Das Erscheinen des Christus und das anthroposophische Shamballa
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Eine kritische Würdigung von Sergej Prokofieffs „Das Erscheinen des Christus im Ätherischen“
Lehrsätze und Zitat- Ansammlungen
Gewiss, auf den ersten Blick mutet Sergej Prokofieffs Abhandlung „Das Erscheinen des Christus im Ätherischen“ wie eine konventionelle Darbietung anthroposophischer Lehrsätze an. Im Kern befasst sich das Werk schließlich mit der Christologie innerhalb der Anthroposophie, einem intimen Bereich, der untrennbar mit deren spezifischem Erkenntnisweg verbunden ist. Vereinfacht ausgedrückt wird ein intellektueller Pfad zur Erfahrung des auferstandenen Christus aufgezeigt, der in allem Geschaffenen der Natur als präsent empfunden werden soll – ein Pfad, der nicht nur in seinen grundlegenden Aussagen und Perspektiven, sondern bis in die konkreten Formulierungen hinein Rudolf Steiner folgt. Prokofieffs Komposition der Zitate und Aussagen jedoch variiert in ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit.
Die höchste Verdichtung dieser Komposition offenbart sich in den initialen Kapiteln des Buches, welche die „kosmische Dimension“ der ätherischen Wiederkunft, die damit einhergehenden menschlichen Transformationen und Impulse sowie das spezifisch anthroposophische Michaels-Mysterium tiefgründig beleuchten. Im weiteren Verlauf flacht die Darstellung indes so merklich ab, dass man, so scheint es mir, mit den Originalstellen Steiners gleichermaßen gut bedient wäre. Prokofieff referiert Steiner nicht bloß; er beschränkt sich über weite Strecken auf die bloße Moderation von Zitat- Versammlungen. Für den bereits in die Thematik eingeweihten Leser mag dies nicht störend wirken, da er eine Gesamtschau auf Steiners Christus-Vorstellung erhält. Dennoch bleiben Prokofieffs eigene Einsichten oder Erklärungsversuche rar. Sein primäres Anliegen scheint die vollständige Darstellung zu sein, weniger das Wecken des Verständnisses beim Leser.
Exkurs über die „Ätherisation des Blutes“
In der Anthroposophie, wie sie von Rudolf Steiner begründet wurde, ist die "Ätherisation des Blutes" ein zentrales und komplexes Konzept, das sich auf die Verwandlung physischer Substanz in eine ätherische, also lebenskräftige und geistige Substanz, bezieht. Es ist eng verbunden mit dem Verständnis des Menschen als einem Wesen, das nicht nur aus einem physischen Körper, sondern auch aus weiteren unsichtbaren Gliedern besteht: dem Ätherleib, dem Astralleib und dem Ich.
Hier die wesentlichen Aspekte der "Ätherisation des Blutes":
Stichwort Das Blut als Träger des Ich: In der Anthroposophie wird das Blut als der physische Ausdruck des menschlichen Ich-Trägers angesehen. Es ist der Ort, an dem das Ich direkt in die physische Leiblichkeit eingreift. Phänomene wie Erröten oder Erbleichen zeigen die unmittelbare Verbindung des Blutes mit seelischen Prozessen.
Stichwort Verwandlung von Physischem ins Ätherische: Die "Ätherisation des Blutes" beschreibt einen Prozess, bei dem der physische Stoff des Blutes im "Sonnenzentrum des Herzens" durch die Tätigkeit des Ichs in ätherische Substanz umgewandelt wird. Das bedeutet, dass materielle Bestandteile des Blutes in feinere, übersinnliche Lebenskräfte überführt werden. Es ist eine Vergeistigung des Blutes.
Stichwort Bedeutung für das Denken und Bewusstsein: Dieses ätherisierte Blut strömt vom Herzen zum Kopf. Diese "Herzätherkräfte" durchdringen das Gehirn und sollen dort das Denken erst ermöglichen. Das Denken, wie wir es im Wachzustand erleben, ist nach anthroposophischer Auffassung ein Prozess, bei dem lebendige Gedanken, die mit dem Blut aufsteigen, im menschlichen Haupt "ersterben". Gerade in diesem "toten Denken" sieht Steiner die Möglichkeit für den Menschen, seine innere Freiheit zu ergreifen und sich ihrer bewusst zu werden.
