorn, dass er dieses Verhältnis öffentlich reflektiert hat und zumindest scheinbar ein Bekenntnis zu einem materialistischen  Mystizismus abgegeben hat: Die inspirierenden Geister seien Aspekte und Instanzen des eigenen Gehirns oder Bewusstseins; der Magier teile sich faktisch in sich auf und inspiriere sich selbst- selbst der Schutzengel, den er beschwöre, sei ein Aspekt des Höheren Ich. Eine solche materialistische Deutung war Rudolf Steiner fremd. 

Eine Biografie Aleister Crowleys - Richard Kaczynskis„ Perdurabo: The Life of Aleister Crowley“ ist immer ein guter Start bei dieser Fragestellung, da sie realistische Einblicke in die Vielschichtigkeit dieses Mannes und in die Abschnitte seines Lebens gibt, bevor man sich in die kaum überschaubare Fülle von Arbeiten bei Academia begibt. Crowley war ja zweifellos ein erster, globaler und über Jahrzehnte hinweg bedeutender medialer Star  - aber auch ein Opfer der Sensationspresse seiner Zeit, denn er wurde mehrfach eines Landes verwiesen, seine Bücher und Verleger boykottiert, und er wurde als ein Schwarzmagier gebrandmarkt, der er im engeren Sinne bestimmt nicht gewesen ist. In späteren Jahren hat er mit dieser Publizität gespielt, sie bewusst eingesetzt und sich in diesem Sinne als „das Biest“ inszeniert. Er war ein Popstar. Zudem hat er die Welt mit einer damals als freizügig empfundenen Kommune auf Sizilien schockiert. Und er hat durch die Verquickung seiner Promiskuität und Bisexualität mit Magie einen Strom in die Welt gesetzt, der im 20. Jahrhundert immer wieder aufgeflackert ist und bis heute einen erheblichen Einfluss auf die dunkleren Seiten der esoterischen Szene besitzt, aber auch durch politische Prominenz wie Alexander Dugin und generell durch Traditionalisten bis ins 21. Jahrhundert hinein neu an Bedeutung gewonnen hat. Schließlich hat er die Sechzigerjahre vorweggenommen durch seine lebenslangen Experimente - mit Drogen aller Art, aber auch durch seine psychischen Abstürze, seine Depressivität, durch Jahre lange Abhängigkeit von Heroin. Als magisches Mittel setzte Crowley vor allem auf eine Art Meskalin - ein Halluzinogen, das dem späteren LSD ähnlich war. Neben diesen in vielen Augen zweifelhaften Aspekten seines Ruhms und seiner sexuellen Freizügigkeit war er aber auch ein äußerst charmanter, charismatischer und beliebter Gesprächspartner, der unzählige Prominente aus allen Kreisen und Gesellschaftsschichten kennen lernte. Seine Warmherzigkeit versuchte er meist unter der provokativen Erscheinung zu verbergen, aber sie kam mit den Jahren stärker in den Vordergrund. 


Der Sucher

Von den Machenschaften des Golden Dawn (GD) hielt er später nicht mehr viel, und erklärte das zeremonielle magische Treiben für Mummenschanz von Mittelschichts- Spiessern: „Expecting to encounter spiritual giants, he discovered a group of nonentities. Crowley was not alone in this opinion. GD member and Irish feminist Maud Gonne (1866–1953) characterized the order as “the very essence of British middle-class dullness. They looked so incongruous in their cloaks and badges at initiation.“ (1) Dennoch inszenierte er in diesen neu- „rosenkreuzerischen“ Orden eigene Rituale und verbündete sich zeitweise mit dem um die Jahrhundertwende verfemten Samuel Mathers. Später schloss er sich dem O.T.O. an, der schon früh mit Reuss in Richtung Sexualmagie abgedriftet war. Das rein rituelle Treiben im Sinne eines Vertiefens der Freimaurerei befriedigte ihn dagegen nicht: „Nevertheless, Crowley confided in him that after searching so long for the truth, he was troubled to find dramatic ritual dissatisfying.“ (1) Dies, obwohl er auch von Maurerseite aufgrund seiner Kenntnisse in den frühen Jahren anerkannt gewesen war: „Crowley’s knowledge of the mysteries so impressed Don Jesus that the Mason conferred upon him the 33°, the highest grade in the Scottish Rite of Freemasonry“ (1)- eine Tatsache, die ihm die Nationalsozialisten später besonders übel nehmen würden.

Aber schauen wir in die Kindheit und Jugend Crowleys zurück. Er hatte seinen Vater früh verloren und war, nachdem sich seine Mutter mit anhaltenden Depressionen aus der Erziehung zurück zog, weitgehend einem bigotten Onkel ausgeliefert, gegen den er ebenso opponierte wie gegen das Schulsystem an sich. Trotz seiner privilegierten Stellung und seiner offensichtlichen Hochbegabung fiel er durch kaum verhüllte homosexuelle Eskapaden in der Pubertät auf. Das Skandalöse, Provokative wurde, auch um seine Familie zu schockieren, Teil seiner Selbstinszenierung. Dazu kam aber eine Karriere als außergewöhnlich begabter und wagemutiger Bergsteiger, der bis in seine späteren Jahre hinein eine Art Free- Climbing betrieb, das die traditionellen Bergsteiger überforderte. Diese Berufung war auch der erste Anlass dafür, viele Jahre lang rund um die Welt zu reisen, um - etwa im Himalaya - ohne nennenswerte Ausrüstung schwierigste Besteigungen zu meistern. Es waren zu seiner Zeit völlig unmögliche Leistungen, bei denen es allerdings auch menschliche Opfer gab. Dies brachte ihm später den Ruf eines herzlosen Besessenen ein. 

Er lernte Kulturen und religiöse Kulte auf der ganzen Welt kennen, hatte aber auch schon derartig viele angesehene Poesie veröffentlicht, dass auch dies für eine Karriere ausgereicht hätte. Zugleich vertiefte er seine Kenntnisse in Magie: „Life looked pretty grim. Crowley was a man who had climbed among the highest mountains in the world, only to have his first leadership snatched from him and his men buried in ice. As a poet, he had published so many books that his collected Works were available, even though the originals never sold. He had traveled around the world, and was now halfway around it again and finding it stale. And he was a master of magic.“ (1) Dennoch blieb er unruhig, unzufrieden, sexuell und emotional obsessiv: „..when he loved, he did so with his whole being, but the passion was typically short-lived.“ (1)


Die Erfindung des Biests

Crowleys dominierende Sorge bestand darin, dass seine außerordentlichen Begabungen nicht Bestand haben würden, dass er sich nach dem 30. Lebensjahr immer nur weiter wiederholen würde: „Anyway, I hope I shan’t simply go bad. At least I am certain to avoid the blunder of making a good thing and copying it forever.“ (1) Sein Ehrgeiz reichte weiter als das, was ihm bislang gegeben war. Er wollte einen weit größeren Ruhm, aber auch eine spirituelle Quelle, die nicht versiegen würde: „..he concluded his charmed life was being preserved for a greater purpose.“ (1)

Daher unternahm er alle Anstrengungen, (vorerst) sämtliche traditionellen Grenzen zu überschreiten, um nicht Irgendwer, sondern der „Auserwählte“, das „Biest“, zu werden: „The one really important thing is the fundamental hypothesis: I am the Chosen One.



