Ich sah die Aura des Meisters. Rudolf Steiner, Karma und die Frauen
Nach diesem Erlebnis begann sie konsequent meditativ an sich zu arbeiten, um Steiner ein Jahr später wieder unter die Augen treten zu können: „Aber diesmal hielt ich den Blick bereits aus.“ Mehrmals fragte Rudolf Steiner sie, wie es ihr gehe. Wieder schleicht sie davon, ohne zu antworten. Aber diese Scham ist etwas, was sie, die Atheistin, in Steiners Vortrag innerlich beschwingt und belebt: „Ich sah die Aura des Meisters.“ Später trat Steiner auf sie zu, reicht ihr die Hand und drückt seine Freude über die Begegnung aus. Von nun an bis zu Steiners Tod besteht diese Beziehung in immer neuen Begegnungen.
Die anfängliche Scheu gegenüber dem „Meister“ schwang bald um in ein sehr vertrautes Verhältnis. Julie besprach ihre intimsten Probleme mit ihm, erhielt im Gegenzug aber auch persönliche Meditations- Anweisungen. Als die jahrelange Affäre ihres Mannes mit einer anderen Frau offenbar wird, die zudem in ihrem Verhalten schwierige Züge im Sinne eines Borderline- Syndroms zeigte, riet Steiner Klima, sich mit dieser Frau anzufreunden. Julie Klima befolgte nicht nur diesen Rat, sondern ließ diese Frau in ihrer Wohnung, bei der Familie, die ohnehin nur mit Mühe funktionierte, einziehen. Es folgte ein jahrelang anhaltendes, quälendes Psychodrama bis zum Tod des Mannes, das Steiner immer wieder beratend begleitete. Klima funktionierte faktisch als Dienstpersonal für die Liebesbeziehung ihres Mannes- eine Rolle in extremer persönlicher und sexueller Demütigung. Julie Klima wird aber zugleich zur ersten Anlaufstation für die Familie Steiner, Polzer-Hoditz und andere spirituell relevante Personen in Prag. Klima sagt über diese Situation: „Es war die schönste Zeit meines Lebens.“ Steiner diente weiterhin und bei jedem Besuch als unentbehrlicher Familientherapeut. Er sagte zu Julie Klima: „Ihr Fall ist eine Tragödie. Aber wollen Sie denn keine Tragödie erleben? Nur banale Menschen erleben keine Tragödien.“ (1)
Einen besonderen Höhepunkt erreichte die Beziehung zwischen Julie Klima und Steiner bei einem langen Ausflug zur Burg Karlstein 1918. Steiner war bester Laune, zeigte aber auch schon mal Differenzen im Verhältnis zu seiner Frau Marie, die allerlei esoterisches Zeug zum Besten gab: „Renommieren Sie schon wieder?“ In der Kapelle von Karl IV. empfand Julie „plötzlich ein wunderbares Seligkeits- Gefühl in der Nähe des Meisters“ (1)- sie zieht sich wie alle anderen dezent und sensibel zurück, damit Rudolf Steiner die esoterische Situation angemessen und in Stille auffassen und geniessen konnte. Steiner bestätigte später im Anblick der Fresken, dass darin die Chymische Hochzeit des Christian Rosenkreutz dargestellt werde.
Julie Klima gehörte zu denen, die mit Steiner innerlich mitgingen, ihm Freundin und Begleiterin waren. Es gab diese sehr persönliche Ebene, für die sie sich, als er kränker wurde, auch schämte, aber auch eine Ebene des Erkennens und Anerkennens, die ihre Darstellung so einzigartig macht. Sie war Rudolf Steiner zu wichtigen Zeitpunkten eine treue und innerlich mitempfindende Freundin. Man spürt das bei ihr in jeder Zeile. Aber ihre Rolle war zugleich auch die einer Adeptin, die jede Rolle anzunehmen bereit war, solange diese dem spirituellen Fortschritt in den Augen ihres Meisters diente.
