Das anthroposophische Narrativ von der Dekadenz, Corona und die Neue Rechte

In einem neuen Beitrag, der sich mit dem Problem der Philosophie beschäftigt, was er letztlich als ein Arrangement der vorhandenen Erkenntnisse beschreibt, ganz analog zu dem Platzieren neuer Bücher in einer vorhandenen Bibliothek, berichtet Berfrois vom Ordnungs- Verständnis Wittgensteins: „When we begin the books lie higgledy-piggledy on the floor. Now there would be many ways of sorting them and putting them in their places. One would be to take the books one by one and put each on the shelf in its right place. On the other hand we might take up several books from the floor and put them in a row on a shelf, merely in order to indicate that these books ought to go together in this order.“ (1) 

Die Einordnung in eine Systematik, die den inneren Zusammenhang durch Reihung im Bücherbord vollzieht, ist eine geistige Leistung des Sortierenden selbst- er vollzieht den inneren Zusammenhang der Fakten nicht nur nach, zieht logische, zeitgeschichtliche, geistesgeschichtliche Linien, sondern ist auch frei, immer neue Arrangements einzugehen, denn in dieser Neu- Anordnung sieht Wittgenstein die eigentliche Leistung, die aber für den unbedarften Betrachter nicht unbedingt erkennbar wird: „But some of the greatest achievements in philosophy could only be compared with taking up some books which seemed to belong together, and putting them on different shelves; nothing more being final about their positions than that they no longer lie side by side.“ (1) Die grundlegenden Aussagen über Mensch, Welt, Kosmos bleiben bestehen; neue Bausteine werden kategorisiert- aber doch in einer offenen Systematik, die immer neue Kombinationen ermöglicht, die aber nicht prognostizierbar sind- die innere geistige Ordnung „atmet“ und wächst durch permanente strukturelle Wandlung. Daher Wittgensteins eingehende Warnung, nicht mehr zu sagen, als man weiß: „The difficulty in philosophy is to say no more than we know.“ (1) Denn der Strukturwandel in Wittgensteins Bibliothek wird uns immer erst im Nachhinein bekannt sein, falls wir die zugrunde liegenden Erkenntnisse und Schlussfolgerungen überhaupt erkennen und nachvollziehen könnten. 

Kontextualisierung ist ja nicht voraussetzungslos. Es müssen, um bei der Analogie Wittgensteins zu bleiben, schon Bücher vorhanden sein, um neue Exemplare sinnvoll einordnen zu können. Aber selbstverständlich erwartet Philosophie eine Reflexion, wenn nicht Theorie über die Anordnung der vorhandenen Bücher. Die Art des eigenen Einordnens sollte hinterfragt werden, um eine Neuordnung sinnvoll vornehmen zu können. Zu groß wäre die Gefahr, einer Ideologie zu verfallen, die die logische, in sich stimmige und reflektierte Anordnung ersetzt durch simplifizierende Regelungen wie Farbe der Einbände, Alter der Bücher oder Umfang. Selbst eine rein thematische Ordnung würde Querverbindungen und innere Bezüge nivellieren.  Um aber sinnvolle, komplexe Zusammenhänge zu schaffen, bleibt ein gewisser Grundbestand, ein Grad von Erfahrung, Wissen, Breite der Themen unabdingbar. 

Vermutlich wären bei den heutigen interdisziplinären Wissenschaftszweige auch Wittgensteins Regale einem Computersystem gewichen. Die multi- faktorielle, interdisziplinäre Zusammenarbeit z.B. von Archäologen mit Paläontologen, Sprachwissenschaftlern, DNA- Analytikern, 3D- Visualisten, Geologen, Fachleuten für das Lesen von Eiskernen, Vulkanologen, Physikern usw hat die zweidimensionalen Bezüge durch Netzwerke ersetzt. Das gilt für die meisten wissenschaftlichen Disziplinen, die dadurch seit einigen Jahren gegenseitige Erkenntnisgewinne produzieren, die durch das exponentielle Wachstum kaum noch in Büchern erfasst werden können, da diese zum Erscheinungsdatum bereits veraltet sind. Wittgensteins Bücherregal ist zu einem dreidimensionalen pulsierenden System geworden, das sich in dauerndem Wachstum, aber auch in einem Prozess der Vertiefung und Fundierung befindet. Mit dazu bei tragen natürlich die technologischen Fortschritte, aber auch die offenen Systeme, die auf wissenschaftlicher Ebene eine globale Kooperation - nicht selten zeitgleich - ermöglichen. 

