Abenddämmerungsstimmung des geistigen Lebens als anthroposophisches Seelen- Phänomen: Die Drei, Ralf Sonnenberg und Maos Enkel


Selten hat Rudolf Steiner eine solche Stimmung beschrieben wie die, die er als „Abenddämmerungsstimmung des geistigen Lebens“ (1) in der Spät- Scholastik verortet hatte: Die Platoniker der scheidenden Schule von Chartre, die in sich noch Reste alter „All- Einheit, Epiphanie, Selbstanschauung des Göttlichen“ trugen und pflegten, stießen auf die kommende aristotelische Schule der Scholastiker, die aber zögerten, sich nicht einer vornehmen Entziehung vor den Niederungen simplen Philosophierens zu verweigern. So zumindest Rudolf Steiners Sichtweise, der in diesem Spannungsverhältnis zwischen Noch- Nicht- Ganz- Gegangensein und Noch- Nicht- Recht- Geborenwerden- Wollens hinter den Kulissen eine konstruktive geistige Kooperation sah:

Die letzten Großen der Schule von Chartres waren eben in der geistigen Welt angekommen. Diejenigen Individualitäten, die die Hochblüte der Scholastik einleiteten, waren noch in der geistigen Welt. Und einer der wichtigsten Ideen-Austausche hinter den Kulissen der menschlichen Entwickelung spielte sich ab im Beginne des dreizehnten Jahrhunderts zwischen denen, die noch den alten schauenden Platonismus hinauf getragen haben aus der Schule von Chartres in die übersinnliche Welt, und diejenigen, die sich dazu bereiteten, den Aristotelismus herunter zu tragen als den großen Übergang für die Herbeiführung einer neuen Spiritualität, die in der Zukunft herein fluten soll in die Entwickelung der Menschheit. Da kam man überein, indem gerade diese Individualitäten, die aus der Schule von Chartres herstammen, denen sagten, die sich eben anschickten, herunterzusteigen in die sinnlich-physische Welt und den Aristotelismus in der Scholastik als das richtige Element des Zeitalters zu pflegen: Für uns ist zunächst ein Erdenwirken nicht möglich, wir bleiben hier oben.“ (3)

Gewiss, so stimmt auch Peter Sloterdijk zu, machen es sich die aristotelischen Philosophen nicht leicht, die das nüchterne Element jedes Zeitalters zu repräsentieren pflegen, die nicht die ekstatisch- originellen und geistig trunkenen Intuitionen zu ergründen ergründen wünschen: „Im allgemeinen sind Philosophen nicht dafür bekannt, daß sie zu Fragen des Rausches und der Droge viel zu sagen hätten. Ihre Reputation beruht auf ihrer Abstinenz von den süßen Giften des Lebens und auf ihrem methodischen Trotz, der alle schnellen Überzeugungen verwirft. Landläufig und richtig hält man Philosophen für Leute, die jede äußere Überwältigung des Verstandes für unzulässig erklären. Kennten sie so etwas wie eine Berufsehre, so entspränge diese daraus, daß sie es sich mit ihren Meinungen schwerer machen als andere Leute.“ (4)

Ein sich selbst recht verstehender Aristoteliker möchte stets, nach Sloterdijk, „mit trockener Seele eine Brücke zur Anschauung letzter Gründe bauen“ (5), Ja er möchte „das Land der Wahrheit ohne (..) illegale Transportmittel“ (5) durchqueren. Noch waren sie nicht da, die Scholastiker, die Rechthaber, die Arabisten, die Kreuzfahrer der trockenen Selbstbezüglichkeit. Wahrscheinlich gibt es eine steil abfallende Kurve von der Hochscholastik bis zu hypnotischen, formelhaften Selbstbeschwörungen platter geistiger Bürokraten und Gendersternchen- Fetischisten unserer Tage. 

Die „Titanenschlacht zwischen Rausch und Nüchternheit“ (6), die Sloterdijk wie Steiner beschwören, ist eine Konstante, die, mal konstruktiv in der geistigen Welt (die „Michaelsschule“ als geistiger Inspirations- Apparat im Spannungsfeld zwischen Aristotelikern und Platonikern), mal als antikes Spannungs- Motiv, mal als trockene gegenwärtige Strömung auftaucht, die sich gegen die rauschhaften und destruktiven politischen Exzesse des 20. Jahrhunderts auflehnt, aber auch zur rituellen Selbstbeschwörung neigt, zu einem bigotten, rigorosen Materialismus.

