Anthroposophen, Querdenker und brüllende Pekinger Tiger

Natürlich ist man als Leser Rudolf Steiners, als Anthroposoph, als jemand, der die intellektuelle Bewusstseins- Entwicklung mitsamt den emotionalen und willentlichen Impulsen, die sich daraus ergeben, seit Jahren studiert, entsetzt von den Differenzen, die im Werk Rudolf Steiners selbst, ja offensichtlich in seiner gesamten Persönlichkeit völlig offen liegen. Der einzige Grund, sie nicht wahrzunehmen, kann entweder nur eine Art Verdrängung unter den Schmerzen der Infragestellung einer bewunderten Person darstellen- oder aber auf eine Ursache verweisen, die systematisch und umgreifend bis in politische und soziale Folgerungen hinein im Sinne eines Querdenkertums als geistig- kollektive Wucherung zu Wirklichkeit- Verlusten bis hin zu wahnhaften Welt- Erklärungsmodellen führt. Aber natürlich auch zu allen möglichen Zwischentönen. Nicht allein Corona, sondern auch zugespitzte Diskussionslagen in sozialen Medien haben nicht gerade zu einer Versachlichung beigetragen. 

Vermutlich wird man in einigen Jahren, wenn die Pandemie so weit verebbt sein wird, dass ein großer Teil der Bevölkerung durch regelmäßiges Impfen einen dauerhaften Schutz gegen das Virus genießt und niemand auch nur besondere Gedanken an das erste Jahr des Auftretens und die teilweise hilflosen Reaktionen, aber auch die absonderlichen Impf- Verweigerer und - Apokalyptiker verschwenden wird, erstaunt bizarre Schriften aus anthroposophischem Hause in die Hand nehmen und Ausbrüche von Waldorflehrern, Philosophen und Professoren in die drei (1) zur Kenntnis nehmen, die die Reaktion von Geistlichen im pandemischen Geschehen mit groben Beschimpfungen zu entlarven glauben und dabei die Kampfschreie vom „totalitären Gesundheitsregime“ ausstossen, wobei sie sich in die Gosse begeben, in der man auch von „hygienischen Zwangsmaßnahmen“ und einer angeblich bestehenden „biopolitischen Käfighaltung“ phantasiert.  „Geistliche Würdenträger, die Gotteshäuser schließen, Seelsorge verweigern, sich öffentlich impfen lassen oder ein totalitäres Gesundheitsregime befürworten, waren bis vor Kurzem kaum vorstellbar gewesen.“ (1) Man fragt sich, ob die Marktschreier, die diese Phrasen der letzten Querdenker- Demo zu Markte tragen, tatsächlich die repräsentativen Intellektuellen der gegenwärtigen anthroposophischen Bewegung sind, die sie zu sein behaupten. Denn so sehr sie sich über „geistlose Möchtegernvertreter einer Pseudospiritualität ohne Grund und Boden“ (1), über eine „eine keimfreie Spiritualität, die so aseptisch sein soll wie das virtuell-vegetative Doppelleben im illiberalen pandemischen Ausnahmezustand“ (1) erregen, so sehr fühlen sie sich selbst verortet in der „selbstlos-selbstbewussten Geistesgegenwart des Menschen“, in einem schroffen Gegensatz zur von ihnen behaupteten Gegenwart eines „keimfreien, klinisch reinen Diskurses – und einer gewissermaßen moralisch linearen Erzählweise, einer sauberen, um nicht zu sagen gesäuberten Geschichtsschreibung, die keinerlei Abschweifungen, Ambivalenzen und offenen Rätsel, keine Mehrdeutigkeit der Zeit-, Raum- und Bewusstseinsverhältnisse aufweisen darf.“ (1) Die Mehrdeutigkeit und logische Ambivalenz, die auch „Kommunikation ohne »Verschwörungserzählungen«“ (1) ablehnt, weil diese ja so keimfrei und aseptisch sei wie die Gesellschaft nach Corona- Impfung, ist offenbar das Markenzeichen dieser neuen anthroposophischen Intellektuellen, die das Zweideutige und gesellschaftlich Antipodische für den Kern ihrer Interpretation von Spiritualität halten. 

In der Realität verlieren die Betriebe und Institutionen mit den Impfgegnern deshalb die Geduld, weil sie zum dritten Mal in Quarantäne sind, Aufträge im Ausland nicht wahrnehmen können und die Kollegen zu ständiger Mehrarbeit zwingen. Aufträge gehen verloren, weil Firmen nicht mit Ungeimpften verhandeln. So geraten die verbliebenen Gegner des „keimfreien, klinisch reinen Diskurses“ zusammen mit Attila Hildmann und anderen Querdenkern immer stärker in die Ecke derer, denen gesellschaftliche Verantwortung gleichgültig ist. Bizarre Welterklärungsmodelle werden auch nicht relevanter, wenn man sich in Parteien wie die Basis organisiert und bei der nächsten Bundestagswahl antreten möchte (2), weil man sich empfindet als „Visionsbeauftragter“ oder als Repräsentant einer wie auch immer gearteten „Schwarmintelligenz“ (2).

