Happy New Year, und neue Offenbarungen!
Ihr Geist- Sucher und solche, die es werden wollen, aber sich vielleicht doch nicht aufraffen können: Seid gegrüsst in 2023. Und die, die fest entschlossen sind, den Mangel Anderer (an Geist) zu verwalten und sich als Verteidiger der alten Tante Anthroposophie mit ihrer unnachahmlichen, hundert Jahre währenden Bremsspur empfinden und in Pose werfen, natürlich auch! Oh Ihr Suchenden, Ihr seid so sehr in der Minderheit, das ist schon mal sicher. Daran wird sich sicherlich auch im neuen Jahr nicht ändern. Denn Anthroposophie mit ihren Repräsen- Tanten ist und bleibt eine Vereinigung von Belehrenden und Antwort- Gebenden, selbst auf Fragen, die niemand gestellt hat. In dieser Szene tönt es aus allen Ecken und aus allen Branchen, und die Belehrungen, Kompakt- Antworten und Wälzer auf alle Aspekte des Kosmos drängen sich unentwegt auf- so sehr, dass man eigentlich nie wirklich zu Fragen kommt.
Nehmen wir doch nur die Heilige Nonne der Anthroposophenschaft seit der Jahrtausendwende, die wahrsagende, geistige Filme schauende, sich aus Lichtnahrung ernährende, aus den Wundmalen des Herrn blutende Ex- Berlinerin Judith von Halle: „Sie behauptet, seit der Karwoche 2004 die Wundmale Christi zu tragen und sich ausschließlich von Wasser zu ernähren. Der Umstand der Nahrungslosigkeit, welcher bei einer Stigmatisation häufig vorzukommen scheint, wird vielfach angezweifelt, scheint aber den Tatsachen zu entsprechen.“ (1) Es scheint so? Wie haben das die Geistesforscher von AnthroWiki nur überprüft? Gibt es Laboratorium, in dem blutende Eingeweihte über Wochen beobachtet werden?
Nein, ein gewisser Herr Kollewijn wird im AnthroWiki zitiert, der offensichtlich selbst höhere Wahrnehmungen hat und von daher beurkunden konnte, dass sich die Leiblichkeit der Architektin von Halle radikal umdeformiert habe, so dass sie nach dieser Läuterung nun denn ohne die irdischen Lasten der Nahrungsverarbeitung leben könne: „Durch das Ereignis der Stigmatisation ergab sich auch eine Umwandlung des gesamten physischen Organismus. Diese besteht in einer radikalen Verwandlung des Blutsystems, welches als physisch-geistiger Ausdruck des Ich alle Organe durchdringt und verbindet. Dadurch bedingt, zeigten sich eine Steigerung der Sensibilität der Sinneswahrnehmung und eine tief greifende Veränderung im Bereich der Ernährung. Nicht etwa als Ergebnis irgendeiner Askese, sondern durch eben jene leibliche Umgestaltung ergab sich die vollkommene Nahrungslosigkeit, die weder zu einem Gewichtsverlust noch zu anderen Einschränkungen oder körperlichen Beschwerden geführt hat. Der verwandelte physische Leib wehrt vehement jede irdische Nahrung ab. Nur Wasser kann in beschränktem Maß aufgenommen werden.“ (2)
Ich hätte vermutet, dass sich die Produktion christologischer, teilweise mit skurrilen okkultistischen Krimis - Schwarzmagier überall- aufgeladener Buchproduktionen von Frau von Halle mit der Zeit beruhigen würde, aber das Gegenteil war der Fall. Eine Zeitlang gelang es Frau von Halle, durch Sachthemen wie Demenz oder Covid19, die rationaler Argumente nicht entbehrten, eine Drift ins Genre der anthroposophischen Sachbuch- Autorinnen vorzunehmen. Nun aber hat sie der kosmische Ruf wieder ereilt; sie ist ihm gefolgt und hat das Rundumschlag- Werk schlechthin über DAS WORT heraus geknuspert, oder, wie der Klappentext schwärmt: „Unbekannt ist jedoch, dass sich in ihrem 38. Lebensjahr ein weiteres, mächtiges Schicksalsereignis vollzogen hat – diesmal allerdings im diskreten