Opfer, so Rudolf Steiner, gab es auf beiden Seiten. Die in der werdenden Scholastik noch zögerlichen Aristoteliker stießen auf abgehende Platoniker, denen die Gegenwart nichts mehr gab, und die in der Folge auch nur schwer an den jeweiligen Zeitgeist andocken konnten, denn, so Steiner:  „Im großen und ganzen kann man sagen: Wiederverkörperungen der Geister von Chartres sind eigentlich nur in geringem Maße dagewesen.“ (1)

Der Grund war eine durchgehende, manifeste Melancholie, eine „Abenddämmerungsstimmung des geistigen Lebens“ (6), ja geradezu das Gefühl, „gar nichts mit der Gegenwart zu tun“ (6) zu haben. Die Melancholie als Daseins- Gefühl, das Konstatieren einer vertrockneten kulturellen und spirituellen Gegenwart ist das Leiden des verspäteten, indisponierten und nicht ganz gegenwärtigen Platoniker unserer Tage. 

So präsentiert sich auch seit längerem der so gebildete und sprachgewandte Ralf Sonnenberg in „Was ist Goetheanismus, was ist die Esoterik der Anthroposophie?“ - und spricht dieses Grundgefühl im Untertitel - „Neuere Studien zur ‚Philosophie der Freiheit’ Rudolf Steiners - und das Erwachen aus der kulturoptimistischen Illusion“- auch direkt an. 

Wie schon von anderen Texten bekannt, beschwört Sonnenberg den heute eher verfemten, allenfalls gelittenen Joseph Beuys, dessen „für ihn typischer(r) Duktus charismatischer Selbstinszenierung“ (7) mit seinen teils verzweifelten Aktionen und Zwischenrufen aus der Zeit gefallen scheint oder - wie Sonnenberg meint- „wie Wortgeklingel“ (7) wirkt. Dass Beuys heute so wenig Resonanz erfährt, scheint Sonnenberg ein Problem der aktuellen Vermittlung „in selbständiger Denkarbeit errungene(r) Evidenzen“ zu sein, da gegenwärtig wenig Bereitschaft vorhanden zu sein scheint, über das „flüchtige Informierteren hinaus tiefere Einblicke in das Fremdartige“ (7) zu nehmen. Damit wäre es auch kaum möglich, auch nur Grundbegriffe der anthroposophischen Arbeit zu vermitteln, ohne durch darüber gelegte Gemeinplätze stigmatisiert zu werden. Geist- Denken- Seele- die Grundbegriffe des sich selbst bewusst werdenden Bewusstseins seien schon „seit Jahrhunderten gründlich nominalistisch korrumpiert“ (7) und fallen somit aus jedem Diskurs heraus, weil das von Sloterdijk beschriebene materialistische Diktat der „Abstinenz von den süßen Giften des Lebens“ (4) gilt. Allerdings gesteht Sonnenberg auch selbstkritisch ein, dass die alten „platonischen“ Denkgewohnheiten, die Prägungen einer dualistischen Weltauffassung“ (7) keineswegs überwunden sind, oder sich nur in einem Ausnahmezustand (worunter eine meditative Vertiefung gemeint sein dürfte) überwinden ließen. Solche Ausnahmesituationen des Bewusstseins erscheinen aber in der trockenen Gegenwart, in der alle sich ausschließlich „glaubwürdig als Anwälte eines hinreichend nüchternen Realitätsprinzips“ (8) verstehen und präsentieren, mehr als verdächtig. 

Verdächtig sei - so Sonnenberg- seit der Covid- Infektionswelle ohnehin alles, was sich als anthroposophisch begründet versteht- ja, allen anthroposophischen Institutionen schlüge eine kritische mediale Welle, die scharf bis denunziatorisch daher komme, entgegen. Der Ideenkosmos hinter dm und Weleda sei insgesamt ins Fadenkreuz der Skeptiker geraten- eine Situation, die Sonnenberg vage mit dem Brandanschlag auf das Erste Goetheanum vor 100 Jahren vergleicht. Die Verdächtigungen notorischer kritischer Blogger gingen dahin, eine gesellschaftliche Unterwanderung durch anthroposophische Esoterik zu beschwören. Andererseits fiele es den Repräsentanten gegenwärtiger Anthroposophie auch schwer, „die Grundlagen ihrer Erkenntnisbemühungen nach außen hin transparent“ (7) werden zu lassen. Es mangelt ohnehin an Perspektiven, eine klare anthroposophische Linie zwischen dem Anspruch an Wissenschaftlichkeit und dem Aufguss „vormoderner spiritueller Glaubensinhalte“ in der Außenwirkung zu entdecken, was auch daran liege, dass der Verzicht auf „vorausgesetzte Inhalte“ (7) nicht ausreichend praktiziert und beherzigt werde. Anthroposophie versteht Sonnenberg mehr als offene „Methodologie des intuitiven Verstandes“ (9) denn als Kanon abgelegter Wissensfragmente. 