Um dieses Ziel zu erreichen, wollte er alle menschlichen und moralischen Hemmnisse überwinden: „I say today to hell with Christianity, rationalism, Buddhism, all the lumber of the centuries. I bring you a positive and primaeval fact, magic by name; and with this I will build me a new Heaven and a new Earth. I want none of your faint approval or faint dispraise; I want blasphemy, murder, rape, revolution, anything, bad or good, but strong. I want men behind me, or before me if they can surpass me, but men, men not gentlemen. Bring me your personal vigour; all of it, not your spare vigour. Bring me all the money you have or can force from others. If I can get but seven such men, the world is at my feet. If ten, Heaven will fall at the sound of one trumpet to arms.“ (1)

Tatsächlich ging er mit seinen magischen Experimenten  weit. Er benutzte auch Andere dafür. Er ließ seine medial veranlagte Frau Rose mit Kleinkind in China zurück. Das Kind starb auf der Rückreise, von der schon alkoholkranken Rose vernachlässigt: „Rose was very annoyed about being cast off in China with their young daughter to return home alone. Crowley reasoned that, being wanted in Calcutta, he couldn’t return there with her. She finally agreed, with the intent of staying with her father when she arrived in Scotland. She needed his help because she was three months pregnant.“ (1)

Crowley folgte seiner Obsession, der Suche nach der endgültigen Initiation. Sein Ziel zu dieser Zeit war, alles „Haftende“ zu überwinden, gleichgültig, welche Opfer das bei Anderen bewirkte: „In magical terms, he had plumbed the depths of the Ordeal of the Abyss, a magical rite of passage designed to obliterate the magician’s ego by destroying all he held dear: those physical attachments that Buddha blamed for reincarnation; one’s selfishness, or sense of self.“ Den Tod des Kindes verstand er als Warnung der von ihm gesuchten Götter: „The gods had killed Lilith because his attachment to her was impeding his progress in the Great Work. The gods killed her because Rose had failed in her role as Crowley’s magical partner. The gods killed her as a warning. In that moment, Crowley realized the cosmos played by very tough rules.


Einordnung des Okkultismus in eine säkulare Gesellschaft

Abgesehen von den politischen, sakralen und biografischen Aspekten ist heute aber auch Crowleys Bedeutung für das Phänomen westlicher Esoterik interessant, da er eine Art selbstreflektierter Ebene in seine Arbeiten einbezogen hat, was die „psychologization and naturalization of esotericism“ (2) bewirkt hat, also z.B. die Frage, welchen Sinn die magische Suche für das Individuum selbst hat- was das Selbstbild betrifft, einerseits. Andererseits aber auch im Sinne von Wouter J. Hanegraaff, der die Rolle Crowleys dahin gehend betrachtet, wie „occultists profoundly transformed magic in order to ‘‘make sense’’ of it in the context of an increasingly secularized, disenchanted world.“ (2) Zu den psychologischen Kniffen von Crowleys Magie gehöre aber auch, dass sie, wenn man Egil Asprem folgt, Bereiche der Erkenntnis berühre, die sich jeder Kritik entziehen würden. Dazu gehöre die Schaffung von alternativen geistigen Welten wie dem Astralplan. Andererseits stelle Crowley aber auch wissenschaftliche Methodik in den Mittelpunkt magischer Schulung und Praxis, da Übungen, Effekte und Auswirkungen transparent und nachvollziehbar sein sollten: „In other words, occultists create an alternative, imaginary space (for instance the ‘‘astral plane’’) that is not affected by the increasing disenchantment of daily reality. Asprem, however, taking Crowley as a convenient case study, sees no signs of an escapist psychologizing attitude, but rather the opposite: an attempt to establish ‘‘scientific’’ conditions for an empirical testing of magic and its various claims.“ (2)

Dies entspricht dem oft vorgebrachten Anspruch vieler Anthroposophen, die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners entspräche wissenschaftlichen Standards, auch wenn Jost Schieren bereits vor rund zehn Jahren deutlich widersprochen hat: „Die meisten Argumente für die Unwissenschaftlichkeit der Anthroposophie beziehen sich auf die anthroposophische Esoterik, die als wissenschaftlich nicht nachvollziehbar gilt. Es geht um das Problem einer übersinnlichen Erkenntnis, die allein auf Behauptungen Rudolf Steiners, die durch Dritte nicht überprüft werden können, zurückgeht. Anthroposophen geben hier einen Vertrauensvorschuss, der allerdings nicht vorausgesetzt werden kann. An dieser Problematik wird man langfristig wenig ändern können. Bezogen auf die esoterischen Aussagen Rudolf Steiners die Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie zu behaupten, erscheint als ein auf lange Jahre wenig erfolgversprechendes Unterfangen.“ (3)

Während Rudolf Steiner sich nach Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft immer mehr christlichen und mystischen Themen zuwandte - wobei  gleichzeitig pragmatische Tochtergesellschaften in Erziehung und Medizin voran getrieben wurden-, blieb Crowley ein schwer zu greifendes Phänomen, da er mal magisch- traditionell und rituell auftrat, mal reflektiert und mit dem Anspruch der Nachvollziehbarkeit und der Reduktion auf physiologische und psychische Prozesse: „We can observe several shifts in Crowley’s interpretation of magic and of other spiritual pracrelated to the problem of magical ‘‘experience.’’ This is rather related to instrumental forms of magic, which aim at the acquisition of material gains, such as money, health, erotic success, and the like. There is no doubt that Crowley practiced this kind of magic as well (..)  As we will see, he sometimes leans toward physiological, brain-based interpretations; sometimes toward psychological, mind-based interpretations; sometimes he mixes the two; and sometimes he just cannot let go of a more traditional view of preternatural reality. He was therefore both naturalizing and psychologizing, depending on the moment in his intellectual trajectory and the context in which he found himself.“ (2)