Diesen Durchbrüchen einer globalen Vernetzung und Vertiefung der Wissenschaft stehen politisch, gesellschaftlich und ideologisch die denkbar größten Anachronismen entgegen, bis hin zu „alternativen Fakten“ und Welterklärungs- Modellen aus den Bot- Baukästen im Auftrag einer virtuellen, hybriden Kriegsführung. Die in den Netzen kursierenden, geistig infektiösen Alternativ- Erklärungsmodelle wuchern parallel zum Wachstum der wissenschaftlichen Disziplinen und produzieren parallele Modelle der Erklärung von Wirklichkeit. Der tiefe Fall von Corona- Leugnern z.B. nicht nur unter den Stand der Wissenschaft in Bezug auf die Entwicklung von Impfstoffen, sondern durch die zweidimensionale Logik des Wittgensteinschen Bücherregals hindurch ins unterirdische Reich der alternativen Fakten ist beeindruckend; als globales Phänomen, als gesellschaftliches Problem, aber auch als individuelles Rätsel, wenn ihm intelligente und bis vor kurzem rational ansprechbare Personen verfallen. Die hypnotische Massen- Suggestion mit der typischen ideologisierten Schnappatmung setzt dann nach und nach ein, bis der beleidigte Wutbürger sich in die Sonntagsdemo vor dem Landtag oder der Ferienwohnung der Politikerin oder Virologin einreiht. Niemand wundert sich über Meldungen, dass ein enthemmter Mob in der nächsten Großstadt einen Apple- Laden während einer Corona- Demonstration attackiert und sich zu plündern anschickt, da die Demonstranten irrtümlich davon ausgingen, dass Bill Gates der Inhaber dieser Firma sei, der ja wiederum durch die Impfung die genetische Reprogrammierung der Menschheit plane. 

Dass auch so viele anthroposophische Publikationen, Persönlichkeiten, Ärzte und Institutionen den Weg ins unterirdische Reich der anti- wissenschaftlich Pseudo- Logik, Desinformation und anti- gesellschaftlichen, trotzigen Hysterie beschreiten würden, war nicht unbedingt vorher zu sehen, auch wenn das Pathos der Anti- Zeitgeistigkeit und Anti- Wissenschaftlichkeit, rechte Zeitschriften und Aktivisten, Christus- Jünger und stigmatisierte Gurus nicht Gutes hatten ahnen lassen. Inzwischen scheinen auch im Goetheanum selbst in der Leitung solche Ängste vor den emotionalisierten Anhängern vorzuherrschen, dass man sich für den Einsatz von Tests entschuldigt, das Tragen von Masken im Gebäude bei Veranstaltungen zu unterlaufen versucht und sich bei Impfgegnern entschuldigt, die dem Zentrum dann per Behördendekret doch fernbleiben müssen, denn zumindest seit Ende 2021 gilt auch im Goetheanum ein strenges Schutzkonzept (2).  

Dass Rudolf Steiner nicht nur immer wieder in die Schmuddelecke der unreflektierten politischen Abwege gestellt, sondern auch von Anhängern selbst genau so gelesen und interpretiert wird, liegt vielleicht an Aussagen des Begründers wie „Die Logik geht darauf aus, wenn sie irgendwo einen Widerspruch findet, ihn zu beseitigen. Aber die Logik weiss heute noch nicht, was sie damit tut: Die Logik selber tötet für das menschliche Auffassen mit dem Hinweg- Räumen des Widerspruches das Leben. Deswegen kommt der Mensch nur zu einer Auffassung des Lebendigen, wenn er über die Logik hinaufsteigen will zu Imagination, Inspiration und Intuition.“ (3) Das Überwinden der Logik, die die Voraussetzung sein soll auf dem Weg zu einem Stadium, in dem diese durch eine „Auffassung des Lebendigen“ ersetzt werden kann, beschreibt einen geistigen Zustand, in dem die Bücher in Wittgensteins Bücherregal nicht nur nicht geordnet aufgereiht sind, sondern in beliebigen Stapeln aufgeschichtet jeder Feststellung und Überprüfung von Bezügen trotzen. 

