Ueli Hurters Appell an die Anthroposophen & der Ruf Michaels


Eine anthroposophische Betrachtung der Weltgesellschaft

Liebe Anthropotanten und Welterklärer, In einer Zeit, in der die globalen Strömungen der Re-Nationalisierung – manifestiert in steigenden Zöllen, Grenzzäunen und eskalierenden Militärausgaben – unübersehbar sind, stellt sich der Anthroposophie als Weltbewegung die existenzielle Frage nach ihrem Bestand und ihrer Bestimmung. Ueli Hurters eindringlicher Appell (1), so tiefgründig und doch auf den ersten Blick schlicht, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als ein Ruf an die anthroposophische Weltgesellschaft selbst. Hurter thematisiert nicht nur die Globalisierung , sondern verknüpft sie mit dem tiefen Mythos des Erzengels Michael.

Bevor wir jedoch tiefer in die Textanalyse eintauchen, ist es unerlässlich, das Wirken und den mythischen Einfluss dieses Erzengels zu beleuchten, dessen Bedeutung im anthroposophischen Weltbild zentriert ist.


Geist, Zeitgeist, Weltgeist

Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie, beschreibt Michael als eine zentrale und dynamische Gestalt in der spirituellen Evolution der Menschheit. Sein "Ruf" – ein wiederkehrendes Motiv bei Steiner – ist seit 1879 untrennbar mit seiner Rolle als Zeitgeist unserer gegenwärtigen Epoche verbunden. Michael, vormals Verwalter der kosmischen Intelligenz in der Sonne, ist nun der maßgebliche Führer der Menschheitsentwicklung. Sein Ruf ist die Aufforderung, die aus der materiellen Welt gewonnenen Erkenntnisse ins Geistige zu transformieren und ein tiefes, bewusstes Verständnis des Christus-Impulses zu entwickeln. Michael befähigt die Bewusstseinsseele des Menschen, den "Sprung über den Abgrund" zu wagen und in Freiheit zu denken und zu handeln. Damit sind höhere Grade des Bewusstseins verbunden, eine Verdichtung, eine Konzentration, die über die Gebundenheit an die dual erlebte Welt hinaus trägt- der individuelle Geist wird Weltgeist.

Als Wesen aus dem Reich der Archangeloi (Erzengel) nimmt Michael eine herausragende Position ein. Im zyklischen Wechsel der Menschheitsführung hat er seit 1879 die Herrschaft als Zeitgeist inne und wird sich allmählich in die Natur der Archai (Urbeginne) wandeln, was seine Rolle als leitende Wesenheit für die gesamte Menschheit manifestiert. Er ist der Stellvertreter des Sonnengenius, fähig, die "entgegengesetzten Kräfte" – symbolisiert durch den Drachen – zu bändigen und die universelle Intelligenz zu lenken.


Exkurs über den Erzengel

Michael sei - so das anthroposophische Credo- Vermittler der Intelligenz und des Bewusstseins: Er legte die Grundlage für menschliche Wahrnehmung und Intelligenz, indem er die luziferischen Geister in die menschliche Sphäre stieß und die kosmische Intelligenz verwaltete. So schwärmen Anthroposophen seit jeher vom Reinen Denken- die süße Frucht des Michael, das unkörperlich, über den sensorischen Apparat hinaus ragende Bewusstsein, das sich emanzipiert hat von allen körperlichen Bezügen und Rückmeldungen- ein Denken, das aus sich zu bestehen vermag. 

Natürlich sei Michael auch Führer der Michael-Epoche (seit 1879): In dieser Ära ermöglicht er den bewussten Zugang zur geistigen Welt, indem er die menschliche Intelligenz "himmlisch" inspiriert und der ahrimanischen Beeinflussung entgegenwirkt. Die Anthroposophie selbst wird im Lichte Michaels als Weg zu einem neuen Welt- und Christus-Verständnis gesehen, als Schlüssel, mit dem man sich als Anthroposoph die Teilhabe an der neuen, kommenden Ära und Kultur garantiert. 

Eine weitere Rolle Michaels ist die als Bekämpfer des Drachens und Hüter der Freiheit: Michael überwindet die Drachenkräfte (Luzifer und Ahriman), die den Menschen in Materialismus zu verstricken suchen. Durch seinen Sieg ermöglicht er die individuelle menschliche Freiheit, die es dem Menschen gestattet, den ahrimanischen Mächten entgegenzuwirken und sein Schicksal bewusst zu gestalten. Anthroposophen sehen sich in diesen kosmischen Endkampf verwickelt- sie sind es ja, in denen der Kampf zwischen Michael und den Widersachern stattfindet. Anthroposophen wähnen sich da auf der sicheren Seite.