Offenbar war Crowley bemüht, trotz der voran schreitenden esoterischen Entwicklung, die in einem Kommunen- Leben in Sizilien mündete, wobei ihn Schüler, Partnerinnen, Medien und Journalisten begleiteten, den Anschluss an die säkularisierte Gegenwart des 20. Jahrhunderts nicht zu verlieren. Das war keinesfalls nur eine strategische Positionierung- vielmehr war sich der polyglotte, akademisch gebildete Crowley aktueller Trends in Psychologie und Psychoanalyse vollkommen bewusst. Er integrierte methodische Konzepte dort, wo es ihm passend erschien. Zudem sah Crowley seine Meditationen, Übungen, sakralen Handlungen und Meskalin- Trips als Selbsterfahrungen, die er stets dokumentierte und realisierte als das, was sie waren: Bewusstseins- Zustände in ihrer ganzen Diversität, Experimente an der eigenen Person, ja letztlich am eigenen Gehirn. Solche reflektierten und dokumentierten spirituellen Experimente schlagen, so schreibt Pasi (2), eine Brücke zwischen Religion und Wissenschaft: „In this case, as with spiritualism, the underlying rationale is the necessity of a reconciliation between science and religion. The attempt at a reconciliation between these two fields, perceived as increasingly distant, if not radically opposed to each other, has been in fact indicated as one of the fundamental characteristics of occultism.“ (2) 


Die Meister und das höhere Ich 

Crowley hat schon 1901, auf seiner Ceylon- Reise, sämtliche Yoga- Übungen, die er vollzog ebenso dokumentiert wie seine magische Praxis im „Golden Dawn“ und alle späteren Entwicklungen. Er hat den experimentellen Charakter dieser geistigen Erfahrungen ebenso kontinuierlich gesehen wie seinen Anspruch formuliert, als Eingeweihter „Samadhi“ erreicht zu haben. Mehr als das, betrachtete er sich als Religionsgründer, dem die Texte von einem übermenschlichen Wesen im Sinne von Intuitionen eingegeben wurden: „Crowley himself, according to his own testimony, had achieved samaˆdhi, and this had entitled him to found a new religion. This is exactly what Crowley claimed he had done after he received the text of the Book of the Law from what he thought to be a preterhuman entity (..)“ (2) Von Schülern erwartete Crowley absolute Opferbereitschaft und Hingabe an die magische Lehre, insbesondere nach der Gründung seiner Kommune in Cefalu. Die zeremoniellen Rituale wurden zugunsten der Sexualmagie zurück gefahren, die Zeit des Yogas und der östlichen Einweihung war vorbei und wurde integriert, die Reisen durch Wüsten, Länder, Beziehungen waren zunächst beendet, die Suche nach dem „Schutzengel“ und anderen geistigen Wesen begann. Aber zugleich zeigte sich Crowley im Sinne der Kompatibilität mit dem Zeitalter bereit, seine gesamte Esoterik als eine Sache anzusehen, die man rein physiologisch und hirnorganisch erklären könne, also rein materialistisch: „..it seems clear that Crowley was willing, at least in certain contexts, to interpret the effects of ceremonial magic, and the entities traditionally involved with them, purely in physiological (not even psychological) terms. Magical phenomena are explained from a strictly materialistic point of view: they take place only in the brain, and this creates, as a secondary effect, the illusionary perception of spiritual entities. This is of course a kind of reductionist explanation of magic..“ (2) Auch der Schutzengel war für Crowley primär eine Erscheinungsform des eigenen höheren Selbst. Auf der anderen Seite bestand Crowley immer wieder darauf, dass „nicht inkarnierte“ Wesenheiten existieren würden und keinesfalls nur metaphorischen Charakter hätten. So schrieb er in Magick (nach Pasi, 2): „Yet the average man of science still denies the existence of the elementals of the Rosicrucian, the Angels of the Qabalist, the najtas, pisacas, and devas of Southern Asia, and the djinn of Islam, with the same blind misosophy as in Victorian days. It has apparently not occurred to him that his position in doubting the existence of consciousness except in connection with certain types of anatomical structure, is really identical with that of the narrowest geocentric and anthropocentric Evangelicals.“ Auch in seiner letzen Schrift aus dem Jahr 1940 besteht Crowley auf der Objektivität der ihn inspirierenden geistigen Wesen. 

Gegenüber diesem Larvieren nach Bedarf geraten die Eingeständnisse Rudolf Steiners, an der Aufgabe, die Wissenschaftlichkeit seiner Methodik nicht erreicht zu haben, angenehm ehrlich. Es bleibt, selbst wenn man die Frage der „außerhalb“ gedachten Geistwesen ausklammert, stets der Appell an den „guten Willen“ des Lesers, dem behaupteten Zusammenhang zu folgen: „Die empirische Methode der Beobachtung des Denkens wird als gesicherter Ausgangspunkt einer realen Geist- Erfahrung begriffen. So konsequent und im Sinne Rudolf Steiners nachvollziehbar dieser Ansatz ist, so bleibt auch hier der Eindruck bestehen, dass man dem Behauptungscharakter am Ende nicht entkommt. Steiner spricht an den entscheidenden Stellen immer von dem guten Willen, der notwendig sei, um seiner Argumentation zu folgen. Das heißt, man muss eine gewisse Bereitschaft, sich auf einen eher essentialistisch ausgerichteten Gesichtspunkt einzulassen, schlichtweg voraussetzen, um dann die Erfahrungen, die im Verfolg der seelischen Beobachtung gemacht werden können, entsprechend zu würdigen. Zudem müssen die empirischen Befunde im eigenen Denken selbst hervorgebracht werden, an denen dann die Erfahrung ihrer essentiellen Validität gemacht werden kann. Rudolf Steiner selbst formuliert in seiner Autobiographie “Mein Lebensgang” in gewisser Weise als Eingeständnis, dass es ihm nicht gelungen sei, einen wissenschaftlich gesicherten Weg in die geistige Welt zu begründen: “Aber ich habe auch heute noch das Gefühl, dass, wenn nicht die hier geschilderten Hemmnisse vorhanden gewesen wären, auch mein Versuch, durch das naturwissenschaftliche Denken hindurch zur Geist-Welt zu führen, ein aussichtsvoller hätte werden können.” (Steiner, 1925, S. 283) Das bedeutet, dass Steiner den in seinen Grundschriften ursprünglich verfolgten Ansatz nicht zu dem Zielpunkt hat führen können, wie er es gewünscht hatte. Nachvollziehbar wird diese Einschätzung, wenn man die Differenz der Veröffentlichungen Rudolf Steiners vor und nach der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert betrachtet. Die eher theosophisch geprägten Veröffentlichungen, insbesondere die später publizierten Vortragszyklen, erheben weniger einen wissenschaftlichen Anspruch als sein philosophisches Frühwerk.“ (3)

