Über die Einsamkeit. Zwischen Warhol, Crowley, Zen- Buddhismus und Rudolf Steiner

Pandemie

Mit schlechtem Gewissen denke ich daran, dass ich mich hierhin und dorthin nur lustlos geschlichen habe. Mit schlechtem Gewissen daran denken, dass ich dich und den und die nur ungern besucht oder empfangen habe. Dass ich Feste gehasst und zumindest gemieden habe. Dass ich gelästert habe über Leute, die hier und da und dann und wann unbedingt feiern mussten. Vorbei.

Daran denken, wie lästig manche Rituale und jährlichen Feste gewesen sind, mit diesen Leuten in diesem Dorf unter dem Baum, zum Beispiel. Oder dieser Geburtstag, der immer so und so ausfiel, mit Leuten, die ich sonst das ganze Jahr nicht sah, und sie mich auch nicht. Immer diese Gesichter. Immer diese Gespräche. Selbst die Statusfragen, das Gebalze, die Erfolgs- Notizen: alles vorbei. Was man alles vermisst. 

Meine Tage sind wie deine Tage. Gerade schauen wir in den Schnee. Wir haben selten so ausführlich und andauernd gekocht. Was ich alles vermisse. Den Duft der Restaurants, das Zwielicht und das verheißungsvolle Zischen der Töpfe, das Klappern des Bestecks, das Erhaschen von Bruchstücken der Gespräche an den Tischen im Umkreis. Manchmal entstanden in der Vorstellung Biografien, Beziehungen, Familien- Geschichten. Manches vielleicht nur Fantasie. Manches vielleicht nur entstanden aus unserem kollektiven Hang zu Geschichten, Zusammenhängen, Legenden, Archetypen.  

Und die stereotypen Wege durch die Stadt. Natürlich kann ich sie immer noch gehen, aber wozu? Die Straßen sind verwaist, die Geschäfte geschlossen, es weht ein gespenstischer Wind, und du kannst nirgends einkehren. Es ging nicht um das Gehen, nicht um das Ritual, sondern um die Pausen dazwischen. Die Pause vor der Heinrich- Heine- Buchhandlung, zum Beispiel, oder ein kleiner Einkauf im Gewürzlädchen in der Altstadt, eine Runde um den Apple- Laden, zu den schwarzen Schwänen am Weiher, und danach an den schönen Schuh- Geschäften ins Schaufenster schauen. Der Weg durch die Menge, manchmal ein richtiger Strom, vor allem am späten Freitag. Die bekannte Konditorei, um für dich oder kommende Besucher etwas Süßes zu besorgen. Beim Metzger in die Schlange einreihen, und einen Blick werfen ins Angebot des Fotografen. Weißt du noch, als die Kinder klein waren, gingen wir hier hoch, um die Windel zu wechseln und etwas im Bio- Laden zu kaufen. Nein, der war oben. Direkt neben dem Geld- Automaten. Weißt du nicht mehr? 

Was wird überleben? Ich glaube, der Asiate ist schon weg. Manche Gaststätten sollen einfach aufgegeben worden sein, ohne Kündigung und Räumung. Kannst du dir das vorstellen? Die Mieten sind ein Wahnsinn, vor allem hier in der City. Nein, wir gehen heute nirgendwo hin. Ich starre aus dem Fenster, ins Schneetreiben. Selbst Schnee fühlt sich anders an, wenn Pandemie ist. Manchmal lädt er ein, jetzt baut er Hürden auf.    


Die einsame Stadt

Überleben wird dieses Gefühl der Einsamkeit. Ein Jahr lang diese Orte, diese Freunde kaum oder gar nicht besucht, die Familie wenig gesehen, die fernen Verwandten, die Veranstaltungen, die Konzerte, die schwitzigen, irren Rock´n´ Roll- Events, in denen einem wildfremde Leute, betrunken tanzend, unversehens in die Arme fielen, die man wieder aufstellt, damit sie weiter machten, als wäre nichts geschehen. In diesem Augenblick vermisse ich sogar die Augenblicke in der überfüllten Bahn von der Stadt nach Hause, in der eine Masse von Körpern, die mit dem Waggon im Takt der Schienen schwankte, versuchte, von der Nähe der Anderen nicht indigniert zu sein. Ich vermisse die Abende in der Altstadt, an denen man gerade noch einen Tisch erwischt hatte, unter dem die Tauben ohne Pause zu picken versuchten, auf denen die Getränke und die Sauce des chinesischen Essens schwappte, an dem sich eine nicht enden wollende Menge von Menschen in allen Stadien der individualisierten Bekleidung, Behaarung und Tätowierung vorbei schob und einen anstarrte, auf den Teller schaute. 