Und so ziehen sie dahin, Schwärme von Anti- Opportunisten, die ihre Einzigartigkeit und ihre Opposition gegen den Zeitgeist an jeder Ecke beteuern. Aber lassen wir sie ziehen. Lassen wir die Jungs von ihren hygienischen Zwangsmaßnahmen schwadronieren, ohne an St. Pauli zu denken. Gehen wir einfach durch diesen Jurassic Park, voller alter Wahrsager- Buden, voller Dinosaurier - Knochen, hinter die alten Wohnwagen, wo sie Mumien der Zweig- Vorsitzenden horten, bis zum Tiger- Käfig am Ende. Und wirklich, hier ist noch Leben drin, hier faucht und ruckelt es. 

Da rüttelt er, das schüttelt er die Mähne und steht aufrecht, in all seiner Pracht, das anthroposophische Anti- Gender- Sternchen in Person, der Apokalyptiker Martin Barkhoff. In „Kulmination, Grab und goldene Zeit der Anthroposophie“ (3) sammelt Barkhoff allerlei, oft auch Fragmentarisches oder Briefwechsel, zu einem von ihm kommentierten Reigen von Gedanken- gern provokativ, gern prognostisch in die Zukunft schielend, gern die „ganz großen Linien“ der Gesellschaft und der anthroposophischen Gesellschaft betrachtend. Das Ganze unternimmt er - inzwischen auch in den Sechzigern- als Lehrender für Waldorflehrer in Peking- mit einiger Distanz. Sowohl seine Neigung zur Diagnostik, Prognostik (Barkhoff schwärmt sogar vom „Prophetischen“) als auch das Herauspicken einzelner, vor allem apokalyptischer Erzählungen Steiners, die Barkhoff dann mit der Brechstange auf die Gegenwart zurecht rührt, um aufs immer neue seine Brillanz im Schildern der Widersprüche und Gebrechen von Liberalen, Europäern, dem Westen, den Moralisten in all ihrer „Verlogenheitsflut“ (4) zu erproben, verfremdet und beeinflusst die Darstellungen natürlich von der ersten Zeile an. Dass er für die identitäre „Sezession“ tätig ist, AfD wählt, Alexander Gauland ganz besonders schätzt, mit Caroline Sommerfeld (Sezession) befreundet ist, die Rassismus- Vorwürfe gegenüber Rudolf Steiner als „Lügen- Messer“ (5) bezeichnet und gesellschaftlich für Europa erwartet, dass „das Denken wieder einmal für einige Jahre oder Jahrzehnte verboten wird“ (6), überrascht nicht. Den Amerikanismus sieht er im Rahmen solcher Denkverbote und spannt die großen Steiner- Bögen zur vor- persischen Akademie von Gondishapur und zur Römischen Rechtschreibung, die keine Interpretation oder Auslegung erlaubte. Gerade das (auf die Gesetzgebung bezogene) verhängte römische „Denkverbot“ (7) habe die Grundlage für die im 7. Jahrhundert bedeutende Akademie geschaffen, die über die islamischen Kalifate die Wissenschaft, insbesondere aber die Medizin nachhaltig beeinflusst haben soll. Das sind natürlich bekannte Strickmuster Rudolf Steiners, die Barkhoff ohne weitere Vertiefung oder Recherche dann zu Zitaten führt, in denen sich Steiner von da hin bis einer Prophezeiung hinein steigert, „wenn man das Jahr 2000 geschrieben haben wird, da wird nicht eindirektes, aber eine Art Verbot für alles Denken von Amerika ausgehen..“ (8) Da sehen wir die apokalyptische 3 x 666 - Erzählung Steiners, die im Jahr 1998 die Kulmination des Materialismus und das Ende alles „individuelle(n) Denken(s)“ (8) voraussieht- der Mensch werde „wie eine Maschine behandelt“ (8) werden. Das alles zeige sich, so Barkhoff, in der Behandlung von „Epedemiemassnahmen“ (8) wie der Schweinegrippe; Corona war zur Zeit der Abfassung des Buches noch nicht virulent. 

