Springende Punkte. Von der Geburt und vom Himmel

Paul Klingenberg hat mich auf den Ursprung der Redewendung vom „springenden Punkt“ hingewiesen, im Kontext zu den Punkt- Umkreis- Meditationen, die hier im Blog angestellt wurden, aber auch zu einem Buchprojekt von ihm (1). Jedenfalls geht es bei dem Punkt ursprünglich um die in einem befruchteten Ei erste, plötzliche Sichtbarwerdung des Lebens im wortwörtlichen Sinn: „Der Ausdruck springender Punkt wurde ursprünglich zur Bezeichnung eines biologischen Phänomens geprägt. Das punctum saliens oder der springende Punkt ist in diesem Sinn ein pulsierender roter Fleck, der beispielsweise im befruchteten Hühnerei etwa nach dem dritten Tage der Bebrütung mit bloßem Auge zu erkennen ist, als erstes auffälliges Zeichen des Lebens: die Herzanlage des Embryos wird sichtbar, ihre physiologische Funktion macht sich bemerkbar.“ (2) Diese Beobachtung geht auf Aristoteles zurück, der diesen „blutigen Fleck in dem Weißen“, der „hüpft“ zuerst beschrieben und als Herz beschrieben hat (7). Unübertroffen in seiner exakten Poesie aber erscheint die Beschreibung des Phänomens durch William Harvey (1651), der das „Feuerfünkchen“ beschreibt, in dem das Leben so erscheint, dass ein Übergang vom pflanzlichen zum tierischen Leben geschaffen wird: „Wenn du es so am vierten Tage untersuchst, wird die Metamorphose schon größer erscheinen, und die Umwandlung bewundernswürdiger; und sie wird beinahe mit jeder einzelnen Stunde dieses Tages augenscheinlicher; um diese Zeit findet im Ei der Übergang vom pflanzlichen Leben zum tierischen Leben statt. Jetzt nämlich errötet der Saum von Eiweiß, eine dünne Linie blutig purpurfärbend: und nahezu in dessen Mitte schnellt ein blutiger Punkt springend hervor: so winzig, dass er im Moment seiner Diastole, wie das kleinste Feuerfünkchen, hervorleuchtet; und dann, in der Systole, dem Blick wieder völlig entflieht und verschwindet. So wenig ist der Beginn tierischen Lebens, so sehr unerblickt die Anfänge, die von der schöpfenden Kraft der Natur zustande gebracht werden!“ (2)

Ja, die Anfänge, das (scheinbare) Erschaffen aus dem Nichts, die Übergänge, die Materialisation: Der Augenblick, an dem der Gedanke einen Ort findet, eine Erscheinung, eine Form - der Punkt, der zu vibrieren beginnt, ein Tropfen Blut in der Weiße des diffusen Eiweiß- Gels, der die Zeitlichkeit eröffnet; ein Leben. Übergänge hier wie dort; Übergänge dort, wo gerade noch kein Ort und keine Vergänglichkeit sichtbar waren. Der Fall in die Dichte, in die Erscheinung. Ich denke es hin und her, es verdichtet sich in mir gedanklich, und vor dem inneren Auge erscheinen Orte, an denen für mich etwas begann.