Crowley und die Relativitätstheorie

Die Ambiguität des Crowleyschen Magie- Verständnis hat etwas sehr Modernes- etwas so sehr aus dem 20. Jahrhundert Gegriffenes, dass es Crowley auch tatsächlich ins Gespräch mit unzähligen Personen aus Kultur, Politik und Wissenschaft brachte. Ebenso erlaubte es Crowley, sich stets neu zu erfinden und tatsächlich auch neu zu verorten. Nach den Jahren in Paris, von wo er als unerwünschte Person verbannt, und der ziemlich desolaten Zeit in seiner Kommune in Cefalu, von wo er von der Mussolini- Regierung vertrieben wurde, zog er über die USA und England ins äußerst lebendige Berlin von 1929, kurz vor dem Absturz in die nationalsozialistische Ära. Crowley trat diesmal als expressionistischer Maler auf, ein wenig aus der Zeit gefallen, und ein wenig unbeholfen, vielleicht, aber nicht ohne Aufmerksamkeit zu erregen und mit der Möglichkeit, sich mit Mitte Fünfzig unters junge Volk, ins Leben und in eine schier unaufhörliche Reihe von sexuellen Kontakten zu stürzen. Aber nicht nur: „The Berlin of the Weimar Republic was the sex capital of Europe, also for Aleister Crowley. But his ambition went beyond that: in line with his philosophy, the magus was interested in psychoanalysis, quantum physics, and the latest developments in the still young medium of film.“- so schreibt Tobias Churton in The Best in Berlin (4). 

Crowley war nebeibei noch in seiner Funktion als Spion für den MI6 unterwegs, und spähte nebenbei offenbar Rechte wie Linke aus- sein Führungsoffizier war ein Colonel Carter (5). Churton liegen Tagebücher Crowleys vor, die er ausgiebig zitiert, und die Crowleys Obsessionen ausreichend dokumentieren. Abgesehen von Magie, Sex, Malerei und der ekstatischen, aber auch unglücklichen Beziehung mit einer jungen Frau ging Crowley seinen Förderer- und Freundeskreis auch permanent um Geld an, das er, falls es einmal floss, auch schnell in Bordellen, Kneipen, Clubs, Luxushotels und Restaurants versickern ließ. Crowley war kein Mann für einen Bausparvertrag. Einige Eindrücke aus dieser Zeit kann man aus den Bildern, Fotos und Reflexionen Strangeflowers (6) gewinnen: „Crowley was far too engrossed in his own work and day-to-day concerns to take much note of the ever-worsening political climate in the city. At the time Berlin was nearing the end-point of an ongoing battle between opposing forces whose outcome was effectively sealed as far back as January 1919. That’s when left-wing activists Rosa Luxemburg and Karl Liebknecht were interrogated at the Eden Hotel by a far-right regiment; the pair were assassinated nearby and their bodies dumped (the square which now occupies the site of the long-gone hotel is named for another slain politician, Olof Palme). Christmas Eve 1931 found Crowley at the Eden, ill and impoverished, pleading with fellow occultist Gerald Yorke to chase down money.“ (6) 

So war also dieser talentierteste und attraktivste aller Okkultisten, der auf der Suche nach den verborgenen Meistern der Golden Dawn Zeit so viel Zeit vergeudet hatte, bis er überzeugt war, selbst einer dieser Meister zu sein, der in Indien Yogi gewesen und der Kopf der ersten Kommune in Sizilien, der sexuell besessen und finanziell bankrott war, ein Nerv tötender und gleichzeitig charmanter und hoch intelligenter Gesprächspartner, nach schweren Zeiten, bedingt durch Armut, Drogenabhängigkeit und erzwungene Abwesenheit seiner Familie, in Berlin aufgetaucht, um sich neu mit den „Energien des Planeten zu verbinden“: „..how can we describe the tough, portly, pipe-smoking fifty-five-year-old Crowley in the spring of 1930? Well, he was up for it. He was up for Berlin; he needed a new HQ, new contacts, new life; he needed to be at the center of contemporary life, plugged in to the vital energies of the planet.“ (7) 

Crowley war nicht nur zwiespältig, nicht nur vielfältig, er konnte tatsächlich immer wieder so etwas wie eine neue Biografie beginnen. Aber, neben all den treibenden Kräften, beseelte Crowley auch der spirituelle Ehrgeiz. Er war auch in Berlin, um, nach dem dramatischen Ausscheiden Krishnamurtis aus der Theosophischen Gesellschaft (als angebliche Wiedergeburt Christi), diesen nicht nur für die magische Sache Crowleys ein-, sondern auch die Führung der gesamten Theosophischen Gesellschaft zu übernehmen. (8) In dieser Hinsicht unternahm er einige Versuche, wobei er sich in theosophischen Kreisen aufhielt, die oft auch Kontakt mit Rudolf Steiner gehabt hatten. Dies betraf auch die Freimaurer- Kreise, mit denen Steiner aufgrund seiner immer wieder aufflammenden Leidenschaft zu „erkenntniskultischen Handlungen“ eine Neigung hatte. 

Aber Crowley war ein intellektueller, ja explizit materialistischer Okkultist. Das machte ihn zum interessanten Gesprächspartner für die wichtigsten Forscher und Intellektuellen seiner Zeit, wozu Aldous Huxley und Albert Einstein gehörten. Die Ambiguität der Magie Crowleys erwies sich als vollständig kompatibel zur Wissenschaft seiner Zeit, wie die Diskussionen in Berlin belegten: „Crowley had fully grasped the ambiguity of the mind-matter distinction, along with Schrödinger and Max Planck. That is, while the mind could be seen as a manifestation of the brain, the brain could equally be seen as a manifestation of mind: a notable conclusion of the Hermetic philosophy of late antiquity.“ (9) So wie das Denken das Gehirn prägte, so wurde es auch selbst durch die Physis des biologischen Seins geprägt. Magie war nur ein Sonderfall, der das Newtonsche Weltbild sprengte, weil sie in alle Richtungen wirkte, im Sinne einer Erweiterung der Sinne, des Denkens, aber auch der physischen Existenz schlechthin. Magie war in diesem Sinne einer Fortsetzung der Wissenschaft, kein Gegenpol. Wäre Einstein weit genug gegangen (und hätte sich nicht nur als Neuinterpretation des Newtonschen Weltbilds verstanden), wäre er wohl Magier geworden: „Crowley believed that every statement exhibited the limitations of its maker’s consciousness. Magick meant for him the acquisition of new intelligence and expanding levels of perception. His quiet analytical criticism of Einstein was simply that it was not quite the mystical breakthrough Sullivan imagined but a refinement of, or reaction to, Newtonian science.“ (10) So meinte Crowley auch, dass die neuen physikalischen Erkenntnisse, vom atomaren Kern bis hin zu Raum- Zeit- Relativität und kosmischen und stellaren Dimensionen, nichts anderes seien als früheres Initiaten- Wissen, nun wissenschaftlich gefasst und formuliert (11).