Natürlich ist das Unglück steigerungsfähig. Es ist nur eine Pandemie, kein Krieg. Es ist keine finale Erkrankung, und auch keine, die uns - wie in Oliver Sacks Buch (1) über die Europäische Schlafkrankheit nach 1916 und ihre Folgen geschildert- in einen Locked-In- Zustand befördert, in dem wir Jahre - oder Jahrzehnte lang nach der Infektion nur gelähmt starren können, ohne ein Glied zu rühren. Es geht immer schlimmer.  

Nehmen wir zum Beispiel Olivia Laing, die in The Lonely City: Adventures in the Art of Being Alone (2) schildert, wie sie in der Erwartung von Großbritannien nach New York zieht, zu heiraten und eine erste gemeinsame Wohnung zu beziehen; sie, die hinter sich die Brücken abgerissen, die eigene Wohnung aufgegeben und ihre Habseligkeiten weg gegeben hat. Aber noch bevor sie ankommt, wird klar, dass ihr Partner die Hochzeit, ja die Beziehung aufgibt und fort ist. Die Erzählerin findet sich allein in der Wohnung wieder, in einer Stadt, die sie nicht kennt und in der sie keinen einzigen Bekannten hat. Zudem stürzen nun, in der Krise, Identitätsfragen auf sie ein: Wie queer ist sie? Musste nicht alles schief gehen bei einer wie ihr, die von einem lesbischen Paar groß gezogen worden ist, die manchmal wünschte, ein Junge zu sein, ein schwuler Mann, um genau zu sein? Wie tief ist die Einsamkeit, wenn die Identität zwischen den Finger davon rinnt- oder zumindest erschüttert ist? 

Laing kostet die Einsamkeit aus bis zur Neige, benutzt sie aber auch, um sich in Archiven, Ausstellungen, bei Sammlern und in Museen auf die Suche zu machen nach anderen Künstlern, die diese Stadt und die queere Identität umgetrieben hat: Warhol als der vielleicht Prominenteste voran. Aber parallel zu den biografischen Notizen und Recherchen vermisst Laing auch stets die eigene Einsamkeit, die ihr wie eine voran schreitende Krankheit erscheint: “What does it feel like to be lonely? It feels like being hungry: like being hungry when everyone around you is readying for a feast. It feels shameful and alarming, and over time these feelings radiate outwards, making the lonely person increasingly isolated, increasingly estranged. It hurts, in the way that feelings do, and it also has physical consequences that take place invisibly, inside the closed compartments of the body. It advances, is what I’m trying to say, cold as ice and clear as glass, enclosing and engulfing.” (3)


Einsamkeit, Stigmatisierung und Tod

Die Einsamkeit gräbt sich in die Züge, die Gestalt und die Bewegungen ein, ein andauernder Hunger: Eine Verfremdung der Person, als gefriere sie allmählich. Und tatsächlich wird man sich nur mit Mühe bewusst, wie viel davon abhängt: von diesem grundlegenden Bedürfnis, gesehen, angenommen, im besten Fall vom Geliebten angeblickt zu werden: “Almost as soon as I arrived, I was aware of a gathering anxiety around the question of visibility. I wanted to be seen, taken in and accepted, the way one is by a lover’s approving gaze.” (3) Ich erinnere mich an die Betrachtungen von Jonathan Cole (1998) über das Gesicht (4); eigentlich über den Verlust des Gesichts, etwa im Zusammenhang mit einem Schlaganfall- und über die sozialen Konsequenzen, wenn das Gesicht nicht mehr mimisch spricht: Wie sehr wir abhängig sind von einem andauernden sozialen Feedback, und welche verheerenden Auswirkungen das anhaltende mimische Schweigen für die/den Einzelne(n) hat. Das Resultat des ausbleibenden Feedbacks reicht von Irritation bis zur völligen Entfremdung: Die Nicht- Reaktion wird fast immer als Ablehnung gedeutet. 

Ähnlich, ganz offenbar, die sozialen Reaktionen auf die Einsamkeit. Laing hat die Erfahrung gemacht, dass weder bemühte Empathie der Anderen (sofern jemand diese Mühe aufzubringen bereit sein sollte) noch das eigene Ausdrucksvermögen hinreichen, die Einsamkeit als solche zu beschreiben oder nur sprachlich zu umreissen: “‘Loneliness, in its quintessential form, is of a nature that is incommunicable by the one who suffers it. Nor, unlike other non-communicable emotional experiences, can it be shared via empathy.” (3), wodurch sie zu einem Tabu wird, einem mit Scham besetzten intimen, unteilbaren Aspekt des Ich- ein Tabu, das sich selbst verstärkt in einem Teufelskreis der Isolation. 

Die einsame Person zieht negative Reaktionen geradezu an.