So kann man Rudolf Steiners Ratschläge auch als übergriffig empfinden gegenüber einer derart devoten persönlichen Schülerin. Die psychisch auffällige sexuelle Rivalin nicht nur in ihr Haus aufzunehmen, sondern sich mit ihr anzufreunden und ihr Heim über Jahre ihres Lebens zu einem Ort der persönlichen Hölle und permanenter Auseinandersetzungen zu machen, erscheint mehr als nur ein wenig unterwürfig. Diese persönliche „Tragödie“ zum Status Quo zu machen, hatte für Julie Klima aber den Vorteil, im Mittelpunkt der anthroposophischen Bewegung in Prag zu stehen, da sie zur dauernden Gastgeberin für die führenden Mitglieder wurde. In diesem Sinne waren die „Seligkeits- Gefühle“ in einer Umgebung, in der Rudolf Steiner dann wieder Erzählungen vom höchsten Meister Christian Rosenkreutz zum Besten gab, nur konsequent. Das Sich- Opfern für die sexuellen Eskapaden Anderer und keusche Seligkeit gegenüber den Meistern zu empfinden, zugleich als dienstbarer Geist jederzeit zur Verfügung zu stehen- das hat Julie Klima zur idealen Besetzung der Rolle der anthroposophischen Repräsentantin gemacht. So öde und anti- emanzipatorisch diese Frauenrolle damals gewesen sein mag, so ist sie in der Zwischenzeit noch viel mehr aus der Mode gekommen- ganz gleichgültig, was die Meister sagen.
Etwas übergriffig können auch die verliebten Avancen des alternden Meisters Steiner gegenüber der attraktiven, aktiv in die anthroposophische Bewegung involvierten Ärztin Ita Wegman erscheinen, der Steiner am Ende seines Lebens eine immer größere Rolle für die Zukunft der anthroposophischen Bewegung zugedacht hatte. Das ist grandios in endlosen giftigen Auseinandersetzung, unter anderem mit der schrillen Ehefrau Marie Steiner- Sivers- die, nach Steiner, so gern „renommierte“, d.h. mit spekulativen Esoterik- Geschichten angab- gescheitert. Es endete lange nach Steiners Tod mit dem Ausschluss Wegmans und ihrer verbliebenen Freunde. Aber zurück zu den Fallstricken zu Lebzeiten des Meisters.
Wie viele Beziehungen, Ehen, angeblich platonische Liebschaften, Verhältnisse mit magnetischem Anziehungsband sind vor anthroposophischem Hintergrund schon geschlossen oder beendet worden? Viele dieser Menschen fühlen sich ja als sehr ernsthafte, ehrenwerte Persönlichkeiten und sehen sich als - in esoterischem, kulturellem oder „menschheitsgeschichtlichem“ Sinne - Speerspitze, als Chosen One, als Repräsentanten des esoterischen Zeitgeistes an. Daher braucht es eine höhere Warte, eine geistige Perspektive, um das vielleicht nicht ganz integre, zumindest aber schlichte sexuelle Verlangen aufzuwerten, quasi zur kosmischen Notwendigkeit zu machen- denn wer kommt schon gegen das Karma an?
Daher wird das Verlangen in den Kontext einer karmischen Verwirklichung gestellt: um sich selbst zu rechtfertigen. Rudolf Steiner hat das ja vorgemacht. Wie viele Male in den hundert Jahren anthroposophischer Geschichte wird eine Ehe mit der Begründung beendet oder begonnen worden sein, die oder der Neue sei eine mit einem selbst tief verbundene, über Jahrhunderte und Jahrtausende bestehende innige Beziehung? Dies vor allem dann, wenn es sich ohnehin um eine durch Waldorf-, Arztpraxis, Arbeitsverhältnisse, Wohngegenden, Lebensstil, Lesegewohnheiten, spirituelle Bedürfnisse bestehende Subkultur handelt. Ich kenne so gelagerte Freundeskreise, in denen praktisch jede Ehe/ Beziehung im Laufe der Jahre nicht nur mit ähnlichen Begründungen beendet worden ist; die involvierten Personen haben jeweils Partner innerhalb derselben Subkultur ausgetauscht und in der Folge munter weiter gemacht, in einem anhaltenden anthroposophischen Sex- und Familien- Reigen. Von außen betrachtet sieht das aus wie ein Bäumchen- wechsel- dich- Spiel und kann zu komplizierten Arrangements bei Einladungen und Festen führen. Nach innen wird nicht selten mit der Karma- Argumentation begründet - vielleicht sogar so empfunden, aber eigentlich ganz schlichten Affekten und dem Wunsch nach Arrangements gefolgt. Schließlich gilt das Steinerwort (15): „Den Egoismus zu überwinden und den Zug nach dem Allgemein- Menschlichen und Kosmischen sich anzueignen, ist nicht so leicht, wie mancher sich das vorstellt.“ Allerdings gilt das vor allem in der Liebe, vor allem, wenn sie den Bedingungen des Karma folgt.