Kein Wunder, dass in einem solchen Stadium „auf dem Weg“ Ideologien ins Kraut wuchern, wirre Thesen wuchern, und Anhänger den Worten des Meisters ohne kritische Distanz folgen, auch wenn diese womöglich allegorisch gemeint waren oder nur in einem bestimmten Zusammenhang Sinn machen. Die selbst gewählte Dissonanz der anthroposophischen Lehren, mit ihrer fehlenden Stringenz und der Fixierung auf eine spätere innere Ordnung, die dann etwas sein soll, was „über die Logik hinaufsteigen will“ (3), öffnet Tür und Tor nicht nur für diverse Sinngebung- Modelle, sondern auch für weltanschauliche und politische Einfluss- Bereiche. 

Die Neue Rechte zum Beispiel sucht jede Menge Andockstellen, in allen Bereichen, auch in religiösen Zusammenhängen, bis hin zum Islam. Björn Höcke selbst verkündete 2014 „Der Islam ist nicht unser Feind, unser größter Feind ist die Dekadenz.“ (4) Im Angesichts des Untergangs des Abendlandes zieht es Anthroposophen wie Martin Barkhoff und Caroline Sommerfeld (5) gern zur „Sezession“ Götz Kubitscheks, dort, wo es Sommerfeld vor einigen Jahren noch - 2017- umtrieb, sich gegen anthroposophische „Verräter“ in der anthroposophischen Zeitschrift Info3 zu stellen (6), die sogar „den Weltgeist verraten und verkauft“ hätten. In dem Zusammenhang zitiert Sommerfeld auch Rudolf Steiner, den sie damit zum ersten Querdenker des Westens erklärt, der das Anti- Mainstream- Denken praktisch erfunden habe: „Denn ist es nicht das Gegenteil von Freiheit, wenn man an die Verhältnisse so angepaßt ist, daß man nur in ihrem Sinne laufen kann? Fordert es nicht die Freiheit, daß man sich nötigenfalls den äußeren Verhältnissen entgegenstemmen kann? Würde man nicht, was als Freiheit lebt, vergleichen müssen mit dem, was sich nötigenfalls so benehmen könnte, daß das Schiff gegen die Wellen wendet und stoppt?“ (7) Geradezu zum Vordenker der Neuen Rechten erklärt Sommerfeld Steiner mit einem nicht genau verifizierten Zitat „Der andere Weg, der rechts geht, ist der, der sich in der heute mitgeteilten Weise hineinfindet in die Anschauung des übersinnlichen Menschen, der übersinnlichen Welt, der auch die Entwicklung des Menschen im übersinnlichen Lichte schaut, der hinaufdringt zum wirklich freien Geist.“ (7) Und so wettert die rechte Sommerfeld sogar in traditionell anthroposophischer Dämonisierungs- Rhetorik: „Die Anthroposophen – …– haben Steiners Freiheitsbegriff mir nichts, dir nichts, an Clinton und Soros verraten und verkauft. Pfui Teufel, oder auch Ahriman!“ (6) Eine umfangreiche Link- Sammlung zum Thema Rechtspopulisten, Verschwörungstheorien, Rechtsradikale und Waldorfschulen bietet übrigens der Arbeitskreis „Waldorfschulen für eine offene Gesellschaft — gegen politischen Extremismus und Populismus“ (8)