Es ist aber auch möglich, dass aus der Masse der Einsamen immer wieder Individualisten in einer Übersprungs- Handlung gerade aus ihrer Isolation den Anlauf, die Energie gewinnen, kreative künstlerische Leistungen zu vollbringen. Eigentlich umkreist Laing genau diese Persönlichkeiten, darunter auch Klaus Nomi, der Anfang der 80er, Ende der 70er trotz seines queeren und sehr deutschen Auftretens ein Star gewesen ist, dann aber aufgrund seiner AIDS Erkrankung geradezu geächtet verstarb: “The story of Nomi’s short life haunted me. To resist loneliness, to make a joyous art of difference, and then to die in such profoundly isolating circumstances seemed brutally unfair, though it would soon be a common experience in the world he had inhabited. What did it mean to have AIDS at that time, when diagnosis was an almost certain death sentence? It meant being perceived as a monster, an object of terror even to medical personnel.” (6) Eine einsame Persönlichkeit wie Nomi, die sich aufgelehnt hat gegen das scheinbar prädestinierte Schicksal, wurde wie in einem bösen, sarkastischen Märchen von dieser Krankheit nicht nur eingeholt, sondern determiniert: AIDS stellte zu dieser Zeit das ultimative gesellschaftliche Stigma dar: “To make matters worse, the act of being closeted, of needing to conceal a stigmatized identity, is also stressful and isolating, and is likewise associated with a lower T cell count and consequently a greater susceptibility to AIDS-related infections. In short, being stigmatised is not just lonely, or humiliating, or shameful; it also kills.” (6)


Die Liebenden und die Dämonen

Im Verbund mit einer solchen Krankheit, die zusätzliche Stigmata über eine bestehende Einsamkeit verhängt, kann die Gesundheit sich final auflösen, Persönlichkeits- Strukturen können sich verhärten, die Isolation kann einen verheerend toxischen Charakter annehmen. Die Schicksale am Rande der Gesellschaft, mitten in der City, manchmal auch mitten im Ruhm, auf der Höhe extremer Lebenslust, oder auch in einem Wahn gefangen, lotet Laing aus. Die Extreme ähneln in manchen Aspekten den Bedingungen einer Pandemie mit ihren kollektiven sozialen Beschränkungen, die ein Sinnbild der Einsamkeit nicht nur darstellen, sondern tatsächlich die soziale Isolation begünstigen. Kinder wachsen ohne einen Teil der Eltern auf, ohne andere Kinder, Sterbende müssen ohne Angehörige ihre letzten Tage verbringen, Liebende sind durch Ländergrenzen getrennt. Eine gesellschaftlich verhängte Entwurzelung für Viele- eine bislang nur für Kriegszeiten vorstellbare Zumutung. Das Besondere aber ist, dass die Zuspitzung jeden Augenblick möglich ist: Plötzlich wird das Betreten eines Aufzugs zur fragwürdigen Angelegenheit, die spontane Gebärde eines Kindes erscheint gefährlich, der Handschlag wird selbst den engsten Freunden gegenüber unmöglich. 

Aber natürlich kann die Existenz- Frage, das Anklopfen an der existentiellen Pforte der Einsamkeit, ja des Person- Seins, auch in eine ganz andere Richtung gehen. Hier betreten wir den Boden des Magischen, gern und ausführlich, weil er gut ausgeleuchtet, beschrieben und erforscht ist, vom Großmeister 666, dem Biest selbst, Aleister Crowley. In einem Sammelband (7) betrachten aktuelle Western- Esoterik- Forscher seine Person und sein Wirken. Wir greifen eine Betrachtung heraus, in der es um die magische Praxis Crowleys geht, um sein Spiel mit Homosexualität, sexuellen Rollen, aber auch religiöser Herkunft, Identität, und der Rebellion dagegen. Owen versucht aufzuzeigen, wie viel von Crowleys Dämonologie aus dem Kontext der Zeit abzuleiten ist- etwa aus der gebrochenen Identität in der Folge von Psychoanalyse, aber auch umlaufenden Bestsellern wie Robert Louis Stevensons “Dr. Jekyll and Mr. Hyde” (8) aus dem Jahr 1886. Letzteres beschreibt ein geteiltes Selbst, wobei ein unbescholtener Arzt durch Einnahme einer Droge Zugang erhält zu einem zweiten, ihm moralisch unterlegenen Selbst, das die dunklen Neigungen ungehemmt auslebt- eine Art Faust- Pakt verbindet die zwei Seiten, wobei der Aspekt des hellen, bewussten, integren Selbst zunehmend schwächer wird und sogar stirbt.     