Vor all dem war auch der Meister nicht gefeit. Die schöne, unabhängige, exotische Ita Wegman, aus Indonesien stammend, von der javanesischen „Insel der hundert Vulkane“ (16), traf ab 1902 auf ihren Lehrer Rudolf Steiner, der sie zunächst nicht besonders beeindruckte. Er sprach „kurz und bedeutungsvoll“, „sah mich forschend an“ (16), und so weiter. Aber sie besuchte zunächst „nicht viele seiner Vorträge“, denn „etwas gefiel mir nicht.“ (16) Da wäre sie sich noch Rosa Mayreder einig gewesen, der, wie noch ausgeführt werden wird, Rudolf Steiners Rolle, womöglich auch gewisse suggestive Aspekte in seinem Auftritt, auch ganz und gar nicht gefielen.
Doch zwischendurch tauchte in Wegmans Notizen dann etwas auf, was anders klang, und was zeigte, dass in der Zwischenzeit persönliche Begegnungen stattgefunden haben müssen: „Wir verstanden uns sehr gut.“ (16) Der Biograf van Emmichoven raunt dann auch in anthroposophischer Manier: „Stiegen Schicksalsahnungen in ihr auf, Fragen vielleicht, die bis dahin unbewusst in ihr gelebt hatten, Bilder, die schon immer schweigend in ihr gewesen waren und jetzt zu sprechen begannen?“
So oder so: Es war dann Wegman, die Steiner ansprach mit der alles eröffnenden Frage „Kann man noch mehr von solcher Esoterik erfahren?“ (17) Von 1907 bis 1914 verfolgte Wegman Studien und hatte Beziehungen. Von Steiner war sie 1906, als sie ihm nach Leipzig nach gereist war, brüsk zurück gewiesen worden - „was sie hier suche“ (19). Aber 1914 saß sie - nach Andre Belyi (20) praktisch ständig im Publikum in Dornach: „Zu meiner Beschreibung sagte man allgemein: „Das stimmt, das ist die Wegman. - Wenn das stimmt, dann kenne ich sie sehr genau, ohne je mit ihr bekannt geworden zu sein; über ein Jahr saß sie bei den Vorträgen Steiners in der Schreinerei uns gegenüber, am Fenster, meistens in weißer Bluse und schwarzem Rock; ich glaube, sie war immer allein. Wir begegneten ihr fast jeden Tag.“ Sie wurde in der Folge eine der wichtigsten Ärztinnen im anthroposophischen Umfeld; innovativ, mutig, eine Unternehmerin und Gründerin. Ab 1922 besuchte Steiner die von ihr geleitete Klinik bei jeder Gelegenheit- es kam zu seinem Lebensende hin zu einer intensiven Zusammenarbeit zweier selbständiger Persönlichkeiten. Wegmans Temperamentsausbrüche waren legendär- Steiner selbst sprach von ihrem „Gestrüpp“. Sie selbst meinte dazu selbstbewusst: „Es wird dem Doktor noch leid tun, wenn ich zu sanft geworden bin.“ (17)
Dann aber - 1924 - trat Steiner ihr gegenüber mit ganz anderem Ton auf. In Briefen nannte er sie „meine liebe Mysa- Isa“: „Hoffentlich ist das Befinden meiner lieben Mysa gut .. Schön wäre es, wenn Mysa da wäre. Doch man muss diese Dinge eben „vernünftig“ einrichten.“ (Brief aus Prag, 1.4.24) Muss man das? Und war Steiners schwärmerischer Ton nicht auch insofern unvernünftig, als er selbst schon mit dem Kosenamen die karmische Karte spielte? Van Emmichoven erläutert: „Der Name „Mysa“ bezeichnet eine Mysterienpriesterin des Artemistempels in Ephesos im fünften vorchristlichen Jahrhundert. Wahrscheinlich deutet der Name eine Funktion an; Steiner schrieb in manchen Gedichten auch „Artemysia“.“ (21)