Zum Beispiel die Hochebene hinter Nizza. Man fährt den steilen Aufstieg nach Gourdon, läßt das Auto stehen, und wagt sich höher ins Kalkgebirge der Seealpen hinauf. Ein steiler, von Felsbrocken gesäumter Weg, der bei Regen und im Winter schwer passierbar sein dürfte, schon wegen der Abgänge des lockeren Gesteins. Endlich, oben, eine weite, fast weiße Ebene, durchbrochen von Kalksteinen und von dem duftenden Bewuchs wilder Kräuter. Wenn man sich umdreht an der Felskante, liegt unter einem der schier endlose Blick ins flirrende Blau des Mittelmeeres, der Küste und der nervösen Städte. Ins Auge springt der mittelalterliche, in den Fels geschlagene Ort Gourdon. Von hier hat man früher die Küste beobachtet, vorsichtig angesichts drohender Invasoren und Piraten. Die Legende sagt, dass hier, vor Cannes, selbst Magdalena mit einigen Aposteln gelandet sein soll, um das Christentum nach Europa zu tragen. Sie wird nicht der Grund gewesen sein, dass hier, auf der Hochebene, ein schnurgerader Fluchtweg ins unüberschaubare Grün der Wälder der Seealpen führt, dorthin, wo heute wieder Wölfe streifen sollen. Es geht, auch in der sommerlichen Hitze, ein starker Wind, wenn wir dem Weg folgen. Hier wird nur knorriges Gestrüpp bestehen. Man sieht die aussichtslosen menschlichen Versuche, das Meer von Kalksteinen zu Mauern aufzutürmen- vielleicht um in Zeiten der Belagerung ein wenig karge Felderwirtschaft zu betreiben. Aber selbst die Eichen, die uns auf dem Weg immer mehr umgeben, erscheinen geduckt, karg und gedrungen- zwar halten die Steine die Feuchtigkeit, aber der Wind und die hohe Sonne zerren und kondensieren die duftenden Öle im wilden Thymian- die Ebene ist ein Ort, an dem die Feuergeister regieren. Nun beginnt der Weg zu schlingern und Buckel zu machen, wird versteckter, mäandernd und läßt mehr und mehr Bewuchs zu. Endlich sind wir gänzlich eingehüllt von Eichen. Man ist etwas vorsichtig, wenn man sich niederlässt, weil nicht sicher ist, was im Dickicht unter einem Steinhaufen Schatten suchen mag- nur Salamander oder auch eine Schlange?

Einmal, ein einziges Mal, fand ich den springenden Punkt. Es war ein sommerlicher Tag, wir waren den Weg marschiert, der Wald war dicht geworden. Hier verlor sich die deutliche Spur, die der Pfad am Anfang zog, in dichterem Schatten und immer felsigerem Grund. Bald würde ein Tal folgen, an dem man sich entscheiden musste, ob man ihm folgte, um nach dem Abstieg vielleicht wieder auf einen Weg zu stoßen, oder eine andere Richtung wählte. Unter dem inzwischen massiven Bewuchs war der Boden feucht, der Blick eingeschränkt. Wie aus dem schattigen Nichts trat ich in eine Lichtung hinein, in der nicht nur das Licht zu pulsieren schien: Dutzende von Schmetterlingen tanzten in Spiralen auf und nieder und zelebrierten in einem ureigenen Rhythmus den Feuergeistern ein choreographiertes Stück, das zu atmen und zu tönen schien. Die Bezauberung, mitten darin zu stehen, hielt nicht lange vor- allmählich zerstreuten sie sich, die unhörbare Musik verklang, der Tanz verebbte, und endlich blieben nur die Sonne, Felsen und einige hastige Eidechsen in den Kräutern.

War das ein Beginn? War das ein Ort, ein springender Punkt? Freilich, in Momenten wie diesen übersteigt sich die vertraute Natur so, dass man ihren Herzschlag zu vernehmen vermeint- die Schönheit wird ebenso offenbar und offensichtlich wie die Flüchtigkeit des Augenblicks. Ein Augenblick wie dieser - und andere, gesättigte, sinnliche Momente, wirken aber auch wie ein Anker im eigenen Inneren.

Falls man - auch nur probeweise - geneigt sein sollte, Rudolf Steiner gedanklich zu folgen, lernt man einen Standpunkt kennen, nach dem die menschliche Existenz ein ständiger „springender Punkt“- ein immer wieder in Form und Gestalt gehülltes, aber auch wieder ausgestülptes Selbst- ist, zu dem eine Existenzform gehört, in der derselbe Mensch sozusagen Umkreis - oder Himmel- ist: „Hier steht der Mensch an einem Punkte der Erde, richtet die Sinne hinaus, und dann geht das Schauen oder das Hören in die Weiten hinaus. Er sieht also von dem Mittelpunkte, in dem er sich befindet, hinaus in die Weiten. Gerade umgekehrt ist es im Leben nach dem Tode. Da fühlt der Mensch, wie wenn er mit seinem ganzen Wesen ausgebreitet wäre, und was er anschaut, das ist eigentlich der Mittelpunkt. Er sieht auf einen Punkt hin. Es kommt eine Zeit für den Menschen zwischen dem Tode und der neuen Geburt, wo er einen Kreis beschreibt, der den ganzen Tierkreis durchläuft. Da schaut er gleichsam von jedem Punkte des Tierkreises, also von verschiedenen Gesichtspunkten aus, auf seine eigene Wesenheit hin und fühlt sich dann so, wie wenn er gleichsam aus den einzelnen Partien des Tierkreises die Kräfte schöpfen würde, die er auf seine Wesenheit ergießt, damit diese das hat, was sie für die nächste Inkarnation  braucht. Man schaut also von dem Umkreis auf einen Mittelpunkt hin.“ (3)