Der Meister und die Macht

Diese unbewusste Seite des Selbst, die Schattenseite der gebrochenen Identität, wird vom Magier in der Nachfolge Crowleys emanzipiert, und zwar schon zu Zeiten der ursprünglichen rituellen Variante, dem “Golden Dawn”:

The founding of the Order of the Golden Dawn coincided with and, I would argue, directly addressed these contemporary concerns... the occult revival centrally involved practices such as astral travel, or that advanced magical practice taught adepts how to develop a second magical self that could conduct lengthy forays into worlds that were conceived as simultaneously inner and outer.” (7) Dabei werden nicht nur inspirierende, sondern evozierte “Mächte” wie in ein Äußeres projiziert; sie erscheinen durchaus nicht nur als inner- psychische Phänomene, und sie sprechen auch nicht nur die Imagination an, sondern sind wirk- fähig: “But while these exercises can be interpreted as remarkable and sustained explorations of the psyche, late nineteenth- and early twentieth-century magicians were not concerned with theorizing the mind. They were absorbed in the magical enterprise, and their conceptual grasp of the endeavor was expressed in these terms. Magicians certainly understood that in pursuing magical knowledge and power they were also undertaking a journey within, but they spoke not of psyche but of Planes and Aethyrs.” (7) 

Es ging und geht in der magischen Praxis letztlich um Kontrolle und Macht, nicht um eine Reflexion der theoretischen Grenzen von Innen und Außen, von Ich und Welt:  “Magical practice was dedicated to understanding and gaining control of these planes, and adepts were not overly concerned with whether or not such realms had an objective or subjective existence. What mattered was that the magical enterprise could be shared with and verifed by other magicians, and its authenticity was judged by the success of the desired outcome. The absolute reality of the experience was accepted without question.” (7) Letztlich verifiziert sich die magische Erfahrung durch Faktizität, nicht Theorie oder Spekulation. Gesucht wird die Sprengkraft einer magischen Persönlichkeit, die die Grenzen des Dualismus so überwunden hat, dass das magische Selbst die Kräfte des grenzenlosen “Unbewussten” zum Teil seiner selbst gemacht hat und somit beherrscht: Die “clear-sighted and all-powerful magical personality unconnected with the personal self. In this telling, the magus is a magical adept who has glimpsed the full implications of his subjectivity. Gone forever is the limiting and limited understanding of the “I” as the unite center of his universe. He has entered the unconscious and acknowledges the permeability of its boundaries.”(7) Die limitierte Version des Alltags- Ichs scheint damit überwunden. In Crowleys Fall überschritt er dabei auch die Grenzen zwischen den Geschlechtern; seine Bisexualität gab ihm eine Aura der Unwiderstehlichkeit beiden Geschlechtern gegenüber, die er auch häufig zu nutzen verstand: “While Crowley is here articulating the gendered categories of masculinity and femininity in essentialist terms, also an aspect of traditional occult philosophy, he conceives of himself as embodying a beneficial “dual structure”: he is “both at once.” Physical “hermaphroditism” is therefore replicated in terms of gender and represented as giving him the privileged insight of “a complete human being.” Crowley maintained that his “dual structure” enabled him to act in the world and “philosophize” about it with an unusual degree of acuity and success. Furthermore, this “dual structure” extended to Crowley's sexual identity. He was flagrantly bisexual. There was no shortage of women in Crowley's life, and the Crowley mythology paints him as a tender and inventive lover. He was, in fact, prey to powerful and contradictory attitudes toward women, but these remained largely unacknowledged. Crowley believed that he was irresistible and that his success as a heterosexual lover was due to his unique ability to express (an again essentialized) “savage male passion to create” modified by a “feminine” gentleness.” (9)


Das Alter ist eine gute Sache in Bezug auf das Buddha- Bewusstsein

Ganz im Gegensatz zum Magier, der sich selbst im Wüstensand geschaffen hat, als er mit seinem Begleiter ein Initiations- Drama erlebte, in dem es um magische Kreise, Evokation, Vergewaltigung und Grenz- Überschreitung ging, erscheint uns in Joan Tollifson (10) eine durch und durch rationale Person, die aber im 21. Jahrhundert eine moderne Version des ruhmreichen, alten Zen- Buddhismus vorstellt- eine Version, die in ihrer konkreten Banalität die Tradition zu Staub und Sand zerfallen lässt, so wie Aleister Crowley eine neue magische Tradition aus Sand begründete. Tollifson ist um die 70, hat Darmkrebs und vor einiger Zeit ihre Mutter in den Tod begleitet- auch der Titel des Buches verrät ja bereits, dass es um eine Auseinandersetzung mit unserer menschlichen Finalität geht. Tollifson verschweigt nichts, schaut nicht weg, erwartet nichts- nichts, außer “das Juwel” selbst im finalen Elend der Alters- Erscheinungen, im Angesicht des nahenden Todes zu sehen: “And surprisingly, the more closely we tune into the bare actuality, the less substantial it seems, and the more mysterious, unresolvable and extraordinary it reveals itself to be. Pain, whether physical or emotional, becomes more interesting and less frightening, and even if fear arises, that too becomes interesting rather than fearful. Everything reveals the jewel in ever-new ways.” Die nackte Gegenwärtigkeit, das Gewahrwerden auch des Schmerzhaften wird nüchtern als “interessant” wahrgenommen. 