Stichwort Verbindung zum Christus-Impuls: Eine Schlüsselrolle bei der Ätherisation des Blutes spielt der Christus-Impuls. Steiner lehrt, dass seit dem Mysterium von Golgatha, bei dem das Blut Christi vergossen wurde, die Christuskraft sich mit dem Ätherstrom des Menschen vereinigen kann. Wenn der Mensch ein tieferes Verständnis und eine bewusste Verbindung zum Christus-Impuls entwickelt, kann das "ätherische Blut des Jesus von Nazareth" mit dem Blut des Menschen zusammenströmen.
Stichwort Schulungsweg und mystische Verwandlung: Die "Ätherisation des Blutes" ist nicht nur ein passiver Vorgang, sondern kann durch spirituelle Schulungswege, insbesondere durch "michaelisch-rosenkreuzerische" Konzepte, bewusst gefördert werden. Diese Schulung wirkt von oben (Denkschulung) nach unten (Herzdenken) und beinhaltet eine innere Reinigung und Selbstkonfrontation. Dadurch kann ein verborgener zweiter Blutstrom bemerkbar werden, der als verjüngtes, imaginatives Strömen beschrieben wird, welches aus der Verlebendigung durch den Auferstandenen entspringt.
Stichwort "Intellektuelles Hellsichtigwerden": Die höchste Form dieser mystischen Verwandlung kann zu einem "intellektuellen Hellsichtigwerden" führen. Dies ist keine unkontrollierte Hellsichtigkeit, sondern eine Reifung der Erkenntnisfähigkeit, die von Verantwortung und individueller Ausprägung geprägt ist. Sie kann bis zur "intuitiven Verschmelzung des Menschen-Ich mit dem Christus-Ich" gehen, wobei der Mensch seine eigene Individualität nicht verliert.
Zusammenfassend ist die "Ätherisation des Blutes" in der Anthroposophie ein fundamentaler Prozess der Vergeistigung des menschlichen Leibes, der eng mit dem Denken, dem Bewusstsein und insbesondere der spirituellen Entwicklung des Menschen im Zusammenhang mit dem Christus-Impuls steht. Es geht darum, die materielle Grundlage des Lebens (das Blut) so zu transformieren, dass sie als Träger für höhere, geistige Erkenntnis und eine tiefere Verbindung zum Kosmos dienen kann.
Mystische Transformation
Im Zentrum seiner Ausführungen steht die mystische Transformation des gesamten Menschen, insbesondere im Hinblick auf die gerade erläuterte mystische „Ätherisation des Blutes“. Demnach fungiert das Herz als eine Wandlungseinheit, durch die leibgebundene Kräfte ausströmen und im Gehirn zu Vorstellungen verarbeitet werden. Dies ermöglicht, wie Prokofieff zitiert, erst das Denken im menschlichen Kopf (S. 140). Die „noch lebendigen Gedanken“ steigen mit dem Blutstrom auf und „ersterben im menschlichen Haupt, damit der Mensch in diesem toten Denken seine Freiheit innerlich ergreifen und ihrer gewahr werden kann“. Durch eine adäquate Willensschulung nach michaelisch- rosenkreuzerischem Konzept, die von oben (Denkschulung) nach unten (Herzdenken) wirkt und einer inneren Reinigung sowie einer Selbstkonfrontation gleichkommt, wird auch der verborgene zweite Strom spürbar, der ebenfalls dem Blut entstammt – diesmal jedoch als verjüngtes, imaginatives Strömen, das der Verlebendigung durch den Auferstandenen entspringt. Dies kann, Steiner zufolge, zu einem „intellektuellen Hellsichtigwerden“ in voller Reife, Verantwortung und individueller Ausprägung führen. Die mystische Wandlung kann bis zur höchsten Begnadung reichen, die in der „intuitiven Verschmelzung des Menschen-Ich mit dem Christus-Ich“ gipfelt, „ohne von seiner eigenen Ich-Individualität nur das Geringste einbüßen zu müssen“ (S. 117).
Exkurs über das michaelische Wahrheitsprinzip
In der Anthroposophie, wie sie von Rudolf Steiner entwickelt wurde, spielt der Erzengel Michael eine zentrale und sich wandelnde Rolle in der geistigen Entwicklung der Menschheit. Das "michaelische Wahrheitsprinzip" und die Figur des Erzengels Michael sind untrennbar miteinander verbunden und markieren einen entscheidenden Wendepunkt in der menschlichen Bewusstseinsentwicklung.
