Das ewig Wandelbare und sein Schatten

Grob gesprochen stellt sich der Mensch in Rudolf Steiners Darstellung als polares Wesen dar: Die physische Verkörperung stellt dabei nur den einen Pol dar: im anderen, dem des verstorbenen, vollkommen in den Sternenhimmel ausgegossenen Wesens, spiegeln sich die charakteristischen irdischen Fähigkeiten wie die des Gehens, Sprechens und Denkens.

Das irdische Sprechen z.B. - als Selbstausdruck eines Inneren- wird, nach Steiner am anderen Pol, ein produktiv- schaffendes Sprechen nach Innen, ein Spiegeln der Weisheit des Logos. Das Pendeln zwischen diesen Polen ist nur ein Charakteristikum dieses Menschenbildes- ein zweites ergibt sich aus den spannungsreichen Übergängen, die so oder so, immer schmerz- besetzt sein müssen, solange das menschliche Bewusstsein nicht kontinuierlich wird. Das ist die Lernkurve, die eigentliche Herausforderung im Verständnis der Rosenkreuzer.

Aus all dem ergibt sich die Vorstellung eines Grenzgängers und ewig Wandelbaren, der sich anpasst an jede etwaige Umgebung - das von Steiner aufgezeigte Spektrum umfasst durchaus die Maße des planetarischen Systems.

Das ewig Wandelbare - die menschliche Essenz - kann wegen ihres eigentlich sakralen Charakters missbraucht werden. Für Steiner liegt in der Realisation des Wandelbaren die Wahrnehmung des Anderen, des Du: Das Hinein- Versetzen ist, ob am einen oder anderen Pol des Lebens, immer die zentrale Ebene jeglicher Kommunikation und bewussten Wahrnehmens.

Der Missbrauch liegt nach Steiner* vor allem darin, die eigene Intuitions- Fähigkeit einzusetzen, um Andere zu manipulieren oder in ihren eigenen Entwicklungs- Möglichkeiten im Sinne von Macht und Missbrauch zu beschränken. Es sei ein „Unrecht“, „das man seinen eigenen Willen in ungerechtfertigter Weise zum Herrn über andere macht“ (S. 64). Gerade durch die Lüge gewinne man „eine gewisse Macht über ihn (den Anderen, ME)“. Alles Böse, der Missbrauch der „besten, heiligsten Kräfte“ (dito) sei „die unrechtmäßige Anwendung dieser Verwandlungskräfte“ (dito). Manipulative Macht entsteht also aus einer doppelten Korruption heraus, die auch das eigene „Wandelbare“ einschliesst. Sie fesselt auch den, der sie ausübt.

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* Rudolf Steiner, Okkultes Lesen und okkultes Hören, Dornach 1987, GA 156