Ja, das hohe Alter habe im Blick auf das Buddha- Bewusstsein nur Vorteile, da man ja bereits wisse, dass man völlig nutzlos sei und dass einem nichts bleibe, an das man sich haften könnte. Der absolute Verlust von allem sei, so versichert uns Tollifson, unser größter Vorteil: “Old age is an adventure in uselessness, loss of control, being nobody and giving up everything. That sounds quite dreadful when we have been conditioned to believe that we must be somebody, that we must strive to get better and better, that our lives must have purpose and meaning, that above all, we must be useful and productive and always doing something and getting somewhere.” (10) Denn wollen wir nicht alle erwachen aus diesem Traum, den wir unser Selbst, unsere Liebsten, die Vergnügungen des Lebens, den Genuss, das gemeinsame Glück nennen? Ist es nicht, vor der Ewigkeit, Buddha und Joan Tollifson betrachtet, das Beste, einfach loszulassen und dem konkreten Jetzt- Hier (wozu künstliche Darmausgänge, Ekzeme, ausgefallene Haare und der letzte Atemzug der 90jährigen Mutter zählen) unsere ganze Hingabe zu schenken? Dabei redet Tollifson nicht einmal von Buddha oder Ewigkeit, sondern nur von sich selbst und vom Augenblick, dem realisierten Jetzt: “To awaken is to recognize the sacred everywhere, to live in devotion to this luminous presence, to wake up again and again from the dream of what we think is happening.” (11) Ja, der Traum. Natürlich gibt es unzählige surreale Konstrukte, die Menschen für Realität halten. Manchmal ein bisschen überdreht, neben der Spur, biografisch gezeichnet, grell determiniert, reduziert auf ein reflexhaftes Geflecht von verbliebenen Beziehungen. In jungen Jahren hochtrabend und erwartungsfroh, in den späten Jahren beschränkt, verbiestert und verbissen. Hier und da gibt es einen kurzen Frühling. Oder sogar eine Schneeschmelze?


Die Zen- Meisterin lässt es laufen

Frau Tollifson jedenfalls behauptet unvermittelt, wir besäßen zwar alle unseren illusionären, selbstbezogenen Verstand, würden aber doch irgendwie zu einer großen gemeinsamen Welle verschmelzen: “Certain patterns and stories are reborn moment to moment, giving rise to an apparently consistent personality. And it seems obvious that our “personal” or “individual” consciousness is not walled off from other “personal” or “individual” streams of consciousness, or from the larger “universal” whole. Remember, these are all words, dividing up the indivisible. Just as no wave in the ocean is walled off from the other waves or from the whole ocean, and just as water moves from one wave to another as the waving movement rolls along, it seems apparent that “my mind” and “your mind” are not really separate.” (11) Tja, irgendwie, irgendwann, irgendwo. Der Tod, behauptet Tollifson, sei jedenfalls so etwas wie ein Aufwach- Prozess, ebenso wie das Leiden. Sie hätte ja auch schon beim Tod ihrer Mutter bemerkt, dass die sich in eine große Welle auflöste. Wir müssten einfach nur mal unseren Drang, alles zu verstehen, aufgeben, dann ergäbe sich das schon von selbst, dieses Wellen- Bewusstsein im Hier und Jetzt: “When we let go of the need to describe and understand, we can melt into simply being what we are—presence itself, Here-Now..” (11). Lass es laufen, Baby, lass es laufen. Frau Tollifson glaubt nicht, dass sie eine Person ist, dass etwas nach dem Tod bestehen bleibt oder sich gar reinkarnieren könne. Sie ist, fürchte ich, ein bisschen zerrissen, denn so sehr alles, sie selbst und ihre tote Mutter eingeschlossen, sich in der imaginierten großen Welle auflösen, nichts von einer Person in sich haben oder behalten, erwischt sich Tollifson im Alter doch dabei, dass sie dauernd im Kopf eine Art Unterhaltung mit der toten Mutter führt. Und, überhaupt, trotz aller ihrer Aussagen über Tod und Sterben, Sein und Nicht- Sein, Illusion und Erwachtsein, sicher ist sie sich dann doch auch nicht so richtig: “Of course, it’s possible that I will be very surprised at the moment of death.” (11) Ja, das ist tatsächlich zu vermuten. 


Salutogenese!

