Der globalisierte Parsifal

Michael Eggert:



Das moderne Einweihungskonzept, das auf Jenseitigkeit, religiöse Inbrunst und Exklusivität verzichtet, das Wissenschaft, Psychologe und Politik integriert, geht vom aufgeklärten, selbstbewussten Menschen aus: Es ist eine Spiritualität des Jedermann, eines globalisierten Parzifal. Das fehlende Vertrauen zu sich selbst, die irrlichternden Vorstellungen von Sensationen der Erleuchtung, die schillernden Spiegelbilder alter religiöser Trostbilder sind aber das, was das Naheliegende für uns unbemerkt lässt- die Frage des zeitgenössischen Parsifal als Jedermann wird meist einfach nicht gestellt. Das nahe Liegende, die Kraft am Grund der Verwirrungen, Vorstellungen, Sehnsüchte, ist in jedem Einzelnen präsent- der Schlüssel dazu, es zu bemerken, bleibt jedem Einzelnen selbst überlassen. Die Chance, an den Quell der inneren Stimme heran zu kommen, wird nicht selten verpasst. Jeder ist sich selbst ein Rätsel, das nur er selber lösen kann. Notfalls, bei zu viel Zaudern, kommt es dann aber doch von außen, nicht selten als Schicksalsschlag. Mondknoten können ein Auslöse- Element sein. In Schnittpunkten der Biografie, in Augenblicken höchster Dynamik oder auch Verzweiflung, in Augenblicken, in denen die irrealen Selbstbilder zerbarsten, hatten wir den Spiegel längst in der Hand.

In solchen Augenblicken war das Bild von uns selbst - von „Wirklichkeit“- auf den Kopf gestellt. Schutzlos, ohne bestehendes Selbstkonzept, ohne die bindende Energie des Selbsterhalts, ohne das emotionale Drama, die fortdauernde Ablenkung, fürchten wir, von Schmerz und Chaos überwältigt zu werden- schwach zu sein. Daher muss nicht nur die Fokussierung des Denkens geschult, nicht nur die Bereitschaft zu Unkonventionellem geschult sein, um das „Nichts“ - die wortlose Struktur des inneren Menschen zu ertragen. Vieles vom Tag-für-Tag-Gehangel des geliehenen Ich ist nur seelisch - und daher bedürftig, gebrechlich und in Verteidigungshaltung- und somit unrein in geistiger Hinsicht.

Die Kraft des Denkens - geschult durch Naturwissenschaft, Präzision und Konsequenz- schafft diese Struktur nach und nach- nicht zuletzt deshalb, weil die Distanz zum Gewordenen in uns, dem irrational Selbstbezogenen, dem um sich selbst kreisenden Ego, wächst. Wir befreien uns denkend aus den Selbstdefinitionen, den Rollen- Zuschreibungen, dem biografisch Geprägten, so weit sie unsere Urteilskraft beeinflussen. Die in diesem Augenblick dynamisch einschießenden Kräfte, die dem anderen Pol, dem Existenziellen in uns entstammen, sind mit den oberen Chakren (Stirn, Stierkräfte des Sprachraums, in die Handinnenflächen ausstrahlende Herzkräfte) verbunden, die aber später, im Lauf eines stetigen, gesunden und erstarkenden Prozesses, in uns zusammen fließen. Der existentielle Pol war immer da, hat uns durch die Biografie geführt. Er gab und gibt uns Orientierung und Halt, wenn wir nicht auf billigen Trost aus sind, sondern die klugen, die tragenden Entscheidungen treffen. Wir wissen, wann wir lieben und wann wir lügen. Wir wissen, wenn es ernst wird.

Erst durch Intensität und Ehrlichkeit sich selbst gegenüber kann ein vertrauenswürdiger innerer dynamischer Bewusstseins- Raum entstehen, der nicht von uns geschaffen, von Gefühligkeit, Gier oder Angst korrumpiert ist. Hier, am Wendepunkt der absoluten Stille, ist die Möglichkeit gegeben, in eine fließende, aber strukturierte Dynamik des Denkens (Bewusstseins) einzugehen.

In dieser nun - die empfänglich ist, plastisch, durchströmt von weichem, starkem, aber hell bewusstem Denk- Willen, getragen von einer Mittelpunktkraft des Chakra neben dem Herzen, werden wir ganz - in intellektueller Lauschgebärde- empfänglich. Damit kann - in innerem Aufblühen, in Quellen, die entspringen, in dynamischen Kräften, die wie aus sich selbst schöpferisch entstehen- ein Hineinstellen in die reinen Lebensquellen erreicht werden, die denkend- fühlend- wollenden Charakter haben. Wir leben damit nicht zersplittert, sondern inmitten und im Einklang mit den Kräften, die immer an den entscheidenden Schnittstellen unserer Biografie präsent waren. Es ist nichts Fremdes darin. An diesem Punkt wird das Stehen-im-Aufbrechen, die moralische Kreativität bis in unseren Alltag hinein ragen, in einer tröstlichen, liebevollen, zugewandten Art geistigen Diskurses. Wir wissen, dass wir an der Wurzel angekommen sind- ein ganz eigener Zugang zu einem doch ganz allgemein Menschlichen.

Aus dieser objektiven Wurzelkraft unseres Bewusstseins heraus können wir uns unvoreingenommen den Aufgaben des Alltags widmen.

Ergänzend zu diesen ersten Betrachtungen habe ich von Rudolf Steiner gefunden: "Der Intuition sind wir eigentlich fortwährend unterworfen, nur verschlafen wir das. Wenn wir schlafen, sind wir mit unserem Ich und mit unserem astralischen Leibe ganz in der Außenwelt drinnen; wir entfalten da, jene intuitive Tätigkeit, die man sonst bewusst entfalten muss in der Intuition. Nur ist der Mensch in dieser gegenwärtigen Organisation zu schwach, um dann bewusst zu sein, wenn er intuitiert; aber er intuitiert in der Tat in der Nacht. Wir können sagen: Schlafend ist der Mensch in Intuition, wachend im logischen Denken, aufwachend inspiriert er sich, einschlafend imaginiert er. – Sie sehen daraus, dass diejenigen Tätigkeiten der Erkenntnis, dem gewöhnlichen Leben nicht fremd sind, sondern dass sie durchaus im gewöhnlichen Leben vorhanden sind, dass sie nur ins Bewußtsein herauf gehoben werden müssen, wenn eine höhere Erkenntnis entwickelt werden soll." GA 205.203f