Macht und Erkenntnis

In diesem Sinne - und mit seinem mathematischen Wissen, seinem Charme und seiner enormen Intelligenz, aber auch mit einer erheblichen Portion Rätselhaftigkeit und Skrupellosigkeit gesegnet, lernte Crowley in seinen rund drei Jahren in Berlin unentwegt Menschen aus Wissenschaft und Kultur kennen- darunter Galeristen, sowjetische Spione, Philosophen, Forscher, Atom- Wissenschaftler, Künstler und Agenten. Zwischen Geliebten, Prostituierten, Kundinnen, deren Porträts er malte, Schriftstellern wie Isherwood (12), mit denen er durch Gay Berlin zog, widmete er mehr und mehr Zeit dem relativ jungen Genre des anspruchsvollen Films. Auch in dieser Hinsicht lernte Crowley kommende Stars wie Billy Wilder kennen, träumte von einem eigenen großen Film, mischte mit seiner Expertise ein wenig in Nosferatu- Inszenierungen mit. Kurz, Crowley, der sogar endlich eine eigene Ausstellung mit seinen meist gerade fertig gestellten expressionistischen Arbeiten geniessen durfte, war ganz und gar Teil dieser einmaligen Freigeister- Kultur kurz vor der Implosion, während die Nazis schon randalierten und vom Pöbel an die Macht gebracht wurden. Er wurde 1932 von seinem britischen Agentenführer gewarnt, keine weiteren Berichte und Briefe mehr zu schicken, da er, Crowley, überwacht werde. Tatsächlich galt Crowleys Bekanntschaft nach 1933 als hinreichender Grund, verhaftet und in ein Konzentrationslager verbracht zu werden, wie sich zeigen sollte- Crowley war für die Nazis ein Ur- Freimaurer. 

Noch einmal hoffte Crowley, die Theosophische Gesellschaft unter seine Fuchtel zu bekommen, um sich als Helena Blavatsky legitimer Nachfolger zu etablieren, und schrieb: „I hear that Annie Besant is in senile dementia, and moribund. She may die any day now. It is most urgent that I should be instantly and widely proclaimed as HP.B.[Blavatsky]’s legitimate successor. As to my reputation, I’m the Silent Martyr. Jesuit calumny is the shining token of my Mission.“ Vergeblich. Die Anrufung seines Schutzengels Aiwass und die anhaltende Praxis seines Sex Magick brachte ebenso wenig ein wie all die Bekanntschaften und kurz anhaltenden Erfolge. Selbst die Bilder, die er gemalt hatte, für die er voneinigen Kritikern mit den großen Künstlern seiner Zeit auf eine Stufe gestellt wurde, gingen fast ausnahmslos verloren. Im Vergleich zu ähnlichen spirituellen Größen seiner Zeit wie Steiner, Besant oder Krishnamurti wirkte Crowley (13), was vielleicht das denkbar Schlimmste für ihn war, regelrecht gut bürgerlich. Nun, im Sommer 1932, war es höchste Zeit, den Zug zu besteigen und aus Berlin zu verschwinden: „On Monday 20 June the Beast left Berlin. He took the train to Köln, arriving at 7:03 p.m. He rang up Walker, who said: “Come out right now.” Crowley did.“ (14)

Und er wusste genau, wer da zur Macht drängte. Kaum jemand hat den Hitler- Kult so klar und eindeutig beschrieben wie Crowley. Er sah auch die Unausweichlichkeit des kommenden großen Krieges. Von den Esoterikern, Magiern und Okkultisten unterschied sich Crowley darin, dass er Realistisch, Materialist und ganz sicherlich kein Rassist war; er lehnte natürlich die „Wurzelrassen- Arier- Theorien“ vollständig ab: „And one last point: Crowley did not believe in Theosophical root races or theories of master races; he took individuals as he found them and recommended each master himself, whatever their “nationality.” Putting faith in some theory about old “Aryans” was no way forward. There never was an Aryan race; it was a Sanskrit word for “high born,” aristocrats.“ (15) Diese Sicherheit seines Urteils trotz der anhaltenden Verhaftung in magische Theorie und Praxis ist eben Resultat seiner Ambiguität: Crowley war Skeptiker durch und durch, auch gegenüber seinen eigenen Mitteln und Positionen. Er war sich seiner eigenen Doppelbödigkeit bewusst, auch wenn er immer wieder von ihr getrieben wurde und zwischenzeitlich annahm, die russische Revolution retten zu können und der bedeutendste Maler, aber auch Psychologe seiner Zeit zu sein. Crowley war narzisstisch, aber auch offen und frei genug, um in der Folge mit Psychoanalytikern, Kommunisten und Quantenphysikern über die Natur des Geistes zu diskutieren. Er widerstand dem Geist seiner Zeit nicht, sondern saugte ihn regelrecht auf; die Weltstädte wie London, Paris und Berlin waren ebenso wie seine Weltreisen, aber auch der Rückzug in Kommunen und Wüsten Mittel seiner Partizipation an seiner Zeit. 