Was hat diese Zen- Meisterin nur all die Jahre getrieben? Warum schreibt sie Bücher über Banalitäten und ausgedachte Zustände? Wie einsam muss man sein, um sich in solcher Pseudo- Esoterik einzurichten und Zeile für Zeile zu füllen mit Aussagen, die sich von Phrasen nicht unterscheiden lassen? Man lobt sich den derben, handfesten Aleister Crowley, der wenigstens ein überaus gut funktionierendes Sex- Leben führte, auch wenn er die jeweiligen Partner selten darüber aufklärte, dass sie sich gerade in eine magischen Handlung befanden. Salutogenese! Salutogenese! Tu Dir was Gutes und sprich nicht darüber! Heilende Kräfte beziehen aus dem Heiligen Akt! Wovon Anthroposophen träumen, was die miesepetrige Tollifson nie zu denken gewagt hätte, Crowley jedenfalls praktizierte es täglich: Sich an den eigenen Haaren selbst aus dem Sumpf zu ziehen. Sich zu inszenieren als Heiliger, Prophet und als das Biest höchstselbst. So geht das Programm. Der Zug in die Wüste, den Crowley 1909 mit seinem Schüler Neuburg unternommen hatte, sollte ein Meilenstein in der Kunst darstellen, aus bloßem Wüstensand eine okkulte Bewegung zu begründen, die bizarre Wandlungen durchlaufen sollte, bis hin zur weltpolitischen Intrige, die ein Alexander Dugin so erfolgreich praktiziert, ja der offensiven Desinformations- Politik der russischen Regierung insgesamt. Von diesen Auswirkungen war 1909 wirklich nichts zu ahnen, als das Magier- Gespann (Neuburg mit rasiertem Kopf, aber zwei empor stehenden Wirbeln, so dass er wie eine Ziege aussah (12)) in die algerische Wüste zog: “In late 1909, two Englishmen, scions of the comfortable middle classes, undertook a journey to Algiers. Aleister Crowley, later to be dubbed “the wickedest man in the world,” was in his early thirties; his companion, Victor Neuburg, had only recently graduated from Cambridge. The stated purpose of the trip was pleasure. Crowley, widely traveled and an experienced mountaineer and big-game hunter, loved North Africa and had personal reasons for wanting to be out of England. Neuburg probably had little say in the matter.” (7) Der weltgewandte, intelligente Crowley war sich bewusst, dass die so dramatische magische Handlung in der Wüste letztlich nur in seiner Vorstellung stattfand: “In other words, Crowley recognized that this was an experience similar to that of astral travel: it was conducted within his own mind.” (7) Für ihn stellte es dennoch etwas wie einen Initiations- Vorgang dar, dem er ebenso folgen würde wie seinem Lebensstil, seinem unstillbaren sexuellen Hunger, seinem Charme, seiner Neigung zu Hochstapelei und Selbstüberschätzung und seinen, magischer Meister hin oder her, ununterbrochen prekären finanziellen Verhältnissen. Zwischen einem um des Betruges willen vorgetäuschten Selbstmord an der portugiesischen Küste, dem Genuss des Berliner Nachtlebens und rücksichtslosen, riskanten Bergbesteigungen: Einsam war Crowley offenbar nie. Konsumption und Digestion waren die Grundlagen seines Lebensstils, und er nahm, was er kriegen konnte. Freunde oder Partner im engeren Sinne waren eher eine begrifflich dehnbare Masse, sobald die Nützlichkeit nachließ. In Crowleys psycho- sexueller Welt stilisierte er sich, auch in der oben bezeichneten Initiation in der algerischen Wüste, auch gern als Opfer des Lüstlings- Gottes Pan, der durch den Adepten Neuburg vertreten wurde: “What happened in prosaic terms was that Crowley was sodomized by Neuburg in a homosexual rite offered to the god Pan. Pan, the man-goat, had a particular significance for the two men. Crowley revered him as the diabolic god of lust and magic, and Neuburg literally had what acquaintances described as an elfin and “faun-like” appearance.” (7)


Popstars der Einsamkeit 

Der anhaltende Appetit Crowleys muss eine ganz andere Qualität haben als der Hunger der Einsamkeit, von dem Olivia Laing sagte: “What does it feel like to be lonely? It feels like being hungry: like being hungry when everyone around you is readying for a feast.” (2) Die inneren Reflexe eines Andy Warhol, der sich Menschen am liebsten deshalb mit einer Kamera in der Hand näherte, weil das die ihm zuträgliche soziale Distanz schaffte, scharte um sich um herum dennoch eine ganze Szene, initiierte künstlerische Ausdrucksweisen, Rockmusik und Karrieren ebenso wie Stalker und selbst die Feministin Valerie Solanas, die nur deshalb versuchte, ihn zu ermorden, um ihr eigenes Manifest dadurch berühmt zu machen. Die manische Konsumption und Digestion Anderer haben Warhol wie Crowley betrieben, beide Popstars, aber Antipoden in Bezug auf Einsamkeit. Man kann sich keine größeren persönlichen Gegensätze vorstellen. 