Den Augenblick völligen Ausgegossenseins, der vollständigen Hingabe bis hin zur Selbstvergessenheit nach dem Tod, der absolute Gegenpol zum Punkt- artigen Inkarniertsein des Gegenstandsbewusstseins, nennt Rudolf Steiner die „Mitternachtsstunde des Daseins“. Es handelt sich danach um eine Verfassung, in der der Mensch so Umkreis geworden ist, dass sich selbst die Erinnerung an das eigene Ich zu verflüchtigen beginnt. Aber auch in dieser Situation erscheint etwas wie ein springender Punkt, eine Befruchtung im Ausser- Sich- Sein, ein Wendepunkt: Es entspringt die grösste „Sehnsucht .. nach Außenwelt“ (4) Diese treibende und bis zur Geburt stetig wachsende Gier nach Außenwelt, ja nach „Realität“ (5) wird vor allem bestimmt vom Wunsch, selbständig denken zu können und damit als autonomes Wesen zu agieren: „Durch diesen Wunsch also, wiederum denken zu können, kommt der Mensch in die physische Erdenverkörperung herein“ (5). Kann man sich vorstellen, Nacht für Nacht, in der Tiefschlafphase, von dieser Leidenschaft gepackt zu werden, wieder als ein selbständig denkendes Ich zu erwachen? Und kann, auf der anderen Seite, die Autonomie, das vollständige Eingesponnensein in die eigene Biografie, nicht zu eben derselben Sehnsucht werden, die Perspektive wieder zu erweitern? So schildert Rudolf Steiner eine Art existentiellen, aber leidenschaftlichen Gezeitenwechsel, einen Atemschlag, ein immer neues Befruchtetwerden: Der Mensch als sich selbst aus und ein atmendes Wesen.

Das - die Entdeckung von Orten und einer Sinnlichkeit, die die Leidenschaft in der Mitternachtsstunde entzünden könnte, kann ein steter Begleiter sein. Die Sinnlichkeit eines Duftes wie der eines pilzigen Waldbodens, eines Tages am Meer, der nach Salz, Tang und Muscheln riecht, der ölige Geruch des wilden Thymians auf dem Höhenweg: Das alles sind, wie so vieles andere, Eindrücke, die mich in der tiefsten Selbstvergessenheit erreichen könnten, führen und erfüllen. Das Spiel des Lichts, die lockende Sonne im Frühjahr, die zaghafte Offenbarung der ersten Blüten: Die unsagbare Schönheit des Augenblicks.

Und tatsächlich beschreibt Rudolf Steiner auch den Tanz der Schmetterlinge und den Vogelflug als Chiffren, die das mit Leidenschaft erfüllte kosmische Wesen locken, ja geradezu anziehen, sich neu zu verpuppen und in Gestalt zu hüllen: „Wenn der Mensch sich anschickt, herunterzusteigen aus der geistigen Welt in die physische Welt, da ist zunächst die Schmetterlingskorona, diese eigentümliche Ausstrahlung von vergeistigter Erdenmaterie, die den Menschen ins irdische Dasein ruft. Und die Strahlen der Vogelkorona, die werden mehr empfunden wie Kräfte, die hereinziehen. Die Erde lockt gewissermaßen den Menschen zur Wiederverkörperung herein, indem sie die Leuchteausstrahlung der Schmetterlingskorona und die Strahlung der Vogelkorona hinaus schickt in den Weltenraum.“ (6)

Und wieder wird das „Feuerfünkchen“, das wir sind, entfacht.