So ist es kein Wunder, dass Volker Weiß konstatiert: „Das theoretische Gerüst der neurechten Weltanschauung ruht auf einem ausgeprägten Antirationalismus und die aristokratische Haltung ist nichts als Pose“ (9). Sowohl diese Attitüde (das Auserwählt- Sein, die Zugehörigkeit zu einer zukünftigen Kulturepoche und die Teilhabe an einer Initiierten- Gesellschaft) teilen große Teile der Anthroposophischen Gesellschaft- als auch die Abneigung gegen Orientierung an Wissenschaft und aufgeklärter Gesellschaft. Der neurechte „Ethnopluralismus“, der die Gleichwertigkeit „homogener Völker in ihren angestammten Lebensräumen propagiert“ (10), ist ein rassistisches Konzept, das in Steiners Volksseelen- Vorstellung spirituell zugespitzt wird: „Ein jedes Volk hat seine bestimmte Mission. Nun aber ist bis in die Details der physischen Verhältnisse hinein ein jedes Volk so beschaffen, daß es diesen Anteil, den es der gesamten Menschheit zu bringen hat, auch richtig bringen kann. Mit anderen Worten, die Leiber der Menschen, die zu einem Volke gehören, zeigen uns eine solche Ausgestaltung sowohl des physischen Leibes wie auch des Ätherleibes und des astralischen Leibes und eine solche Zusammenfügung dieser Leiber, daß sie das rechte Werkzeug werden können, damit jener Anteil zustande komme, den ein jedes Volk für die gesamte Menschheit zu leisten hat." (11) Dieses Zuschreiben von angeblichen leiblichen Eigenschaften zu spezifischen geistigen Aufgaben und seelischen Eigenheiten erscheint bei Steiner als Hyper- Ethnopluralismus, da die „Zusammenfügung dieser Leiber“ die Ethnien und Völker erst zum „rechte(n) Werkzeug“ werden lasse- offensichtlich im Sinne eines göttlichen Plans. 

Ein anderes Kapitel ist das Selbstbild des bürgerlichen Anthroposophen als Vertreter*in geistiger Erneuerung- inmitten einer Kultur, ja einer Menschheit, die im Zustand der Dekadenz ihren Weg in den Abgrund geht: „Eine Dekadenz, ein Welkwerden der physischen Menschheit würde eintreten, wenn nicht die spirituellen Kräfte aufgenommen würden. Denn die Kräfte, welche die Menschen früher aus den Sternenwelten aufgenommen haben, müssen aus den Tiefen der Seelen wieder heraufgeholt werden und zur Evolution der ganzen Menschheit verwendet werden. Man könnte sagen: Der Somasaft regnete in Urzeiten aus den Himmelsräumen in die einzelnen Seelen hinein, konservierte sich dort und muß nun aus den einzelnen Seelen wieder herausfließen.“ (12) Für das Ende des 20. Jahrhunderts hatte Rudolf Steiner ja sogar die völlige Dekadenz prophezeit, wenn sich nicht die Ströme der Anthroposophen zusammen täten und den Zivilisations- Zusammenbruch aufhalten würden: „Denn über der Anthroposophischen Gesellschaft schwebt ein Schicksal, daß viele von denjenigen, die heute in ihr sind, bis zu dem Ablaufe des 20. Jahrhunderts wieder herunterkommen müssen auf die Erde, dann aber vereinigt mit jenen auch, die entweder selbst führend waren in der Schule von Chartres oder die Schüler von Chartres waren. So daß vor dem Ablaufe des 20. Jahrhunderts, wenn die Zivilisation nicht in die völlige Dekadenz kommen soll, auf der Erde die Platoniker von Chartres und die späteren Aristoteliker zusammen wirken müssen.“ (13) Dieses Beschwören der Dekadenz zieht sich schon deshalb durch das ganze Vortragswerk Steiners, weil er Anthroposophie als kulturelle, geistige und individuelle Erneuerung als Gegenpol definiert. Der Höhepunkt der Dekadenz, der Gegenpol zum inspirierten Dasein und zur Restmenschheit, die der Zukunft entgegen geht, ist dann ja auch der skeptische Rationalismus, vor allem in Gestalt des Agnostizismus: „Im Grunde genommen ist es nichts anderes als die Reaktion des abendländischen Gemütes auf die orientalische Weisheit, die in die Dekadenz gekommen ist, was sich als atheistischer Skeptizismus im Abendlande allmählich entwickelt und was immer weiter und weiter kommen muß, wenn nicht eine andere Geistesströmung ihm begegnet.“ (14)