So geht Sonnenberg vermehrt auf die eigenen Baustellen anthroposophischer Kultur und Hochschul- Impulse ein, vor allem auf den Vorwurf an die Aristoteliker, sie hätten die Wissenschaftlichkeit von Anthroposophie methodisch- substanziell nie begründen können und damit eines der zentralen Anliegen Rudolf Steiners verfehlt. Das Pflegen „erbaulicher Vorträge und interessanter Ausstellungen“ (7) genüge einfach nicht. Der Goetheanismus Rudolf Steiners, der sich früh auf das Erkennen, Denken, Wahrnehmen selbst bezog, was die Grundlage für das „Erkenntnispanorama höherer Welten“ (7) durch Steiner gewesen sei, habe in der Dornacher Hochschularbeit zu wenig Resonanz gefunden, da der Goetheanismus- Begriff einseitig naturalistisch aufgefasst worden sei, denn er bezöge sich vorwiegend auf biologische, medizinische und andere äußere Phänomene, nicht auf die Erkenntnis selbst. Sonnenberg erinnert an die aus der Mode gekommene seminaristische Erarbeitung „schwieriger“ Textpassagen im Sinne einer hermeneutischen Forschungspraxis- eine Kultur des langsamen, gründlichen, enträtselnden Denkens. Ziel sei das Erleben eines „Denkwillens“, der unabhängig von den Inhalten des Denkens zu entdecken sei. 

In einer weiteren Wendung geht Sonnenberg auch auf den Vorwurf Helmut Zanders ein, Rudolf Steiner habe lediglich Versatzstücke esoterischer Literatur adaptiert und arrangiert, um diese zu einer „Weltanschauung eigenen Gepräges“ (7) zu formen. Tatsächlich konstatiert auch Sonnenberg die Schwäche der organisierten Anthroposophenschaft, überhaupt noch eine gemeinsame Basis von Verständigung zu finden. Nicht zuletzt liege das auch daran, dass Teile der Mitglieder und Interessenten weniger an Methodik und Erkenntnistheorie interessiert seien als an „authentischer spiritueller Selbsterfahrung“. Das sei, so die Beobachtung Sonnenbergs, der dabei so große melancholische Übereinstimmung mit der „Abenddämmerungsstimmung“ der Platoniker zeigt, ein Phänomen, das sich nicht nur in anthroposophischen Zusammenhängen zeige. Auch ganz normale Vorlesungen über den deutschen Idealismus seien heute vor allem durch erkenntnishungrige ausländische Studierende besucht. Die „Geistesschätze“ würden von Anderen gesucht, nicht von den Erben der Idealisten und der Anthroposophen selbst. Und am Ende kann sich Sonnenberg dann den zu erwartenden Absturz in den Kulturpessimismus nicht verkneifen und keilt gegen den „vorauseilenden Gehorsam“ (7) von „woken“ Debatten über Kolonialismus, kulturelle Aneignung und Genderismus. Der im Abendrot der untergehenden zweitausendjährigen Kulturgeschichte stehende Platoniker setzt sarkastisch alle diese Begriffe in die üblichen Gänsefüsschen. Irgendwie faselt er dann auch etwas von „Maos Urenkeln“, die gegen Rudolf Steiner agitierten, aber dann hat man in dem Getöse schon nichts mehr gehört. 

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1 Rudolf Steiner, GA 238, 76f

2 Peter Sloterdijk, Weltfremdheit, Frankfurt 1993, S. 126

3 Rudolf Steiner, GA 237.98f

4 PS, S. 121

5 PS, S. 119

5 PS, S. 120

6 RS, siehe 1): „Aber man fühlte in der Schule von Chartres, gerade wenn man ihr recht hingegeben war, etwas von Abenddämmerungsstimmung des geistigen Lebens. Und ein einzelner solcher Mönch wurde in unserer Zeit doch verkörpert in einer Weise, daß man geradezu in wunderbarer Art den Abglanz des vorigen Lebens bei der betreffenden Persönlichkeit finden konnte. Diese Persönlichkeit war eine mir bekannte, sogar befreundete Schriftstellerin, die eine in unserer Zeit ganz merkwürdige Seelenstimmung in sich trug. Da ist in einem vorigen Erdenleben etwas als Keim gelegt worden, was jetzt herauskommt, in der Empfindung, daß eigentlich diese Seele, die da verkörpert war, gar nichts mit der Gegenwart zu tun hatte.“

7 Ralf Sonnenberg, Was ist Goetheanismus, was ist die Esoterik der Anthroposophie? Neuere Studien zur ‚Philosophie der Freiheit‘ Rudolf Steiners- und das Erwachen aus einer kulturoptimistischen Illusion“ in die Drei 2/ 2023, S. 57ff

8 PS, S. 121

9 RS, die Drei, S. 60, ein Zitat von Eckhart Förster, das sich eigentlich auf Goethe bezieht