Zeitendämmerung, anthroposophische Generalversammlung und der ganze heiße Scheiß



Nichts Neues im wilden Westen! Die alte Kritik an der Anthroposophie im Einzelnen und im Ganzen ruft Kritik an der Kritik hervor, die Reihen schließen sich, die Wagenburg geht zu. Noch immer, so muss man nüchtern konstatieren, sind die Dienstleistungen der anthroposophischen Institutionen so gefragt, dass sich auch die schrumpfenden Mitgliederzahlen stabilisiert haben (1): „Nach einem drastischen Gesamtschwund von 20 Prozent – von etwa 50 000 Mit­gliedern im Jahr 2000 auf 40 734 im Jahr 2023 – ist die Mitgliederzahl Ende 2024 erstmals wieder ungefähr gleich geblieben wie im Vorjahr. In den letzten Jahren gab es bereits Anzeichen dafür, da die Neueintritte in bestimmten Monaten zunahmen.“ Sinnstiftung kommt wohl nie aus der Mode, aber gerade in den schwierigen Jahren der Pandemie hatten viele bizarre Positionierungen und Aktivitäten von Geistesforschern und anthroposophischen Publizisten und Aktivisten so große Hürden aufgebaut, dass es selbst hartgesottene Sinnlicher lieber mit Yoga versuchten. Aber es war nicht nur Corona. Der Trend, der gegen Anthroposophie lief, hatte bereits um die Jahrhundertwende begonnen: „Lange Zeit wurde gedacht, dass der Schwund auf Austritte oder verstorbene Mitglieder zurückzuführen sei, und es wurde übersehen, dass der eigentliche Grund seit etwa den 1990er-Jahren bis 2020 ein Rückgang von 70 Prozent bei den Neu­eintritten pro Jahr war. Am Höhepunkt der Gesellschaftsgeschichte traten 1987 etwa 3 000 neue Mitglieder ein, und am Tiefpunkt 2013 gab es etwa 1 000 Neueintritte. Letztes Jahr aber konnten wir seit langer Zeit wieder eine erhöhte Zahl an Neueintritten – und zwar 1 636 Mitglieder – willkommen heißen.“ (1)

Dass nun der Schrumpfungsprozess vorerst gestoppt und sogar eine ganz neue Landesgesellschaften in Süd- Korea begründet worden ist, treibt den Autoren in eigenartige, aber spezifisch anthroposophische Begeisterungsausbrüche, in denen er Punkt- Kreis - Meditationen sprachlich ausdekliniert und geradezu ekstatisch vom kosmopolitischen Anliegen der Anthroposophischen Gesellschaft schwärmt: „Die Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft wird immer mehr zu einer kosmopolitischen Weltgesellschaft, das heißt zur Umsetzung des vierten Punktes der Weihnachtstagungsstatuten, der besagt, dass alle Menschen jenseits ihrer Herkunft, Religion, wissenschaftlichen oder künstlerischen Überzeugung willkommen sind. Eine eigentlich zutiefst radikale und menschliche Idee, die heutzutage (wieder) immer schwieriger gestaltet und gelebt werden kann.“ (1)

Weihnachtstagung, Kosmopolitismus, Weltgesellschaft: Das sind Stichworte, bei denen dem Anthroposophen das Herz aufgeht. Nach der diesjährigen Generalversammlung der Anthroposophischen Gesellschaft, hat der Vorstand in etwas dürren Worten den erfolgreichen Vollzug gemeldet: „Wir dürfen auf eine gelungene Generalversammlung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft am Goetheanum vom 4. bis 6. April zurückblicken. In engagierter und konstruktiver Weise haben wir die Regularien und Anträge bearbeitet. Mit Kurzbeiträgen unter dem Titel «Sind wir den Herausforderungen der Zeit gewachsen?» brachten wir aktuelle Themen aus den Sektionsfeldern und Landesgesellschaften in den Saal. In der Woche zuvor führten wir mit 36 Landesrepräsentatinnen und Landesrepräsentanten ein intensives Weltgespräch. Am Wochenende davor fanden am Goetheanum und an vielen weiteren Orten feierliche Veranstaltungen zum 100. Todestag Rudolf Steiner statt.“ (2) 

Die Grandezza schimmert trotz des knappen Statement- Charakters doch durch in Formulierungen wie „ein intensives Weltgespräch.“ Damit ist die offene Frage ja bereits beantwortet, ob die anthroposophische Gesellschaft den den „Herausforderungen der Zeit“ gewachsen sei. Wenn etwas schräg, bedenklich, moralisch fragwürdig und diffus geworden ist, dann ist es doch die Weltlage, nicht die Anthroposophische Gesellschaft. Man sieht sich als alles andere denn als weltfremd an- ganz im Gegenteil. Das weltfremd Erscheinende ist vielmehr der verkappte Keim des Zukünftigen. So zumindest die Meinung des Vorstands, der in diesem Sinn zu praktischer Teilhabe der Mitglieder aufruft: „Die gegenwärtige Zeit ist herausfordernd und unsicher. Sind wir nicht gerade in dieser „Zeitendämmerung“ aufgefordert, aus der Anthroposophie heraus Beiträge zu leisten – praktisch, künstlerisch und gedanklich –, die Zukunftsperspektiven eröffnen? Perspektiven, die vom «Erkenne dich selbst» zu einer entschlossenen Teilhabe an dieser Welt führen. Denn das Ich existiert durch die Teilnahme an der Wirklichkeit: an der Wirklichkeit des Mitmenschen und der Erde.“ (2)