Während er in Koberwitz „Karmavorträge“ (Brief 8.5.24) hält, schreibt er an Wegman „Bei allem ist mein guter Freund M-I. bei mir, und meine Gedanken gehen zu ihr.“ (22) M-I ist ein Kürzel für „Mysa-Ita“. Wenige Tage später (10.6.24) schreibt er Wegman: „Du gehst als Freund mit mir in geistige Welten.“ (22) Nur einen Tag später wird er explizit: „Es ist so in unserem Karma, dass ich an Dir einen echten, unerschütterlichen Freund finden muss, wenn die Schülerschaft den rechten Weg gehen soll. So will es unser Karma. Wenn dies Karma zunächst einen tragischen Zug haben muss, so wird das nach keiner Richtung in der Zukunft mehr hemmend sein können. Es ist ja gewiß traurig, daß Du nicht schon früher mit mir zusammen kamest..“ (22). Er erklärt Wegman, dass „wir“ „vorher“ große Impulse zu verwirklichen gehabt hätten, die Wegman auf ihre Art verwirklicht hätte. Er schreibt offensichtlich von einer gemeinsamen karmischen Vergangenheit: „Als Du damals von mir gingst, war viel von mir genommen. Die Jugend, die in Dir an meiner Seite stand, ward von mir genommen. Ich war in keiner Inkarnation so alt als damals. „Mit ihm ist mein Herz über den Pontus gegangen“. Das war meine Stimmung.“. (22)
Es ist viel spekuliert worden, ob Steiner an dieser Stelle über Aristoteles und den jungen Alexander schreibt - „Pontus“ als Beginn der Reise Alexanders Richtung Asien. Wie dem auch sei, handelt es sich zugleich um einen Liebesbrief - „Du schreibst „Wirst du mich jetzt immer lieben bleiben?“ Meine liebe Mysa: Diese Liebe ruht auf dem unerschütterlichen Fels. Sie ruht ja auf dem, was Deine Wesenheit mir offenbart. Und das ist viel, sehr viel.“ (Koberwitz, 11.6.24) Steiners Beziehung mit Wegman strebt nun nach etwas ganz Einzigartigem: „..ich konnte doch zu keinem Menschen so stehen wie zu Dir. Du lernst mich auch ganz anders noch kennen als andre Menschen mich gekannt haben, oder kennen. Daß da manchmal sich in unser Zusammensein etwas gemischt hat, was Du vielleicht nicht haben wolltest, das hängt doch damit zusammen, daß ich nur im vollen Eins- sein mit Dir leben möchte.“
Die erhaltenen Briefe Wegmans wirken dem gegenüber kühl. Steiner zitiert sogar Wegmans Reaktion „Du sagst: „Es ist nicht immer gut alles zu schreiben“, in der sie ihn offensichtlich zur Zurückhaltung auffordert, und implizit eine Grenz- Überschreitung auf seiner Seite zurück zu weisen versucht- auch wenn das gegenüber einem Meister, der mit karmischen Verweisen, die nur ihm zugänglich sind, denkbar heikel ist. Tatsächlich hat diese Mysa- Geschichte ja nach Rudolf Steiners Tod wenige Monate später zur völligen Ausgrenzung Ita Wegmans geführt. Wegman ist vor allem von Steiners Ehefrau Marie Anmaßung spiritueller Art und Behauptung einer karmischen Rolle vorgeworfen wurde. Wegman konnte gerade wegen Steiners schwärmerischer Bedrängung seiner Ärztin gegenüber die Rolle, in der sie sich und er sie sah, nicht ausleben, sondern wurde zur Geächteten innerhalb der bigotten Szene, mit der sich Steiner umgab.
Ita Wegman scheint durch Rudolf Steiners Umdeutung ihrer jahrelangen Arbeits- Beziehung nicht nur überfordert gewesen zu sein, sondern von ihm auf eine übergriffige Art und Weise bedrängt und in eine Rolle gedrängt worden zu sein, die ihrem zupackenden, konkreten und rationalen Naturell zuwider lief. Sie konnte sich kaum gegen die karmischen Zuordnungen ihres Lehrers, die dieser so explizit vorbrachte, wehren. Offensichtlich brachte er auch Hoffnungen auf Liebe, Freundschaft, gemeinsame Zukunft und einen Neuanfang für sich selbst ins Spiel. Ebenso offensichtlich sind Steiners Einsamkeit, das Gefühl des Eingeengtseins, seine Erschöpfung und Überforderung. Aus seinen Liebesbriefen spricht ein Mensch, den selbst die Umschwärmte eher als Lehrer zu sehen gewohnt war.