Letztlich werde die Dekadenz auch gesellschaftlich und zwischenmenschlich so weit fortschreiten, dass selbst in intimen menschlichen Beziehungen ausschließlich Konkurrenz- Denken vorherrschen würde, d.h. der Verfall des Hyper- Kapitalismus würde, wenn er nicht durch Anthroposophie aufgehalten würde, auch das soziale Leben determinieren (15). Religiös- apokalyptisch gesprochen würde die Menschheit ohnehin ohne das Christentum (in der anthroposophischen Interpretation) in den vollkommenen Verfall kommen, in die endgültige Dekadenz als Fall in die Materie (16). Der Planet selbst mitsamt den auf ihm versammelten menschlichen Leibern befinde sich im galoppierendem Verfall (17), wobei die von der zerfallenden Leiblichkeit frei werdende Geistigkeit vom Menschen auch genutzt werden könnte, wenn er nur wolle. Allerdings ist es nach Steiner gerade das wissenschaftliche Denken, das von zerfallenden Leibern nicht profitieren kann, im Gegenteil: das wissenschaftliche, exakte, folgerichtige, logische Denken unterminiert die „Denkkraft,“ das klare(..), sichere(..) Denken(..)“ (18) Im Gegenteil, gerade wissenschaftliches Denken fördere den „Autoritätsglauben“ (18) und unterminiere die „Denksicherkeit“. (18) An diesem Punkt hat Rudolf Steiner also bereits den Anti- Intellektualismus, die verbreitete Skepsis gegenüber Wissenschaft und Experten, wie sie bei den Corona- Skeptikern unserer Zeit zum Ausdruck kommt, vorweg genommen. Dass ausgerechnet der intellektuelle Skeptizismus den Glauben an Autorität fördern solle, erweist sich als argumentative Pirouette - ein Argument, um das selbständige Denken selbst zum Teil der Dekadenz zu erklären. Nur so erscheint das rettende Initiations- Prinzip im richtigen Kontrast, nur so glänzt der Meister im Licht der Auferstehung. Und nur so erklärt sich die Doublebind- Methodik der anthroposophischen Heilslehre: Nur im Überwinden des selbständigen Denkens wirst du frei. 

So nimmt es kein Wunder, dass die Neue Rechte sich nicht nur abarbeitet an Fragen des Egalitarismus - sei es in Genderfragen, sexueller Selbstbestimmung oder Hautfarbe-, Liberalismus und dem Universalismus der Aufklärung; all diese Maximen der demokratischen Grundsätze erscheinen als verächtliche Zerfallserscheinungen. So schreibt Alain de Benoist, ein Gesprächspartner von Alexander Dugin: „Jede Diktatur ist verächtlich, aber verächtlicher noch ist jede Dekadenz. Eine Diktatur kann uns morgen als Individuen vernichten. Dekadenz jedoch vernichtet unsere Überlebenschancen als Volk“. (19) 

Das anthroposophisch umfassende Narrativ der Dekadenz, kaschiert als Anti- Intellektualismus und Kultur- Pessimismus, findet so Andockstellen für die Neue Rechte. Die Verachtung für den Liberalismus mit seinen globalistischen, optimistischen Implikationen, mit seinen Tendenzen hin zur individualistischen und geschlechtlichen Selbstbestimmung, eint die politische Rechte wie die esoterischen Apokalyptiker. Gerade Demokratien werden im selben Doublebind- Modus - im Zusammenhang mit der globalen Corona- Krise- als Diktaturen diffamiert, so wie Fachwissen, Expertise und Wissenschaftlichkeit verachtet und liberale Medien als „Lügenpresse“ oder „Mainstream- Medien“ denunziert werden. 

Allerdings sieht man bei der Neuen Rechten auch eine strategische Kehrtwende, die man in der anthroposophischen Öffentlichkeitsarbeit nur sehr bedingt entdeckt: Es geht darum, „geistiges Terrain“ (20) zurück zu gewinnen, eine intellektualisierte Seite des Rechtsextremismus zu präsentieren, die diskursfähig ist und willens, sich im politisch- kulturellen System zu behaupten. Unter anderem kam es zu Inszenierungen als modische Pseudo- Hipster unter den Identitären, vor allem aber zu einer Professionalisierung in der medialen Präsenz- nicht zuletzt durch die Adaption publizistischer Techniken. Die Aneignung globaler oder europäischer Krisen wie den Flüchtlingsströmen ab 2015 und der aktuellen Corona- Pandemie, unterstützt durch Desinformations- Kampagnen russischer Interessenkreise und Geheimdienste, hat zu einer steigenden Popularität beigetragen. Die extreme Rechte findet sich strategisch heute wieder in den „Diskurs- Schlachten des Zeitgeistes“ (20), Seite an Seite mit Impf- Skeptikern und Esoterikern. 