Großstadt- Steppenwölfe und Jesus in der Wüste

Also bitte, nehmen wir auch noch einen anderen Popstar und Schwarmgeist der Einsamkeit hinzu: Rudolf Steiner. So gefräßig sich ein Magier wie Crowley und ein einsamer Popstar wie Warhol ausleben mögen, der Geistesforscher zelebriert eine besonders exklusive Positionierung, nämlich die, mit seinem Bewusstsein außerhalb des Körpers beheimatet zu sein: “Die Seelenverfassung des Geistesforschers kann nur so verstanden werden, daß in ihr die Illusion des gewöhnlichen Bewusstseins überwunden ist, und daß ein Ausgangspunkt des Seelenlebens gewonnen wird, der den menschlichen Wesenskern real in freier Loslösung von der Leibes- Organisation erlebt.” (13) Tatsächlich hat Rudolf Steiner die Einsamkeit als festen Bestandteil einer solchen Positionierung, einer Rolle und eines Selbstbildes als moderner Initiierter angesehen. Die “Rufer in der Wüste”, ja “Rufer in der Einsamkeit”, ob nun in der antiken Welt oder in der digitalen Moderne, fühlen sich offenbar wie Johannes der Täufer, der - so Steiner- befremdet einer fremden Gegenwart gegenüber gestanden haben soll: “Das ist der Umschwung von dem alten Bunde zu dem neuen Bunde, daß der alte Bund immer etwas von Gruppen- Seelenhaftigkeit hat, wo das eine Ich sich zugesellt fühlt zu den anderen Ichen und weder sich noch die anderen Iche recht fühlt, dafür aber das, worin sie gemeinsam geborgen sind, das Volks-Ich oder Stammes-Ich mitempfindet. Der Vorgänger des Christus mußte sagen: Ich bin ein Ich, das sich herausgeschält hat, sich einsam fühlt. Und gerade weil ich gelernt habe, mich einsam zu fühlen, fühle ich mich als ein Prophet, dem das Ich in der Einsamkeit die richtige Geistes-Nahrung gibt. – Deshalb musste sich der Verkünder als ein Rufer in der Einsamkeit bezeichnen, das heißt als das schon von der Gruppenseele vereinsamte Ich, das da schreit nach dem, wodurch das Einzel- Ich Nahrung bekommen kann.” (14) 

Nun wird nicht jeder Prophet, der sich einsam fühlt oder der Gegenwarts- Kultur entfremdet ist: Die Großstadt- Steppenwölfe, die Olivia Laing schildert, folgen Kunst, aber auch Obsessionen, verfallen krankhaften Fantasien, leben sich exzessiv aus oder ziehen sich in einen geschlossenen Kosmos zurück. Nicht jeder wird zum “Verkünder”. Aber in Steiners Darstellung war auch der historische Jesus- Christus sozusagen im vollständigen Missverhältnis zu seiner Zeit und Umgebung und von daher, als Repräsentant des kosmischen Bewusstseins, faktisch die personifizierte Einsamkeit: “Er steht allein. Man denke sich diese Einsamkeit des Menschen, der vom kosmischen Christus durchzogen war, jetzt den Häschern wie ein Mörder gegenüber stehend.” (15) Aber auch für die anthroposophischen Steppenwölfe der Gegenwart ist eine gewisse Einsamkeit offenbar eine Art konstitutioneller Grund- Verfassung: “Wer aber heute aus dem unmittelbar persönlichen Erkenntnisweg heraus spricht, ist schon zu einer gewissen Einsamkeit verurteilt. Heute kommt man zur Erkenntnis in Einsamkeit.” (16) 


Große Denker und andere Wüstenheilige

Überhaupt scheint Rudolf Steiner ein bestimmtes Klischee zu bedienen, das nicht nur Heilige und Propheten, Wüstengänger, Leibfreie und Initiierte umfasst, sondern auch “große Denker”- einfach alles, was sich der Verführung zum Materialismus entreißen und in “ganz abstrakten Höhen” leben kann: “Gerade dann, wenn wir recht einsam werden, wenn wir recht auf uns selber nur gestellt sind, ist das die beste Seelenverfassung für all dasjenige, was die Erkenntnis für den einzelnen Menschen in seinen Zusammenhängen mit Natur- und Geisteswelt entwickeln soll. Die einsamsten waren die großen Denker, die in scheinbar ganz abstrakten Höhen gelebt haben und die in ihren Abstraktionen nur den Weg suchten zu der übersinnlichen Welt. Die neueren Neigungen und Sehnsuchten der Menschen sind die Entfaltung von Geisteskräften, die auf Einsamkeit angelegt sind und die durch den überflutenden ahrimanischen Materialismus auf falsche Bahnen gebracht werden.” (17) Ja, die überflutenden materialistischen Ströme! Die sich aufbäumenden Querdenker, Säulenheiligen und Großdenker! Das sind die Schlachten um die Geistesmächte. 