inneren Seelenraum: Sie erhielt einen unmissverständlich durchdringenden Aufruf der geistigen Welt, ein Werk auf die Erde zu stellen, das ihre bereits begonnene Arbeit (die Beiträge zur Erschließung des Christus-Mysteriums) in einer außergewöhnlichen Weise vertiefen und bereichern sollte. Neben ihrer umfangreichen anthroposophischen Forschungstätigkeit, für die ihre zahlreichen Publikationen zeugen, und entgegen vieler Widerstände gelang es schließlich, der Aufforderung gerecht zu werden und das fünfbändige Werk abzuschließen.“ (3) Der Titel ist schon - sagen wir - gewichtig, als wollte sie DER WELT sagen: Ich habe den RUF des KOSMOS vernommen, habe DAS WORT verschriftlicht, und an mir kommst du nicht vorbei, Freundchen.(4)
Und warum auch nicht? Ist das nicht die anthroposophische Tradition schlechthin, Antworten auf Fragen zu geben, die niemand gestellt hat? Von Halle stellt sich ganz ausdrücklich in diese Tradition, wie der Klappentext (3) verrät: „Zahlreiche Fragen, die zu den drängendsten der Gegenwart zählen und an deren Beantwortung bis heute fast ausschließlich von naturwissenschaftlicher Seite gearbeitet worden ist, werden im Licht der übersinnlichen Erkenntnis beantwortet.“ Drängende Fragen der Menschheit ist natürlich ein relativer Begriff. Drängend fände ich ein Rezept für den imperialistischen Krieg der russischen Aggressoren und ein Ende des Bombenhagels auf die souveräne Ukraine. Drängend fände mancher vielleicht auch einen besseren Corona- Impfstoff, nachdem schon im Dezember die Republik, was Kitas, Bahnverbindungen, Ämter und Krankenhäuser nahezu dysfunktional geworden war. Dass sich die Grippe obendrauf setzte, macht die Sache nicht besser. Drängend ist vielleicht auch die Energie- Versorgung ganzer Länder, ganz vorneweg die der Russland- Versteher und Gas- Konsumenten wie Deutschland. Aber natürlich treiben den einen oder anderen auch die großen geistigen Fragen an. Denen geht es nämlich, so der Klappentext, um den „Aufbau einer neuen, unsterblichen Leiblichkeit und einer ätherisierten Erde inmitten einer sich weiter verhärtenden, von künftigen Katastrophen erschütterten materiellen Welt.“ (3) Natürlich, Unsterblichkeit ist auch ein interessantes Konzept, vor allem mitten in einem Krieg und nach einer Pandemie.
Die Gläubigen werden sich versammeln und denken: Der GEIST wird es richten. Folgen wir dem Gesamtkunstwerk der stigmatisierten Säulenheiligen und beenden wir den ahrimanischen Zweifel. Schütten wir unsere Fragen mit anthroposophischen Antworten zu. Bei dem, was die Nonne verkündet, handelt es sich schließlich „um Offenbarungen“ (3). Die neue Hellseherei wird uns, so suggeriert der Klappentext, endgültig ins Licht führen. Denn das „muss der Wille der geistigen Welt sein“ (3). Wer wollte da widersprechen? Wir begründen einfach wieder eine Hohepriester- Kultur ägyptischer Art und hübschen sie auf mit anthroposophischen Begriffen. Und dann spricht es, DAS WORT, dann spricht es auch zu Dir. Das ist dann, nach Flirts mit Impfgegnern, Verschwörungstheoretikern, Reichsbürgern und Rechtsradikalen bestimmt die ultimative Lösung für das torkelnde anthroposophische Fährboot: Wir verkünden eine neue Offenbarung und unterwerfen uns der stigmatisierten Hellseherin!
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1 https://anthrowiki.at/Judith_von_Halle
2 Kollewijn, S. 1
4. DAS WORT in den sieben Reichen der Menschwerdung: Eine Rosenkreuz-Meditation - Band I-V in Schuber Gebundene Ausgabe – 30. November 2022
von Judith von Halle (Autor)