Die Figur des Erzengels Michael
Michael ist in der Anthroposophie nicht bloß eine biblische Gestalt oder ein Schutzengel im traditionellen Sinne, sondern eine mächtige, kosmische Intelligenz und ein Führer der Menschheit. Seine Bedeutung hat sich im Laufe der Menschheitsgeschichte gewandelt:
Kosmischer Intellekt-Verwalter: Ursprünglich, in vorchristlichen Zeiten, galt Michael als der Hüter und Verwalter der kosmischen Intelligenz. Er war jener Geist, der die Menschen inspirierte und ihnen die Wahrheit über die kosmischen Zusammenhänge vermittelte, oft in einer noch unbewussten, intuitiven Weise. Die Weisheit floss von oben in die Menschen ein.
Der Drachenbezwinger: Michael wird klassisch als der Drachenbezwinger dargestellt. In der Anthroposophie symbolisiert der Drache (oft mit Ahriman assoziiert) die materialistischen Kräfte, die den Menschen an die bloße Erdenschwere binden, ihn von der geistigen Welt abtrennen und sein Denken in starre, leblose Konzepte verstricken wollen. Michaels Kampf gegen den Drachen steht für den Kampf um die Befreiung des menschlichen Geistes vom erdrückenden Materialismus und für die Wiedergewinnung einer lebendigen Beziehung zur geistigen Welt.
Wandel zum Zeitgeist
Ein wichtiger Punkt in Steiners Lehre ist, dass Michael im Jahr 1879 eine neue Ära, das Michael-Zeitalter, eingeleitet hat. Vor dieser Zeit war Michael der "Sendbote Jahwes", ein Volksgeist, der bestimmte Völker führte. Seit 1879 ist er jedoch zum Zeitgeist der Menschheit aufgestiegen. Das bedeutet, dass er nicht mehr nur bestimmte Gruppen inspiriert, sondern einen universellen Impuls für die gesamte Menschheit trägt.
Hüter der Intelligenz auf der Erde: Mit dem Beginn des Michael-Zeitalters ist die Intelligenz, die zuvor als kosmische Substanz im Äther schwebte, auf die Erde herabgesunken und in die Seelen der Menschen eingegangen. Michael ist nun der Hüter dieser Intelligenz, die der Mensch nicht mehr passiv empfängt, sondern aktiv und frei erringen muss.
Anreger der Gewissenskräfte: Michael regt in der modernen Zeit die Gewissenskräfte der Menschen an. Er fordert den Menschen auf, eigenverantwortlich und selbstständig die Wahrheit zu suchen und zu handeln.
Das "Michaelische Wahrheitsprinzip"
Das michaelische Wahrheitsprinzip ist eng mit Michaels neuer Rolle als Zeitgeist verbunden und kennzeichnet eine grundlegende Veränderung im menschlichen Erkenntnisweg:
Erringen der Wahrheit aus eigener Kraft: Anders als in früheren Epochen, in denen die Wahrheit oft durch Offenbarung oder übermittelte Dogmen empfangen wurde, fordert das michaelische Wahrheitsprinzip den Menschen auf, die Wahrheit aus sich selbst heraus zu finden. Es geht um eine individuelle, freie und bewusste Erkenntnis.
Konfrontation mit dem Nichts und den Schatten: Dieses Prinzip beinhaltet eine schonungslose Selbstkonfrontation. Der Mensch muss sich seinen eigenen "Schatten", Ängsten, Illusionen und selbstgeschaffenen Bildern stellen. Es ist ein "Bestehen vor dem Nichts" – ein Erkennen der eigenen Begrenzungen und der Illusionen des Egos, um darüber hinaus zu wachsen. Dies ist oft der schwierigste Teil des michaelischen Weges, da er Mut und Willenskraft erfordert. Es geht darum, die eigenen Selbstbilder zerbrechen zu lassen, um das wahre Ich zu finden.
Herzdenken und lebendiges Denken
Das michaelische Wahrheitsprinzip fördert ein Denken, das nicht nur intellektuell-abstrakt ist, sondern vom Herzen durchdrungen und von Liebe durchströmt wird. Steiner spricht hier vom "Herzdenken" oder "lebendigen Denken". Es ist ein Denken, das nicht nur analysiert, sondern auch intuitiv erfasst und die spirituellen Realitäten wahrnehmen kann. Die Ätherisation des Blutes, wie zuvor beschrieben, ist hierfür eine physiologische Voraussetzung.
Aktivierung der Chakren und innere Reinigung: Um dieses lebendige Denken und die damit verbundene höhere Erkenntnis zu ermöglichen, sieht die Anthroposophie die Notwendigkeit einer inneren Reinigung und einer bewussten Schulung. Dies beinhaltet auch eine Aktivierung und Harmonisierung bestimmter spiritueller Energiezentren (Chakren), insbesondere von der Stirn über den Kehlkopfbereich bis zum Herzen.