Auch hier also wieder die Punkt- Kreis- Meditation als innere Richtschnur der Selbst- Positionierung des Goetheanums: Angesagt ist nicht mehr die bloße Selbstverwirklichung - das „Erkenne dich selbst“-, sondern die „entschlossene Teilhabe an dieser Welt“ (2). Ich und Welt! Es ist Zeit, sich zu engagieren! Nichts Jenseitiges, sondern entschlossen diese Welt, die man vorfindet, gestalten!

Allerdings ist dieser flott ausgerufene Impuls etwas, was auch seit geraumer Zeit weniger einen Zustand oder ein Ideal beschreibt, sondern ein Problem. Gerade mit zurückgehenden Finanzen und stetig wachsenden Kosten ruft das Goetheanum seine erfolgreich expandierenden Tochtergesellschaften, von Konzernen bis hin zu Schulen, auf, die Gesellschaft mitzutragen und zu finanzieren. Der Riss zwischen den gesellschaftlich engagierten praktischen Töchtern im Verhältnis zu der Mutter, die sich zu weiten Teilen mit sich selbst beschäftigt und bizarre esoterische und politische Thesen in die Luft bläst, ist seit der Jahrhundertwende stetig größer geworden. 

Aber die Stunde der Wahrheit rückt näher. Unternehmen und Konzerne, die aus den anthroposophischen Institutionen entsprungen oder mit dem Gründer verbunden sind, sind in Schwierigkeiten geraten, müssen sich den Gesetzen der Märkte und der Investoren stellen und stehen nicht mehr bereit, die „Mutter“ Anthroposophische Gesellschaft zu finanzieren- das ist ein schleichender, aber fortschreitender Prozess. Das Goetheanum muss sparen, seit Jahren schon, bekommt aber doch Jahr für Jahr einen ausgeglichenen Haushalt hin. Und so stimmt auch der Vorstand Herr Hasler ein in die positive Stimmung, die man nicht als Aufbruch, aber schon als „Weiter so“ verstehen kann: „Eine Woche nach Rudolf Steiners hundersten Todestag haben wir in der intensiv und lange vorbereiteten Generalversammlung das Thema ‹Sind wir den Herausforderungen der Zeit gewachsen?› durch Impulsbeiträge und sehr lebendige Gespräche im Saal bewegt. Justus Wittich hat diese Frage zunächst mit «Nein» beantwortet, dann aber formuliert: «Wie wachsen wir an den Herausforderungen der Zeit?» Nicht wenige erlebten diese Zusammenkunft als einen bedeutenden Schritt hin zu einer gemeinsamen Arbeit.“ (3)

Aber was, was sollen eigentlich diese anthroposophischen Beiträge zu den drängendsten Fragen der Zeit sein? Es wird ja viel behauptet und beschworen, wo aber sind die Themen und Inhalte? Leider findet man zu diesen Beiträgen der Anthroposophen zu den drängendsten Fragen der Zeit recht wenig. Nur hier, im Schreiben zur kollektiven Vorbereitung auf die erwähnte Generalversammlung, findet man einen drängenden Themenbereich der Medizinischen Sektion:; „Medizinische Sektion: Am 3. Juni, 19.30 bis 21 Uhr, laden Adam Blanning, Marion Debus und Karin Michael von der Leitung der Medizinischen Sektion am Goetheanum für ihre nächste Dialog-Veranstaltung ‹Mobilfunkstrahlung und ihre Auswirkungen auf den menschlichen Organismus› am Goetheanum ein, eine Online-Teilnahme ist möglich (Deutsch), die Veranstaltung wird jedoch nicht aufgezeichnet.“ (4) Oh wehe, es ist wohl besser, das nicht aufzuzeichnen, weil es ja auch Strahlung erzeugen könnte. Ich glaube, das Thema haben schon so heiß für Anthroposophen, als die ersten Mobilfunkgeräte auf den Markt kamen, also 1973. Dieses heiße Thema wird uns sicher in die Zukunft führen. Ganz bestimmt. 

Verweise

1   https://anthroposophie.org/de/nachrichten/mitgliederzahlen-in-bewegung

2.  https://anthroposophie.org/de/newsletters/brief-an-die-mitglieder-16-april-2025

3. https://anthroposophie.org/de/newsletters/anthroposophie-weltweit-nr5-2025

4. https://anthroposophie.org/de/nachrichten/nachklang-general-versammlung-2025