Nicht zu sein ist der Beginn von Allem. Über die Stille
Hat man einmal von der Stille gekostet, mag man sie nicht mehr missen. Es ist, wie in ein duftendes Bad hinab zu gleiten, das Wegfallen der Eindrücke rund herum zu genießen und aufzugehen in der Wärme, dem Wohlgefühl und dem unvergleichlichen Duft. Aber es ist nicht nur etwas Umhüllendes, Schützendes, die Stille verbindet sich auch mit der Stringenz des Geistes und einer gerichteten Aufmerksamkeit. Es gibt nur kein „Worauf“ oder „Wozu“- die Aufmerksamkeit bezieht sich auf sich selbst, fällt auf sich zurück, ist sich selbst genug, gelangt zu ihrer eigenen Tiefe. Der Geist erwacht.
In bestimmten Lebensaltern hat man mit Bestimmtheit mit Wasser, Sturm oder Feuer zu tun (wahrscheinlich mit allem Elementaren), aber die Stille entdeckt man nicht von allein. Eigentlich ist sie es, vor der man sich auch fürchtet. Falls es so aussieht, als ließe sich die Begegnung mit ihr nicht mehr vermeiden, füllt man sie mit Inhalten wie Gefühlen. Man erlebt die Stille nicht, man gleitet an ihr vorbei, man hat einen schlechten Tag. Lieber alles andere erleben als diese Stille, denkt man. Man kommt in ihr an die Grenze, an der man das Nicht-Sein erfährt. Nicht zu sein ist der Schrecken schlechthin. Aber nicht zu sein ist auch der Beginn von Allem.
Dann ist da der Schrecken des Nicht- Denkens. Eigentlich schmerzhaft daran ist, so bemerkt man, dass man nicht Herr im Haus ist, die Assoziationen fluten herein und reihen sich, stossen aneinander, nur um weitere Bilder und Eindrücke hervor zu rufen, Vorstellungen, Schrecken, Besorgnisse, Aus- und Rückblicke reihen sich aneinander wie ein Teppich voller Flicken und Flecken, aber man schaut es nicht an, man ist darin verstrickt, man ist Teil davon.
Nur allmählich, wenn auch nicht dauerhaft, bemerkt man, dass ein Teil der Stille darin besteht, diesem assoziierenden Verstrickten so ein Ende zu machen, dass man sich einen Augenblick, wie ein Zeuge, heraus zu ziehen vermag, und es überhaupt bemerkt: Gegenwart, Zukunft, Vergangenheit, die Personen, Erlebnisse, Gefühle: das erscheint wie die dicke Schicht von Tang, Unrat, Fischresten, Netzen und salzigem Schaum, der auf der Meeres- Oberfläche treibt und mich Mal um Mal hinein zieht in sein nicht enden wollendes betriebsames Geflecht. Es ist ein kurzes, heiteres Erwachen, das die Stille schenkt, ein kurzes Aufwachen und Aufmerken: Ach je, ich war schon wieder verstrickt.
Und dann ist man es eben nicht. Das Aufwachen zur Stille ist, merkwürdig genug, ein Bestehen auf einem Level höherer Aktivität. Die Stille hat ihre eigene Dynamik. Man treibt eben nicht mit in dem schaumigen Teppich, man schaut ihn gelassen an und sieht, ah ja, damit war ich beschäftigt, das nimmt mich mit, kein Wunder. Aber man ist nicht vollständig identifiziert mit dem Schaum.
Wer in die Stille eintritt, weiss, dass er wie Alice im Wunderland in ihr sich neu erfahren kann. Es ist nicht die bis in die Spitzen geformte Persönlichkeit, sondern mehr der durchdringende Basston, der das eigene Sein ist oder ihm entstammt. Erst in der Stille ist der eigene Ton vernehmbar. Aber, auf der anderen Seite, ist es über lange Zeit nicht leicht, sich am eigenen Schopf zu packen und sozusagen über Wasser zu halten. Der eigene Ton, der eigene Klang, die klare Selbstvergewisserung vergeht in dem Moment, in dem eine Welle einen mitnimmt, und man bemerkt es nicht einmal. Man bemerkt es, wenn man wiederum, unvermittelt, auf das eigene Denken und seine Verläufe und Inhalte blickt und sich wundert, warum man sich selbst wieder vergessen hat. Man erlebt die „Störungen“, aber nimmt es gelassen. Die Oberfläche holt einen ab und zu ein, und es ist gut so. Man bemerkt es und geht wieder zurück ins Wasser, in die Tiefen, in die Dynamik der Strömungen.
Wer in die Stille tritt, bemerkt, dass Raum geschaffen wird. Nicht limitiert durch Körpergrenzen, aber zu mir gehörig. Der Raum dehnt sich, so weit die Stille wirklich reicht. Er ist nicht fest, sondern dynamisch. Er wirkt auf das Körpergefühl zurück und beeinflusst es. Es ist, als drücke er sich von außen in das Körperschema hinein, an bestimmten Punkten mehr, an anderen weniger. Es formt und bildet sich, es arbeitet regelrecht, es plastiziert. Aber diese Dinge geschehen sehr langsam. Es scheint so, als wandere der Schwerpunkt von oben nach unten, beginnend an der Stirn. Aber auch wenn man weiss, dass dieses Plastizieren vielleicht das Mass eines Lebens überschreiten muss, ist man doch gewiss, dass nichts davon vergebens ist, dass nichts verloren geht. Man hat immerhin angefangen.