Die okkulte Gefangenschaft und die Befangenheit gegenüber den Meistern

Diese Ambiguität gegenüber dem eigenen Urteil, den Meistern und anderen Mächten, kann man bei Rudolf Steiner nicht erkennen. Die für ihn ebenso wie für Crowley maßgebliche Helena Blavatsky ist in Steiners Sicht mit ihrer Wendung ins Fernöstliche von unsichtbaren Meistern in okkulte Gefangenschaft genommen worden- im Sinne einer Art umgedrehten Doppelagentin der geistigen Welt: „Derjenige, der an die Stelle des Meisters Koot Hoomi getreten ist, steht als Betrüger da, indem er eine einseitige Weltanschauung verpflanzt hat in die Blavatsky. Es war möglich, daß man nicht einsah, daß hinter ihr ein grauer Magier stand, der im Solde war einer eng begrenzten menschlichen Gesellschaft und eine bestimmte menschliche Weltanschauung propagieren wollte.“ (16) Nein, man sah es nicht ein. Aber Steiner schaute die Intrigen in der geistigen Welt. Wie sollte er Ambiguität - d.h. auch Distanz zu sich selbst und dem eigenen Bewusstsein, der eigenen Positionierung- entwickeln, wenn sich ihm die Geister, die Meister, die taumelnden und fallenden Engel hinter den Kulissen zu erkennen gaben? Auch sich selbst gegenüber ist das schwierig, auch wenn Steiner behauptete, Erkenntnistheorie seit frühen Jahren betrieben zu haben. Er glaubte, die „neue Weltanschauung“ (17), die er zu begründen gedachte, im wissenschaftlichen Sinne „erkenntnistheoretisch rechtfertigen“ (17) zu können, um in der Folge und aus „dem naturwissenschaftlich Sicheren“ heraus die Brücke zu „subjektiven Schauungen“ (17) einer geistigen Welt zu schlagen. Leider wollten Wissenschaftler von diesen Geist- Erkenntnissen nichts wissen. Stattdessen fand sich „im Herbst 1900“ ein „zwar nicht wissenschaftlicher, aber an realer Geist- Erkenntnis tief interessierter Kreis“ (18), ebenfalls in Berlin, der Steiner anhören wollte- Theosophen, die sich auf Helena Blavatsky beriefen. Aus Steiners Sicht wurde er damit auf eine Bahn gezogen, die es ihm ermöglichte, „Geistesschüler auf die Bahn der Entwicklung zu bringen“ (19). Dieses 1902 eher privat gehaltene Ziel erweiterte er später - in „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten“- um das generalisierte „In jedem Menschen schlummern Fähigkeiten..“ Und schließlich bis zum (in einem Brief geäußerten) „Theosophie ist unserem Zeitalter notwendig..“ (20). Die von Blavatsky aufgesaugte Wurzelrassen- Theorie wurde ab 1905 dominanter bei Steiner, da das Ziel in der 5. nachatlantischen Kulturepoche von ihm darin gesehen wurde, hoch entwickelte Individualitäten heraus zu bilden, „dass sie nunmehr von der sechsten Wurzelrasse ab Führer der Menschheit werden können. Namentlich der Hauptführer der sechsten Wurzelrasse wird ein Mensch sein, wie wir sind, nur eben einer der vorgeschrittensten- der Vorgeschrittene geradezu der Menschen..“ (21), der allerdings immer schon „Mensch unter Menschen“ gewesen sei. 

Von diesem Meister der Menschheit sprach Steiner über mehrere Jahre hinweg immer wieder, begann aber erst 1907 mit der Nennung der Meister, die speziell für die Entwicklung der theosophischen Bewegung zuständig und schon zu Zeiten der seligen Blavatsky tätig gewesen wären- allerdings, wie erwähnt, nicht immer in Steiners Sinne. Die Meister des Ostens waren nicht nett zu Madame, und tricksten die Meister des Westens (Jesus und Christian Rosenkreuz) aus. Die guten Meister, Rudolf Steiner und die Theosophen arbeiteten aber daran, die Menschheit vorzubereiten „auf die große Wahrheit. Die Theosophie arbeitet auf einen gewissen Zeitpunkt hin. Ein Kern soll gebildet werden, der diese Wahrheit versteht, wenn sie einst unverhüllt hervortritt- ein Kern, der sie richtig erfasst und nicht zum Fluche, sondern zum Segen der Menschheit verwendet“ (22) Der exklusive, wenngleich „kosmopolitische internationale“ (22) Rahmen dieser Kern- Menschen werde in der Theosophischen Gesellschaft gebildet und ähnele der früheren Entwicklung von Rassen und ihrer Führung durch den Manu in „geeignete menschenleere Landschaften“ (22). Offenbar ist der Name des heutigen Manu, der seinen Kern von Wahrheitssuchern in die nächste Kulturepoche anführen soll, Rudolf Steiner. 

Aber was heißt schon Suche? Hinter den Erscheinungen warten die Meister ja nur darauf, geeignete Kandidaten - also Anthroposophen- mit ihren inspirierenden, intuitiven Einflüsterungen zu beglücken. Selbst der Umgang mit theosophischem Geistesgut selbst war Steiner von den Meistern eingeimpft worden: „..wenn der Meister mich nicht zu überzeugen gewusst hätte, dass trotz alledem (der Unreife der Zeit für die hohen Wahrheiten des Okkultismus) die Theosophie unserem Zeitalter notwendig ist: ich hätte auch nach 1901 nur philosophische Bücher geschrieben und literarisch und philosophisch gesprochen.“ (23) Allerdings würden die Meister sehr wohl die Freiheit des Einzelnen respektieren und eigentlich auch nur als „Anreger auf geistigen Gebieten“ (24) wirken. Das allerdings würden sie „von Epoche zu Epoche, von Zeitalter zu Zeitalter“ (25) praktizieren, um der menschlichen Entwicklung „Impulse“ zu geben. Auch Rudolf Steiners Esoterische Schule, in der er bis 1914 den engeren Schülerkreis um sich herum unterrichtete, stand nach seiner Darstellung unter der unmittelbaren Leitung dieser Meister. Erinnerungen von Teilnehmern zeigen auch, wie Steiner, entrückt, ja nur „wie ein Gehäuse“ wirkend, in ihren Kreis trat, und diese Stunden begannen mit der Aussage „Es sprechen aus mir die Meister der Weisheit und des Zusammenklanges der Empfindungen“ (26) Eingeweihte und Boten traten in die Rolle von Vermittlern, die „seit den letzten dreißig Jahren diese Botschaft wiederum empfangen von den höheren Wesenheiten, die bereits über die Entwicklung des Menschen hinausgestiegen sind, von den Meistern der Weisheit und des Zusammenklanges der Empfindungen..“ (27) Die Bemächtigung des Bewusstseins Helena Blavatskys habe allerdings zu einer Art östlich orientierter Impfung der theosophischen Lehren geführt, denen Steiner seine westliche, christliche Version habe entgegen setzen müssen. 