Dass es in manchen Beziehungen Rudolf Steiners zu Frauen auch in anderer Hinsicht unrund lief, zeigt seine Beziehung zu Rosa Mayreder, einer alten Freundin, die sich scharf von ihm distanzierte, nachdem er seine Meister- Rolle angenommen und Hellseher geworden war.
Rosa Mayreder ist bekannt als frühe Frauenrechtlerin. Dass Steiner auch später in „glowing terms“ (2), also geradezu schwärmerisch von ihr sprach, hat sie nicht davon abgehalten, ihn ihrerseits mit geradezu verächtlichen Bemerkungen zu beschreiben. Sicherlich hatte ihre Freundschaft in gewisser Weise Bestand; Mayreder besuchte ja auch in Steiners theosophischer Lebensphase Vorträge von ihm. Sie war offensichtlich „someone who really didn´t understand him“ (3)- womöglich, weil sie die Propheten- Rolle nicht bei ihm akzeptieren konnte. Dass Steiner ihr trotz aller Differenzen freundschaftliche Treue hielt, bringt auch Lachman zu der Annahme, er sei wohl „incredibly lonely“ (4) gewesen, „accepting whatever companionship he could find, even if it was with someone incompatible“ (4). Lachman deutet immer wieder Steiners angebliches Faible für ältere Frauen an, was nach Steiners erster Ehe naheliegend ist. Auch Rosa Mayreder „was an older, accomplished, and fiercely independant woman“ (5), die ihn - nach Lachmans Spekulationen - attraktiv fand und ihn an seine Mutter erinnerte: „Was he seeking acceptance?“ (6) Wer weiss.
Offensichtlich entspricht Steiner nicht Lachmans Vorstellungen von jemandem, der klare, eindimensionale und widerspruchsfreie Beziehungen pflegt. Mayreder schätzte immerhin mindestens eine Seite an Steiner, da er „zuerst meine literarische Begabung anerkannte“ (7). Er hat Mayreders literarische Ambitionen also entdeckt, und zwar mit den Worten: „Sie begehen eine Sünde, wenn Sie Ihrer schriftstellerischen Begabung auch nur eine Minute durch die Malerei entziehen“ (8).
Allerdings ging Steiner mit ihren Manuskripten schlampig um. Beide beschäftigten sich früh mit Theosophie und ihren Auswüchsen, und beide hielten davon sehr wenig. Steiner erklärte Theosophie schlechthin für „Schwachgeistigkeit“, die zudem „Gefahren für die geistige Entwicklung mit sich bringe“ (9). Für Rosa Mayreder muss es ein echter Schock in der Beziehung zu Steiner gewesen sein, dass dieser Mann, mit dem sie so viele rationale Diskussionen geführt hatte, sich nach der Jahrhundertwende „selbst der theosophischen Bewegung“ (10) anschloss und sie letztlich anführte. Zu diesem Zeitpunkt hatte die gemeinsame Freundschaft schon über 10 Jahre bestanden. Von Jahr zu Jahr wurden Mayreders Bemerkungen in Bezug auf Steiner nun schroffer; 1918 vergleicht sie ihn mit dem Insassen einer Irrenanstalt, 1922 erlebt sie auf einem Vortrag von ihm nur „leeres Gerede, Phrasen und Andeutungen übersinnlicher Fähigkeiten“ (11). Ihren Freund und Gesprächspartner kann sie da in ihm schon nicht mehr erkennen.
Nach seinem Tod aber verschärft sich ihr Urteil nochmals - die „Bilanz“ dieser 35 Jahre währenden Beziehung „bleibt trotzdem nichtig“. Lag dieses Urteil tatsächlich nur an dem theosophisch- anthroposophischen Schwenk ihres alten Freundes? Gab es, wie der spekulierende Lachman anzudeuten geneigt ist, gewisse amouröse, aber unerfüllte Ambitionen von ihr? 1936 schreibt Mayreder nochmals von Rudolf Steiner. Ihre Abneigung hat sich verfestigt. Sie äußert nun aber auch den Grund: Steiner habe in Bezug auf „zweifelhafte Damenbesuche“ (..) „den Zubringer“ (12) für einen in ihren Augen mindestens ebenso zweifelhaften Freund gemacht. Er war in ihren Augen also nun ein moralisch eher zweifelhafter Typ, bei dem sie zudem aufgrund seiner anthroposophischen Karriere einen „Sprung“ in seiner Weltanschauung konstatierte.