Anmerkungen & Verweise

1 Paul Klingenberg, www.klingenbergverlag.at „Das ist der springende Punkt. Notizen“ 2019 ISBN 978-3-903284-03-6. Das Büchlein ist tatsächlich als eigenes Notizbuch gedacht!
2 https://de.wikipedia.org/wiki/Springender_Punkt
3 Rudolf Steiner, Das Leben zwischen Tod und neuer Geburt im Verhältnis zu den kosmischen Tatsachen, GA141, 1983/4, S. 74
4 „Da wo unsere Sehnsucht am größten sein muß nach Außenwelt, weil wir am meisten in die Einsamkeit eingetreten sind, in der Mitternachtsstunde des geistigen Daseins, da ist es dasjenige, was eigentlich nur in den geistigen Welten wallt und wogt und lebt, da ist es der Geist, der an uns herantritt und unsere Sehnsucht in eine Art von Seelenlicht verwandelt. Bis zu diesem Zeitpunkt müssen wir den Zusammenhang mit unserem Ich bewahren. Wir müssen gleichsam die eine Erinnerung bewahren: Du warst auf Erden dieses Ich. Dieses Ich muß einem als Erinnerung bleiben. Daß man das kann in unserem Zeitenzyklus, hängt davon ab, daß der Christus die Kraft in die Erdenaura hineingebracht hat, welche sonst nicht aus dem irdischen Leben mitgebracht würde, die Kraft, die uns befähigt, die Erinnerung bis zur Mitternachtsstunde zu bewahren. Lange bevor die Mitternachtsstunde eintritt, würden wir vergessen, daß wir ein Ich gewesen sind im letzten Leben. Wir würden den Zusammenhang mit der geistigen Welt fühlen, würden aber uns vergessen. Und das ist da- durch bewirkt, daß wir auf Erden eben wirklich unser Ich so stark entwickeln. Indem wir auf Erden immer mehr und mehr zu unserem Ich-Bewusstsein kommen, verbrauchen wir die Kräfte, die wir nötig haben nach dem Tode, damit wir wirklich bis zur Mitternachtsstunde uns nicht vergessen. Daß wir diese Erinnerung bewahren können, dazu müssen wir in den Christus hinein sterben. So mußte der Christus-Impuls da sein: Er erhält uns bis zur Mitternachtsstunde des Daseins die Möglichkeit, unser Ich nicht zu vergessen. Wenn wir die Erinnerung an unser Ich hineintragen bis zur Mitternachtsstunde des Daseins, bis dahin, wo der Heilige Geist an uns heran kommt und uns den Rückblick und den Zusammenhang mit unserer eigenen inneren Welt wie mit einer äußeren Welt gibt, wenn wir diesen Zusammenhang bewahrt haben, dann kann uns der Geist nunmehr bis zu unserer Wiederverkörperung leiten, die wir dadurch herbeiführen, daß wir unser Urbild in der geistigen Welt bilden.“ Rudolf Steiner, GA 153.176f
5 „Der Mensch kommt, wenn die Zeit für eine Erdengeburt wiederum herannaht, in einen Zustand als seelisches Wesen, der sich nur vergleichen läßt mit jemand, der beginnt an Gedächtnisschwund zu leiden, der also gewissermaßen schnappt nach seinen Erinnerungen und sie nicht finden kann. So schnappt der Mensch, wenn das Erdenleben wiederum herankommt, nach Realität, nach Erfülltsein mit Realität. Er schnappt gewissermaßen nach den Vorstellungen, die immer dumpfer und dumpfer werden, während der Wille immer mächtiger und mächtiger wird. Und dieser Wunsch der treibt ihn nun zu der Erdenverkörperung hin, zu einem Erdenorganismus, der ihm durch die Vererbungsströmung gegeben wird. Den kann er jetzt als Werkzeug gebrauchen, der gibt ihm die Möglichkeit, wiederum zu denken, allerdings jetzt nur zu denken über eine physische Außenwelt, aber doch das Vorstellungsleben wiederum zu entfalten, das dumpf geworden ist. Durch diesen Wunsch also, wiederum denken zu können, kommt der Mensch in die physische Erdenverkörperung herein.“ Rudolf Steiner, GA 211.15
6 Rudolf Steiner, GA 230.100f
7 Geschichte der Tiere, s. Verweis 2