Dagegen ist die anthroposophische Seite viel zu unreflektiert, um zu erkennen, wie ihre Narrative von der Dekadenz politisch instrumentalisiert werden. Der Pressesprecher der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland, Sebastian Knust, wirft dem kritischen Kenner der Szene, Ansgar Martins, der sich in Die Welt zum Thema geäußert hatte (21) sogar vor, von der kritischen Welle in Bezug auf anthroposophische Positionierungen profitieren zu wollen: „Vielen dürfte Ansgar Martins, ein langjährige Kritiker der Anthroposophischen Bewegung, bekannt sein. Im Fahrwasser der aktuellen Aufregung über die „Anthroposophen“ hat er sich in der „Welt“ ebenfalls zu Wort gemeldet. Immerhin erkennt er den offensichtlichen Umstand an, dass der Einfluss der Anthroposophen auf die in Deutschland herrschende Impfskepsis schon rein zahlenmäßig nicht stimmen kann. Trotzdem meint er, dass der „schlechte Ruf“ der Anthroposophen selbst verursacht sei. Er wirft ihnen Unreflektiertheit vor und zu wenig kritische Distanz zu „esoterischen“ oder „verschwörungstheoretischen“ Aussagen Rudolf Steiners sowie zu dem „verschwörungsideologischen Teil des anthroposophischen Milieus“. Manche seiner in diesem Beitrag sehr undifferenziert vorgetragenen Aussagen mögen in unaufgeregten Auseinandersetzungen sogar einen konstruktiv Beitrag leisten. In diesem Zusammenhang ist der Versuch, von der Kritik-Welle an den „Anthroposophen“ zu profitieren, aber doch recht offensichtlich.“ (22) Überhaupt verfolgt Knust die übliche Strategie in der anthroposophischen Bewegung, sich bei Kritik ins Nest der verfolgten Unschuld und des Opfers des kalten Zeitgeists zurück zu ziehen: „Die Menschen im Land suchen einen Sündenbock für die Impfmüdigkeit der Deutschen. Und sie meinen, ihn gefunden zu haben – in der Anthroposophie.“ (22) Es sind immer die Anderen, die angeblich „undifferenziert“ über Anthroposophie urteilen. 

So dürfen wir jetzt bei Facebook nachlesen, wie ein Priester der Christengemeinschaft berichtet, dass man sich im kleinen Kreis selbst mit Corona infiziere, indem man Teststäbchen aus der Nase eines Kranken herum gehen lasse, da die Selbstinfektion das Mittel der Wahl sei, um durch den Genesenen- Status die verteufelte Impfung vermeiden zu können. Da der Priester im gleichen Zusammenhang immer wieder schwurbelt, in einem Staat zu leben, in dem Verhältnisse wie in China herrschten, kann man von einer gewissen apokalyptisch- politischen Haltung ausgehen. Wie weit das in der Szene verbreitet ist oder Schule macht, lässt sich nicht feststellen, aber das Schwärmen von der Selbstinfektion konnte man schon öfter wahrnehmen. Das ist vermutlich die „Denksicherheit“, von der der Meister sprach und die er im Kontrast setzte zum schnöden „intellektuellen Skeptizismus". Die Bücher in Wittgensteins Bibliothek stehen in diesem Fall mit dem Rücken nach hinten, eine Ordnung ist nicht zu erkennen, aber Hauptsache, der Materialismus ist besiegt!


anmerkungen und verweise__________________________

1 https://www.berfrois.com/2022/01/ludwig-wittgenstein-arranges-books/

2 https://static.goetheanum.co/assets/medias/schutzkonzept-sars-cov-2.pdf

3 Rudolf Steiner, 188.105

4 Volker Weiß, Die autoritäre Revolte, Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes, Stuttgart 2017, S. 25

5 https://sezession.de/65282/dr-robert-malone-auszuege-aus-einem-interview-2

6 https://sezession.de/57210/den-weltgeist-verraten-und-verkauft

7 Rudolf Steiner, zitiert in 6

8 https://www.waldorfschule.de/fileadmin/downloads/artikel/Literaturliste_AK-offene_GEsellschaft_2021-02.pdf