Sprachrohre der Meister und Betrüger

Steiner verschwieg dabei die wirklichen Skandale, die Blavatsky heimgesucht hatten: So etwa das Auffliegen gefälschter „Meisterbriefe“ in eigens konstruierten Schränken, in denen die angeblichen Intentionen der „Mahatmas“ dargelegt wurden. Diese Betrügereien hatten 1894 erst die Rückkehr der hellsichtigen Madame nach Europa bewirkt. Das Treiben mit okkulten Briefen nahm jedoch kein Ende und war 1907, als Rudolf Steiner sich noch stärker mit dem destruktiven Verein verband, gerichtsnotorisch. Der prominente Theosoph und Schriftsteller Leadbeater, der mit dem Krishnamurti-Kult zu tun hatte und ansonsten als Medium wirkte, aber auch als Pädophiler bekannt war, wurde dadurch (ebenfalls 1907) von Olcott, der sterbenskrank war, entlastet, dass dieser behauptete, Leadbeater stünde unter der Führung der Meister, die im übrigen angewiesen hätten, Annie Besant zu seinem, Olcotts, Nachfolger zu machen. Tatsächlich wurde Leadbeater durch diese angebliche Fürsprache der Mahatmas bald wieder theosophischer Würdenträger. Auch Besant gab sich von den Anweisungen dieser Führungsebene angetan und übernahm das Amt. Rudolf Steiner beließ es dabei, zu erwähnen, dass gewisse Personen diese Vorkommnisse für „Trugbilder“ hielten, blieb selbst aber vage. Bei Leadbeater kritisierte er lediglich dessen okkulte Methodik. Selbst 1912 sprach Steiner noch (in Helsingfors) davon, dass die Ursache für diese Irrtümer darin gelegen habe, dass England mit Indien in gewisser Weise verbunden gewesen sei, nämlich „karmisch im Weltenzusammenhang“ (28)- obwohl er genau wusste, was für ein „Tummelplatz für allerlei die hohe Sache entstellende Mächte“ die Theosophische Gesellschaft geworden sei. Sie war es, wenn man Blavatsky betrachtet, von Anfang an. Aber auch Rudolf Steiner sah in diesen weithin bekannten und breit diskutierten Skandalen keinerlei Anlass, für die sich von der Theosophischen Mutter- Gesellschaft emanzipierende anthroposophische Bewegung einen methodischen Bruch herbei zu führen: die Führerschaft durch die „Meister“ bleib zumindest in Bezug auf die zentrale ES bestätigt, jede selbstkritische Ambiguität oder geistige Autonomie blieb den geneigten Anthroposophen erspart. Freilich erweiterte Steiner als Sprachrohr der Meister seine Sujets und begab sich initiativ auch in pragmatisches Fahrwasser. Nach 1918, in den wenigen verbleibenden Jahren, wechselten die Meister und Mahatmas thematisch das Boot und wurden durch „Christus“ ersetzt. Die atavistische Linie der Offenbarung wurde 1923 durch die Selbst- Einsetzung Steiners als Vorstand sogar verstärkt. Der sakrale Charakter der Unternehmung wurde durch christologische, karmische Offenbarungen und intime Naturwesen- Betrachtungen vertieft. Aber zugleich wuchs auch die Fülle von praktischen, Öffentlichkeits- wirksamen pädagogischen, medizinischen, landwirtschafts- bezogenen Aktivitäten, die eindeutig bewiesen, dass es nicht nur eine esoterische Seite der ganzen Unternehmung gab, sondern zunehmend eine pragmatische, die überzeugte und in der Folge Steiners Ableben, die endlosen Erbschaftsstreitigkeiten und internen Zerwürfnisse überstand. Offensichtlich wird die anthroposophische Esoterik dann bedenklich, wenn sie sich nur mit sich selbst beschäftigt- die Fähigkeit zum Dialog und zur Auseinandersetzung mit Realität und Öffentlichkeit vorausgesetzt, gedeiht sie dagegen in ihren pragmatischen Tochter- Gesellschaften. 


Die Doppelköpfigkeit der Moderne und ihre anthroposophische Entsprechung

Das gilt im Großen wie im Kleinen; auch das zeitgenössische rationale Kollektiv- Bewusstsein, das sich im Westen auf das Christentum beruft, hat nach Wouter J. Hanegraaff eine dunkle, heidnische Seite; in Bezug auf das kollektive Wir ist die dunkle Leinwand der Esoteriker erst der Hintergrund, vor dem sich das Rationale schön in Szene setzen möchte: „As the outcome of these developments, Western esotericism still functions in the academic imagination as the structural “other” of our collective modern identity, with its Christian roots and its commitment to rationality and science. It is like a dark canvas that allows us to draw the contours of our own identity in shining colors of light and truth.“ (29) In diesem Sinne hat auch die Anthroposophie selbst, schon angelegt von Rudolf Steiner selbst, diese pragmatisch- rationale Seite, die extrovertiert im gesellschaftlichen Dialog steht, die sich mit Denken und Bewusstsein auseinandersetzt und sich dem wissenschaftlichen Diskurs stellt einerseits - und die Seite der Einflüsterungen durch Meister, des Rückfalls in Verschwörungs- Theorien und Schuldzuweisungen, der wilden, anarchischen Spekulation und Fort- Fabulierung populistischer Erzähl- Muster andererseits. Analog dazu, wie Hanegraaff vom „Untergrund des Abendlands“ (29) spricht, kennt auch die anthroposophische Bewegung nur allzu gut ihren eigenen Abgrund, in den sie wiederholt geblickt hat, zunehmend desorientiert, mit einer desolaten „Hochschule“, einer erschöpften Abwehrhaltung gegenüber Kritik und wissenschaftlicher Interpretation, sich in einer trotzigen Reaktion an Parolen der magischen Traditionalisten hängend (30). Andererseits ist zu bedenken, dass schon Steiner selbst vom notwendigen Zusammengehen von Aristotelikern und Platonikern innerhalb der Bewegung gesprochen hat- die Idealisten müssen mit den Pragmatikern ein Bündnis eingehen. Dass auch in der pragmatisch- dialogischen Aktivität der anthroposophischen Peripherie stets ein Zipfel der internen Erlösungs- und Erleuchtungs- Thematik mitschwingt, wird durch Hanegraaffs allgemeine Analyse impliziert: „Christianity did not simply triumph over paganism during the first centuries of the Common Era; on the contrary, ever since Platonism was accepted into Christian theology by a range of early church fathers, theologians and philosophers had to deal with a continuous presence of paganism inside Christianity, not as some kind of alien entity but as an integral part of its intellectual fabric.“ (29) Der innere Kern der Hardcore- Anthroposophen dagegen kreist ausschließlich um sich selbst, streitet auch mit seinesgleichen und umgeht jegliche echte Diskussion. Eine widerständige penetrante Verachtung der umgebenden Gegenwarts- Kultur ist in diesen Kreisen endemisch, ebenso wie der kollektive Narzissmus. Der Kern dieser Szene funktioniert wie eine Sekte. Das prägende Kollektiv hat seine eigenen Verlage, Zeitschriften und Email- Blättchen, die sich ihre AutorInnen aussuchen können und unbotmäßige Beiträge oft mit Verbannung ahnden. Aber das Kollektiv hat auch echte Arbeitsplätze zu vergeben, die sich meist rund um die großen Konzerne herum finden. Es gibt hier also auch echte Karrieren zu verteidigen. Aber dieser „Untergrund der Anthroposophie“ tobt sich natürlich am meisten in den sozialen Netzwerken aus, oft und gerne im Verbund mit rechten Kreisen, Astrologen, Homöopathen, Corona- Kritikern und anti- liberalen Kreisen. Die anthroposophische Blase mit ihren spezifischen „Friedensforschern“, Russland- Verstehern, Regierungs- Kritikern und YouTube- Predigern hat neben ihrem anti- rationalen, recht kleinen Kern heute ein erstaunlich großes Publikum, das sie mit dem Mix aus esoterischem Wortgeklingel, politischer Diffamierung und spekulativen Deutungen des Zeitgeschehens gewinnen kann. Im Kern stimmt die Botschaft mit den apokalyptischen Szenarien des Traditionalismus voll und ganz überein. An diesem Punkt trifft sie sich erstaunlicherweise mit den Erben Crowleys, der im Rahmen des italienischen Faschismus seine anti- traditionelle, rationale Magie weiter gegeben hatte an Aktivisten, die sich als Spiritualisten verstanden, aber ihren Beitrag vor allem in einer Zerstörung des Liberalismus sahen (30). Es ist sehr zu bezweifeln, dass sich Aleister Crowley als Hedonist, Konservativer und Liberaler in einem solchen ideologischen Ambiente jemals heimisch gefühlt hätte. 