Natürlich ist Barkhoff auch einer der Vertreter der Russland- Romantik. Ebenso selbstverständlich setzt er gern grobe Antagonismen gegeneinander wie den Ost- gegen den Westmenschen. Wie immer steht im Hintergrund auch in diesem Zusammenhang eine Prophezeiung Rudolf Steiners, nämlich dass sich die in weiter Zukunft stehende nächste Kultur- Epoche, die durch Brüderlichkeit charakterisiert sein werde (aber auch durch materialistische Dekadenz) vor allem im russischen Volk realisieren würde. Der Ostmensch der Gegenwart, schlussfolgert Barkhoff daraus, brauche „soziale Gefäße“ (9) und die Hüllen „von Religionsgemeinschaft, Volkstum und Familie“ (9), in ihm wirke mit tatkräftiger Unterstützung geistiger Wesen „das kommende Sozialmenschentum“ (9). Die „anonyme Gesellschaft“ (9) des Westmenschen dagegen setze stets auf win/win Situationen und rechne alles nach Gewinn und Verlust durch. Der Westmensch suche stets die Steigerung seines Innen- Ichs und versuche, andere wie den Ostmenschen in die Vereinzelung zu treiben, wodurch dieser seine Zukunft- Fähigkeit verliere. Der Westmensch bereite sich unter den „Auspizien der Ahrimaninkarnation“ (9) auf seelisch- kulturelle Verelendung mit weiterer Steigerung des Materialismus vor, wobei er Ablenkung suche durch seine „technisch- magische, gespenstisch reale virtuelle Welt“ (9). Einzig Russland könne sich, glaubt Barkhoff, noch gegen die „Anziehungskraft des Technisch- Zauberischen“ (9) durch seine seelisch- geistige Liebeskultur halten, selbst China und Japan seien dem Bann, der letztlich aus Gondischapur und dem „Gespenst des Römischen Reiches“ (10) stamme, verfallen. Aber es sei absehbar und klar, dass „der Westen“ einen Krieg gegen Russland und China vorbereite, und es sei sogar möglich, dass der äussere Krieg des Westens gegen Eurasien „sehr hilfreich dafür sein wird, dass Eurasien den inneren Krieg gewinnen kann“ (9). Die islamisch- römische Vergangenheit des materialistischen Westens schiebe sich wie eine „Plattentektonik der Zeitalter“ (10) gegen den Osten, der wiederum durch den Druck aus der Zukunft determiniert sei. Die Ideale des Westens seien demgegenüber schal; jeder „Ostmitteleuropäer“ empfände heute die leeren Moralvorstellungen des Westens und die nur geträumte Menschenwürde. Im Westen rennen, wie jeder Ostmensch wüsste, lauter aus der Wirklichkeit gefallene „Selbstheit- Narren“ (11) herum. 

Und wir sind noch lange nicht am Ende. Der Tiger aus Peking brüllt so laut, dass die „biopolitische Käfighaltung“ (1) der drei Kätzchen in die drei wie Miauen wirkt. Nicht nur, dass Barkhoff die „Auflösung Europas durch Migration“ (12) offenbar schon als vollzogen betrachtet, läuft die Inkarnation Ahriman in Amerika für ihn gerade erst richtig an: „Man versteht ihn (Rudolf Steiner, ME) nicht, wenn man sich nicht klar darüber ist, dass er das Nazi- Reich und Stalin als geistige Realitäten vor sich sieht, und diese als Vorhut des unausweichlichen Ahriman- Reiches, das sich in den amerikanischen Imperialismus inkarnieren wird.“ (12) Da ist es kein Wunder, dass, nach den hinterlassenen Worten des Meisters, „furchtbare Zeiten .. der Menschheit in Europa bevor“ stehen, denn „Verwirrung und Verwüstung wird herrschen, wenn das Jahr 2000 heran naht .. Aber dann wird das Jahr 2086 kommt, wird man überall in Europa aufsteigen Bauten, die geistigen Zielen gewidmet sind .. in denen das geistige Leben blühen wird.“ (13)

Apokalyptiker lieben konkrete Jahreszahlen, vor allem, wenn sie ansonsten vage von groben Schubladen wie Ost- und Westmenschen und kulturellen Kontinentalverschiebungen reden, die vom persischen Mani bis zu Alexander Gauland führen. Daher führt Barkhoff auch schnell noch die Jahreszahl 1986 an- das Jahr, in dem die anthroposophische Bewegung ihre größte Ausbreitung und „Kulmination“ erlebte- nur um danach in den offensichtlich 100jährigen Schlaf zu sinken, in dem sie sich gegenwärtig befände. Auch die Ursache klärt Barkhoff spirituell auf: „Man kann sie (die Wende, ME) mit der damaligen Wiederkehr des Halley´schen Kometen zusammensehen. Die ganze Zivilisation wurde schlagartig materialistischer, biologistisch, ergebnisfixierter usw. In diesem Klima schrumpft seitdem auch die geistige anthroposophische Bewegung kontinuierlich, seit dreissig Jahren.“ (14) Aber egal, denn die „Herzens- Samen“ (14) sind ja gestreut, und werden Ende dieses Jahrhunderts dann womöglich aufgehen, wenn Barkhoff und Steiner recht behalten. Bis dahin lehren Thomas Meyer (15) und Martin Barkhoff in Peking über die Geheimnisse des Tao und bemerken: „Da China einst Schauplatz der Inkarnation Luzifers war, begleitete den Reisenden aber auch immerfort die Frage, wie Ahriman in der Zeit seiner jetzigen Inkarnation gerade in China an die Wirkung der Inkarnation seines Bruders Luzifer anzuknüpfen sucht.“ (15) Man weiß es nicht. Meyer verdächtigt weltflüchtige Mächte wie Falun Gong und den Dalai Lama.