Es gibt kein Wohin und Wozu, denn man liegt am Atem der Erde. Die Spuren der Sterne ziehen durch einen hindurch. Die Präsenz ist sich selbst genug.
Wer in die Stille tritt, wird von ihr geprüft. Sie ist auch fordernd. Sie fordert vor allem Ehrlichkeit. Sie ist ohne diesen Aspekt nicht denkbar. Es ist das kein Inhalt wie ein Gefühl, sondern ihre eigentliche Substanz: Die Stille ist völlig durchdrungen von Aufrichtigkeit. Das ist ihre Natur. Aber die Natur des alten Adam ist das nicht. So führt die Stille einen in Situationen, in denen einem vor Augen geführt wird, wie wenig man diesem inneren Anspruch genügt. Man sollte nicht denken, dass man damit fertig wird. Man soll nicht denken, dass man es abträgt oder überwindet. Vielleicht ist es der Beginn der Heilung, aber es gibt keine Gewissheit.
Gelegentlich wird es schlimmer denn je, obwohl man sich so bemüht, dass man ganz anders denken, empfinden, schaffen könnte. Es ist nicht zu klären, ob es wirklich schlimmer ist oder man es schärfer wahrnimmt. Es ist gar nicht zu vermeiden, dass man das mit einer durchdringenden Scham anzusehen lernt. Aber auch diese Scham ist keine selbstbezügliche Gefühligkeit, sondern eine klare, existentielle Ansicht - mehr ein Gefühl, das man zulassen kann, weil es eine realistische Perspektive ist.
In gewisser Weise ist dieses Spannungsverhältnis von Vorwärts - Gehen und Formung und Forderung durch die Stille eine der Konstanten in jeder Biografie. Man ist geneigt, die Nahtstellen als eigenes Vermögen oder eigene Niederlage anzusehen. Aber eigentlich spielt das Eigene und das Nicht- Eigene hier zusammen. Es ist schwer, ja oftmals unzumutbar, das als Nicht- Eigenes Empfundene, das, was einem zugestossen ist, anzunehmen. Falls man es doch kann, ist man der Stille nahe- egal, ob man sie gesucht hat oder nicht. Aber wirken wird sie immer. Das ist vielleicht gerade ein Kennzeichen unserer Zeit. In all dem gewaltigen Lärm, den Aufgeregtheiten, den Sensationen, den Aufwallungen, der ganzen menschlichen Komödie & Tragödie klopft die Stille doch an jede Tür ganz individuell an. Man muss das Klopfen nicht hören, man kann davor fliehen, man kann es sogar instrumentalisieren. Aber letztlich wird der Lärm uns nicht befriedigen und befrieden. Wir sind in ihm nur mit einem Teil von uns zuhause, und seine Schätze sind illusionär. Wir fürchten die Stille so sehr, aber sie allein kann uns den Frieden bringen, den Einklang und das Ruhen in den Dingen. Die Stille neigt sich uns zu wie ein unverhoffter Bote von Irgendwo- einer der schrecklichen Engel Rilkes.
In jedem Leben finden die Proben statt.
Wenn wir in die Stille treten, wird der Lärm, den wir machen, vernehmlich. Wir machen Krach wie ein kleines Kind am Schlagzeug. Wir meinen Grund zur Annahme zu haben, verletzlich und verletzt zu sein. Daher schlagen wir noch fester auf die gespannten Felle ein. Man schlägt sogar dann auf die Pauke, wenn man weiss, dass es selbstzerstörerisch und schädlich ist. Man will die Stimme, die einem das jede Nacht sagt, am Tage auf gar keinen Fall hören. Der Lärm soll die Stille in jedem Fall übertönen. Wir verwenden grosse Energie darauf. Der Lärm ist die Dynamik unseres Lebens, er macht diesen Aspekt von uns aus. Das so deutlich zu sehen, reisst Wunden auf. Es ist an dem Punkt leicht, wütend, enttäuscht, verbittert oder manieriert zu werden. Es ist leicht, sich in eine Haltung zu verrennen- gleichsam, um neuen Halt zu finden.
Aber so wie man bislang in die Stille eintrat, tritt sie nun selbst in einen hinein. Sie durchstrahlt den Alltag. Sie ändert nicht nur Gewohnheiten, sondern auch die eigene innere Haltung. Es geschieht zweierlei: Das Bündel von reflexhaften Verhaltensmustern, mit denen man so oder so zu agieren pflegte, schmilzt dahin. In dem Maß, wie sie dahin gehen, lernt man schwimmend zu agieren. Man orientiert sich an der Situation und improvisiert in ihr. Es gibt keinen Anlass, sich im geringsten als schwach oder defensiv zu empfinden- das Gegenteil ist der Fall. Aber das Agieren, die Intentionen entwickeln sich, sie sind nicht mehr vorgegeben, vorgestanzt oder eingeprägt. Man entwickelt eine gewisse Unvoreingenommenheit als Prinzip. Man spürt die Stille auch im grössten Getümmel. Sie ist ein Teil der eigenen Gegenwärtigkeit geworden. Sie spricht. Sie ist die Kraft, aus der wir handeln.
„Den wirkenden Geist an die Stelle des gedachten setzen, heißt in dieser Zeit die soziale Grundforderung empfinden.“
Die Stille macht keinen Sinn, weil sie wie eine Freundschaft wird. Sie setzt den Verhärtungen die Dialogfähigkeit entgegen. Hingegeben in das Zuhören verliert man sich, um sich zu finden.