_________________________Hinweise 


1 Richard Kaczynski, „Perdurabo, Revised and Expanded Edition: The Life of Aleister Crowley“, North Atlantic Books 2012 o.S.

2 Marco Pasi, „Varieties of Magical Experience: Aleister Crowley’s Views on Occult Practice“, in Magic, Ritual, and Witchcraft (Winter 2011), University of Pennsylvania Press https://www.academia.edu/1432705/Varieties_of_Magical_Experience_Aleister_Crowleys_Views_on_Occult_Practice

3 Jost Schieren, „Die Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie“, Rose, Volume 2 Number 2 pp. 99-108, December 2011 https://www.rosejourn.com/index.php/rose/article/viewFile/78/105

4 Tobias Churton, Aleister Crowley: The Beast in Berlin. Art, Sex and Magick in the Weimar Republic

5 „..to know what was really happening in Germany, intelligence he could convey to Lt. Col. John Fillis Carré Carter, head of England’s “Special Branch” or police interface with MI5. Crowley enjoyed a discreet arrangement with Carter, code-named “Nick,” the full extent of which is now lost to us; it was never intended to enter recorded history.“ In 4

6 https://strangeflowers.wordpress.com/2014/10/13/places-crowleys-berlin/

7 Churton, S. 13

8 „Crowley’s life record now picks up another theme involved in his decision to go to Berlin in 1930. Crowley believed the gods intended him to take control of Annie Besant’s worldwide Theosophical Society. He recognized that the long-standing attempt by the Esoteric Branch of Annie Besant’s dominant Theosophical Society to foist Indian boy (now adult) Jiddu Krishnamurti on the world as the avatar of the Christ Principle and World Teacher (through their Order of the Star) was crumbling, as Crowley had long predicted. The now thirty-four-year-old sage Krishnamurti was breaking with Liberal Catholic Church Bishop Leadbeater and Besant’s entire Theosophical leadership.“ Churton, S. 20

9 Churton, S. 169

10 Churton, S. 174

11 „What Einstein and Schrödinger and Planck and others were thinking was whether the former “above” was now comprehensible as Mind, and therefore intelligibility, in the universe, so that Man held an instant of a universal, dynamic consciousness. Crowley’s view was that the New Physicists were simply reviving the initiated magical view of the universe, reaching by mathematics what could be reached by yoga, just as psychology was reviving magical conceptions that could be reached by magical prayer.“ Churton S. 175

12 „Isherwood, as he himself confessed, was a “camera,” reflecting what he saw, an English New Objectivist. He would reflect in later years that perhaps the essence of Crowley’s enigma was that really, Crowley did not believe in anything at all, not even, perhaps, himself. This is what comes from being a camera. Isherwood could not envision that Crowley’s extreme skepticism was the door to his system.“ Churton, S. 315

13 „By contrast to people of similar reputation (like Rudolf Steiner, whose works look like an actor’s or the world famous Miss Annie Besant with her lion’s head and clergyman’s pathos, or her official “world savior” Krishnamurti: a child sentenced to a fine kitsch entertainment) Crowley seems almost sedately bourgeois.“ Churton, S. 274

14 Churton, S. 328

15 Churton, S. 341

16 R Steiner, GA 162.239

17 Hella Wiesberger, Rudolf Steiners esoterische Lehrtätigkeit, Dornach 1997, S. 29f

18 Wiesberger, S. 35

19 Steiner in einem Brief an Hübbe - Schleiden 1902, nach Wiesberger, S. 36

20 Wiesberger, S. 39f

21 Wiesberger, S. 74f

22 Rudolf Steiner bei der Generalversammlung der theosophischen Sektion der TS in Berlin 1903, nach Wiesberger, S. 94

23 Steiner in einem Brief an von Rivers, 9.1.1905, GA 262

24 Steiner in GA 53, 13.10.1904

25 Steiner in GA 117, 26.12.1909

26 Steiner in „Was in der Anthroposophischen Gesellschaft vorgeht“, Nr 35, 1.9.1974

27 Steiner in GA 109, 14.06.1909

28 Steiner in GA 158, 11.04.1912

29 Hanegraaff im Vorwort zu „Aleister Crowley and Western Esotericism,“ Edited and introduced by HENRIK BOGDAN AND MARTIN P. STARR Foreword by WOUTER J. HANEGRAAFF

30 https://egoistenblog.blogspot.com/2020/12/magischer-traditionalismus-und.html