Mut zur Freiheit: Michael ist der Erzengel der Freiheit. Das michaelische Wahrheitsprinzip ist der Weg zu einer wahrhaftigen inneren Freiheit, die nicht durch äußere Umstände oder Autoritäten bedingt ist, sondern aus der eigenen, bewussten und selbst errungenen Erkenntnis entsteht. Es ist der Impuls zur "Befreiung seines Herzens von den Drachenmächten".
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das "michaelische Wahrheitsprinzip" in der Anthroposophie den Weg des modernen Menschen zur geistigen Erkenntnis beschreibt. Es ist ein aktiver, individueller und innerlicher Prozess, der durch die Führung des Erzengels Michael im aktuellen Zeitalter ermöglicht wird. Es fordert den Menschen auf, seine eigene Intelligenz und sein Bewusstsein zu schulen, sich seinen inneren Widerständen zu stellen und eine lebendige, herzensdurchdrungene Beziehung zur Wahrheit und zur geistigen Welt aufzubauen
Schonungslose Selbst- Konfrontation
Die innere Reinigung durch das michaelische Wahrheitsprinzip erfordert, wie in jeder esoterischen Schulung seit jeher bekannt, eine schonungslose Selbstkonfrontation – eine Begegnung mit den eigenen Schatten: „So kann man sagen: Michael führt heute den Geistesschüler zum Abgrund des Seins, wo er sich als absolutes Nichts vor dem völligen Nichts stehend erleben muss.“ Diese zentrale Anforderung, die in der Praxis doch die allergrößten Schwierigkeiten für den Einzelnen bedeuten muss, wird von Prokofieff wiederum mit Zitaten Steiners belegt, jedoch nicht hinlänglich erläutert. Das Michaels-Mysterium, das im Bestehen vor dem Nichts und nach dem Zerbrechen der Selbstbilder als Probe des Willens ausgelegt ist, ist zentral mit einem modernen „Erkenne dich selbst“ verbunden, begleitet von einer Aktivierung der Chakren von der Stirn über den Kehlkopfbereich bis zum Herzen und weiter. Nur so wird – nach Steiner – „das Leben des Christus (..) vom 20. Jahrhundert an immer mehr und mehr in den Seelen der Menschen gefühlt werden als ein direktes persönliches Erlebnis“ (S. 106).
Shamballa
Es wäre nicht Prokofieffs Art, wenn er nicht in aller Ausführlichkeit gegen antichristliche Impulse anschriebe. Der Schwerpunkt bleibt jedoch – auch und gerade mit dem Fokus auf „Shambhala“ – die Initiation im angebrochenen Michaelzeitalter, wenn „die Ideen des Menschen nicht nur „denkend“ bleiben, sondern im Denken „sehend“ werden“ (S. 74). Es geht ja um nicht weniger als um die „Befreiung seines Herzens von den Drachenmächten durch den Michael-Impuls“ (S. 36). Gerade die ersten Kapitel des Buches – die die kosmische Dimension und Sophia behandeln – erreichen eine solche Dichte und inhaltliche Weite, dass sie selbst als meditative Texte gelten dürfen. Da es zu einem nicht geringen Teil um Perspektiven menschlichen Lebens nach dem Tod und vor der Geburt geht, darf man Prokofieffs Buch als „anthroposophisches Totenbuch“ analog zum klassischen „Tibetischen Totenbuch“ bezeichnen. Es ist eine Art Wegzehrung vor und nach den letzten Aufbrüchen, etwas, das man mitnimmt. Insofern eignen sich gerade die Anfangskapitel auch zum gemeinsamen Lesen mit Verstorbenen. Bedauerlich an dem Buch bleibt insgesamt, wie sehr es sich um „Insider-Literatur“ handelt, wie wenig schon im sprachlichen Auftreten mit der Gegenwart und dem zeitgenössischen Leser gerechnet wird. Prokofieff verbleibt in den Sprachbildern Rudolf Steiners, tritt aus ihnen nicht heraus und bleibt somit eine Vermittlung und Erläuterung schuldig, die über die Originaltexte hinausgehen würde. An einigen Stellen verliert sich Prokofieff regelrecht in Bildern (etwa von Isis, Sophia usw.) und verrätselt Steiner dadurch, während ihm an anderen eine meditative Verdichtung zumindest für den Kenner der Materie gelingt.
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Quelle: Sergej O. Prokofieff, Das Erscheinen des Christus im Ätherischen. Geisteswissenschaftliche Aspekte der ätherischen Wiederkunft, Dornach 2010.