Ewige Einsamkeit

Aber es wird immer schlimmer. In der geistigen Welt schaut man nur auf die Welt zurück, wenn man zu größter Einsamkeit in der Lage ist. Aber nach dem Tod hält nur noch die Einsamkeit überhaupt etwas wie ein kontinuierliches Bewusstsein von sich selbst zusammen- die Einsamkeit wird zum Konstituierenden, zur faktischen “Leiblichkeit”: “Das, was nur im Abglanz und da manchmal schon schmerzlich genug für manche Menschen in der physischen Welt als das Gefühl der Einsamkeit auftritt, das steigert sich in unermesslicher Art, wenn man eintritt in die übersinnliche Welt. Aber dann schaut man zurück zu dem, was sich als die geistige Umgebung im Spiegel des physischen und des ätherischen Leibes zeigt, die man zurückgelassen hat. Da wird man eben gewahr das völlige Einsamkeitsgefühl, durch das man einzig und allein sein Ich aufrecht erhalten kann in dieser Welt. Man würde sonst in dieser Welt des Geistes zerfließen, wenn man nicht gerade so, wie man hier sein Ich-Gefühl durch sein Leibes- Empfinden hat, in der geistigen Welt dieses Ich-Gefühl nicht durch die Einsamkeit erleben würde. Dieser Einsamkeit dankt man die Aufrechterhaltung des Ich in der geistigen Welt.” (18)

Liegt darin etwas Tröstliches? Dass nur die Einsamkeit uns als autarke Wesen konstituiert, uns Kontinuität und ein Leben nach dem Tod, ja ein Leben als kosmisches Ich beschert? Wer hätte diesem Hungergefühl in der Stadt der Einsamkeit eine solche Bedeutung zugestanden? Wer hätte gedacht, dass die unstillbare Empfindung des Mangels das geistig Konstituierende schlechthin sein soll? Der wirkliche Führer über Zeiten und Welten hinweg? Das Loch in unserem Inneren, das nicht gefüllt werden kann. Die gemeinsame Schnittmenge von Crowley, Warhol und Steiner. Die Wüste, in der der Eine sich findet, und sich der Andere verliert. Der Weg in die Höhe, ins Detail des Augenblicks, in den distanzierten Kamerablick, in die sexuelle Obsession. Alle Wege, aus der Einsamkeit heraus, in die Einsamkeit hinein. Und dann, jenseits aller Klischees und populistischen Anti- Zeitgeistigen: Rudolf Steiners Begriff einer Ewigkeit in Einsamkeit. 



Anmerkungen____________________

1 Oliver Sacks, Awakening, Zeit des Erwachens https://www.rowohlt.de/buch/oliver-sacks-awakenings-zeit-des-erwachens-9783644000889

2 Olivia Laing, The Lonely City: Adventures in the Art of Being Alone, 2016 https://en.wikipedia.org/wiki/The_Lonely_City

3 Laing, S. 11ff

4 https://mitpress.mit.edu/books/about-face

5 https://youtu.be/Y8YjoZT2qwQ

6 Laing, S. 185ff

7 Alex Owen, „The Sorcerer and His Apprentice“  In: Aleister Crowley and Western Esotericism, Edited and introduced by HENRIK BOGDAN AND MARTIN P. STARR, Foreword by WOUTER J. HANEGRAAFF, S. 27ff

8 https://de.wikipedia.org/wiki/Der_seltsame_Fall_des_Dr._Jekyll_und_Mr._Hyde

9 Owen, S. 38

10 Joan Tollifson: “Death: The End of Self-Improvement”

11 Tollifson, S. 9ff

12 “According to Crowley, therefore, Neuburg’s head was shaved, leaving only two tufts at the temples, which were “twisted up into horns.” Crowley laughingly, but tellingly, comments that his chela was thus transformed into “a demon that I had tamed and trained to serve me as a familiar spirit. This greatly enhanced my eminence.”” siehe 7

13 Rudolf Steiner, Bologna- Vortrag, GA 35 Philosophie und Anthroposophie, in: Die psychologischen Grundlagen und die erkenntnistheoretische Stellung der Anthroposophie 

14 Rudolf Steiner, GA 103, S. 80

15 Rudolf Steiner, GA 139, S. 176f

16 Rudolf Steiner, GA 231, S. 50

17 Rudolf Steiner, GA 193, S. 78f 

18 Rudolf Steiner, GA 79, S. 142f