Die gewisse moralische Indifferenz vor der Jahrhundertwende war schon deshalb nicht ganz von der Hand zu weisen, da Steiner mit seinen lustigen Kumpanen wie Otto Erich Hartleben einen „Verbrechertisch“ in einer Kneipe mehr oder weniger zu seinem Zuhause gemacht hatte. Hartlebens Notizen vermerkten, dass Steiner „seine Schlüssel vergessen (hatte), ist mit W… noch ins Cafe gegangen, ist Sonntag betrunken „heimgekommen“..(13) Hartleben trifft eine ältere Prostituierte namens Mathilde neben Steiner auf dem Sofa des Lokals: „und er erzählte, Mathilde sei eine sehr anständige Dame, sie dulde an ihrem Tisch keine unpassenden Reden und beantworte diese wortlos dadurch, dass sie dem Betreffenden sein vor ihm stehendes diverses Getränk über den Schädel gieße“ (14).
Es muss lustig zugegangen sein. Und es war ein weiter Weg von diesen lustigen Zeiten bis hin zu den devoten Jüngerinnen wie Julie Klima, die ihr selbständiges Leben einer Rolle zuliebe opferte, in der sie den bizarren Ratschlägen ihres Meisters folgte. Eine selbständig denkende Frau wie Mayreder hat die Rollenwechsel Steiners nicht ertragen können. Wegman hat die verbale Übergriffigkeit des Meisters wohl um ihrer Arbeit und um ihres Status willen ertragen. Die Funktionalität der Frauen um Steiner herum- auch was die Management- Fähigkeiten von Marie Sivers betrifft- beziehen sich auf eine Matrix, wie sie in einer kult- ähnlichen Vereinigung um einen Meister herum notwendig ist. Entweder man spielte hier mit, oder man ging, wie Mayreder, andere Wege.
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*Dank für den Hinweis Ton Majoors: "Auch Jaroslav Klima spielte noch eine andere Rolle:
Von Vorträgen in Prag 1911 "gibt es inhaltliche Zusammenfassungen der Vortragsinhalte, und zwar in tschechischer Sprache, die auf Veranlassung der Prager Polizei durch den k.k. Polizei-Konzipisten Jaroslav Klima erstellt wurden, der damals für die Bespitzelung religiöser und geisteswissenschaftlicher Veranstaltungen verantwortlich war. Da Klima die deutsche Sprache nur unvollkommen beherrschte, ließ er die entsprechenden Zusammenfassungen von seiner Frau erstellen, die - was die Behörden vermutlich nicht wußten - Mitglied der Theosophischen Gesellschaft war." 69a.314" oder, als Download http://fvn-rs.net/PDF/GA/GA069a.pdf
1 Ludwig Polzer- Hoditz „Erinnerungen an Rudolf Steiner“
2 Gary Lachman, „Rudolf Steiner An Introduction to His Life and Work“ New York 2007
3 Lachman, S. 71
4 Lachman, S. 71
5 Lachman, S. 71
6 dito
7 Vögele (Hrsg), „Der andere Rudolf Steiner“, Dornach 2002 S. 47
8 dito
9 Vögele (Hrsg),„Der andere Rudolf Steiner“, Dornach 2002, S. 48
10 dito
11 Vögele (Hrsg), S. 50
12 Vögele (Hrsg), S. 51
13 Vögele (Hrsg), S. 86
14 Vögele (Hrsg), S. 88
15 Rudolf Steiner, „Okkulte Geschichte“ S. 60)
16 Wegman, Notizen, in: van Emmichoven, Wer war Ita Wegman, Band 1, S. 45f
17 van Emmichoven, Band 1, S. 102
18 van Emmichoven, Band 1, S. 46
19 van Emmichoven. S. 54
20 Andre Belyi, „Verwandeln des Lebens“
21 van Emmichoven, S. 201
22 van Emmichoven, S. 204ff