9 Volker Weiß, S. 28

10 Volker Weiß, S. 34

11 Rudolf Steiner, GA 123, S. 18f

12 Rudolf Steiner, GA 141 S. 88ff

13 Rudolf Steiner, GA 240.155ff

14 Rudolf Steiner, GA 322.102

15 Rudolf Steiner, „Zur Auflösung aller Menschheitsbande würde der rein äußerliche Fortschritt in der Berufsentwickelung führen. Dahin würde es führen, daß die Menschen sich im- mer weniger und weniger verstehen würden, immer weniger und weniger Beziehungen entsprechend den Voraussetzungen der Menschennatur entwickeln können. Die Menschen würden immer mehr und mehr aneinander vorbeigehen, könnten nichts anderes mehr suchen als ihre Vorteile, könnten in keine andere Beziehung zu- einander kommen als in die Beziehung der Konkurrenz. Das darf nicht der Fall sein, weil sonst das Menschengeschlecht in die vollständige Dekadenz verfallen würde. Daß das nicht der Fall werde, dazu muß Geisteswissenschaft sich ausbreiten.“ GA 172, S. 93f

16 Rudolf Steiner, „Denken Sie einmal, die Menschheit wäre ohne das Christentum eingetreten in diese tiefste materielle Epoche. Es wäre für sie unmöglich gewesen, den Impuls nach aufwärts wiederzufinden. Denken Sie sich den Impuls, der der Menschheit durch den Christus eingepflanzt worden ist, fort, und die ganze Menschheit müßte in die Dekadenz fallen, müßte mit der Materie sich auf ewig verbinden; sie würde, wie es im Okkultismus heißt, «von der Schwere der Materie erfaßt» und aus ihrer Entwickelung hinausgeworfen werden.

Dadurch, daß das Christentum bis zum rechten Zeitpunkt wartete, hat es möglich gemacht die äußere Kultur; und dadurch, daß es zur rechten Zeit eingetreten ist, hat es möglich gemacht, daß diejenigen, die sich mit dem Christus-Prinzip verbinden, wieder sich erheben können aus der Materie. Da aber das Christentum als etwas Unverstandenes aufgenommen worden ist, ist es arg vermaterialisiert worden." GA 103, S. 182f

17 Rudolf Steiner, „Das Physische der Erde ist in der Dekadenz. (Deshalb) sind wir in brüchigen Leibern, aber das Gegenstück dazu müssen wir auch betrachten: Wir sind zwar in brüchigen Leibern, aber gerade aus unseren brüchigen Leibern entwickelt sich um so mehr die Geistigkeit, wenn wir uns ihr nur hingeben. Der (alte) Leib sog überall die Geistigkeit auf. (Heute) wird sie überall frei vom Leibe.“ GA 191, S. 116

18 Rudolf Steiner, „Im Laufe des 19. Jahrhunderts und bis in unsere Tage herein war der große Fortschritt auf dem äußeren materiellen Gebiete verbunden mit einem Zurückgehen der Denkkraft, des klaren sicheren Denkens. Wo Wissenschaft getrieben wird, ist insbesondere das klare, und namentlich das sichere, das inhalterfüllte Denken zurückgegangen. Und da der Autoritätsglaube, trotzdem es die Menschen nicht glauben in keiner Zeit so stark ist, wie in unserer Zeit, so hat sich mitgeteilt die Trostlosigkeit in Bezug auf die Denksicherheit auch den weitesten Kreisen, dem ganzen populären Denken. GA 165, S.101f

19 zitiert nach Volker Weiß, S. 41

20 Volker Weiß, S. 55

21 https://www.welt.de/wissenschaft/plus235551014/Anthroposophie-Der-schlechte-Ruf-der-Steiner-Juenger-in-der-Corona-Krise.html

22 https://www.anthroposophische-gesellschaft.org/blog/corona-krise-versus-differenzierung

Abgebildetes Kunstwerk von Anatol, verstorbener Schüler von Beuys, Museumsinsel Hombroich. Foto Michael Eggert