 Meyer jedenfalls gehört auch zu den Anthroposophen, denen Barkhoff besonders dankt und die er würdigt. Ob man ihn tatsächlich, in seiner apokalyptischen Rage, zu den „Rechtsintellektuellen“ zählen will, die Claudius Weise in „Auch eine Sezession oder: Geistiger Widerstand als Kapitulation“ in ihrer Rechtsdrift Richtung Identäre beschreibt, möchte ich nach Lektüre des vorliegenden Buches eher bezweifeln. Die resignative Geste allerdings scheint in dieser Drift ein kollektives Muster zu sein, wie Weise schreibt: „Ein ähnlicher Gestus findet sich aber auch bei Anthroposophen wie Martin Barkhoff, dessen Buch „Kulmination, Grab und die goldene Zeit der Anthroposophie“ um den Gedanken kreist, dass die Anthroposophie in der Gegenwart durch ein Todeserlebnis hindurchgehen müsse, um Ende des 21. Jahrhunderts wiederauferstehen zu können.“ (16)

Irgendwann geht es während des Versuchs, sich gegen die Diffamierung von Anthroposophen als Verschwörungstheoretiker. Rechtsextreme usw zu wehren, mit Claudius Weise selbst etwas durch, und er zeigt Verständnis für diese „Allianz, so äußerlich sie gewesen sein mag“ angesichts des von ihm so gesehenen „aggressiven Konformismus, der unsere Gesellschaft zunehmend auszeichnet“ (17). Die Corona- Proteste sieht er wie die Drift nach Rechts als Resultat des abnehmenden „Raum(s) für alternatives Denken“; es sei die Gesellschaft, die Menschen „aussortieren und zum Problem erklären (muss), um von den eigenen Mängeln abzulenken.“ (17) Das Individuum werde wie in der DDR gleichgeschaltet und zu den Feinden der freiheitlich- demokratischen Grundordnung gezählt. Die „geistige Kapitulation“ (17) eines Stephan Siber in seiner heroischen Resignation ist für Weise untragbar, die „Meinungsdiktatur“ des Pekinger Tigers Barkhoff dagegen scheint den Machern des Heftes, den Autoren (1) und der Bewegung als solcher nicht mehr besonders fern zu liegen: „Man wird Barkhoff zugestehen müssen, dass seine Rede von der „Meinungsdiktatur“ heute weniger überzogen klingt als vor drei Jahren.“ (17) 



Verweise_______________________________

1 Philip Kovce, *1986, Ökonom und Philosoph, forscht an den Universitäten Witten/Herdecke und Freiburg i.Br. Andreas Laudert, *1969, studierte Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin sowie Theologie, ist Autor und Waldorflehrer. Salvatore Lavecchia, *1971, ist Professor für Geschichte der Antiken Philosophie an der Universität Udine. In: Ich-Präsenz als Geistesgegenwart Eine anthroposophische Zumutung in diedrei 03 21 S. 6ff

2 https://diebasis.wiki/wiki/Benutzer:Chueck

3 Martin Barkhoff, Kulmination, Grab und goldene Zeit der Anthroposophie. Voraussagen Rudolf Steiners werden Wirklichkeit, Dürnau 2019/ 2

4 Barkhoff, S. 10

5 Barkhoff, S. 72

6 hier als Frage formuliert, Barkhoff, S. 68

7 Barkhoff, S. 60

8 Steiner nach Barkhoff, S. 61

9 Barkhoff, S. 50f

10 Barkhoff, S. 47

11 Barkhoff, S. 45

12 Barkhoff, S. 38

13 Rudolf Steiner GA 284, S. 166 nach Barkhoff, S. 29

14 Barkhoff, S. 26f

15 https://perseus.ch/archive/8031

16 Claudius Weise, Auch eine Sezession oder: Geistiger Widerstand als Kapitulation in die drei Oktober 2020 S. 57

17 Weise, S. 61f