Und, natürlich ist man als Jünger des Michael Teil eines ewigen Kultes, eines „ewigen Prinzips“: Angesichts des "Verfalls der Sonne" – als äußeres Zeichen einer abnehmenden Michael-Kraft im Materiellen – ist es seine Aufgabe, das "Ewige" seines Wirkens in die Zukunft zu tragen und die Menschheit auf ihrem geistigen Weg zu begleiten.Zusätzlich tritt Michael als „Inspirator“ der anthroposophischen Bewegung: Michael inspiriert Persönlichkeiten, die karmisch mit ihm verbunden sind, um die anthroposophische Bewegung zur "Kulmination" zu führen und zur "Rettung der Erdenzivilisation vor dem Verfall" beizutragen.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Michael bei Steiner weit mehr als nur ein Erzengel ist; er ist eine transformative geistige Kraft, die die Menschheit durch ihre evolutionären Phasen lenkt, ihr Intelligenz und Freiheit schenkt und sie auf einen bewussten Weg der geistigen Entwicklung vorbereitet und begleitet, insbesondere durch das Medium der Anthroposophie.


Der Kosmopolitische Impuls der Anthroposophie im Angesicht der Re-Nationalisierung

Ueli Hurters Text reflektiert die aktuelle globale Entwicklung der "Re-Nationalisierung" und stellt die  Frage nach dem Fortbestehen der Anthroposophie als "Weltbewegung". Der Autor postuliert, dass der kosmopolitische Zug ein essenzieller Bestandteil der Anthroposophie sei, da sie den Zeitgeist durch die aktuelle Mission Michaels verkörpere. Michael, der die kosmische Intellektualität verwaltet und als "Antlitz Christi" erscheint, ermöglicht - so das Versprechen- durch die Verleihung der persönlichen Freiheit einen „Sprung über den Abgrund" zu spirituellem Denken und Handeln. Diese Freiheit sei eine universelle Aufforderung an jedes Individuum, sich als Mitgestalter der Zeit zu begreifen.

Der Text hebt die Notwendigkeit hervor, ein Gleichgewicht zwischen abstrakt- ahrimanischem und schwärmerisch- luziferischem Denken zu finden. Dies dient dazu, die reale Diversität menschlicher Lebensrealitäten – seien sie national, sprachlich, sozial oder religiös – anzuerkennen und wertzuschätzen. Diese Diversität wird nicht als Hindernis, sondern als Reichtum und Schönheit des Lebens betrachtet, der sich in der Anthroposophie sogar noch differenzierter entfalten soll. Es wird von Hurter konstatiert, dass die Anthroposophie auch nach über 100 Jahren an vielen Stellen erst am Anfang steht, auf ihrem Weg dahin, globale Prägeformen für eine diverse Weltkultur zu entwickeln, die über die ursprünglichen mitteleuropäischen Erscheinungsformen hinaus immer weiter entfaltet. Der Einfluss von Anthroposophie auf „Weltkultur“ ist aber wohl eher gefühlter Natur. Aber Hurter unternimmt den Versuch, den globalen anthroposophischen Impuls als solchen zu beschwören und daran zu appellieren, die Orientierung an diesem großen Ziel im Auge zu behalten. Hurters Appell richtet sich also ganz an die innere Mission, in schwierigen Zeiten weiterhin „groß“ zu denken. „Weltgesellschaft“ zu sein ist der Anspruch, den Anthroposophie an sich selbst hat, und zwar im Namen nicht nur des Meisters, sondern auch des Erzengels, ja quasi ganzer geistiger Hierarchien. 

Der Autor plädiert abschließend für ein tieferes Interesse an und Respekt vor der Andersartigkeit des Anderen. Die spannungsgeladene Beziehung zwischen Welt und Nation wird dabei nicht als Widerspruch, sondern als sich bedingende Polarität begriffen. Die Bezeichnung "kosmopolitische Gesellschaft" soll die Geschwisterlichkeit aller Menschen unter Einbezug konkreter kultureller und sozialer Diversität zum Ausdruck bringen und zu Engagement und Zusammenarbeit für eine auf individueller Freiheit basierende Welt anregen.


Stilmittel und anthroposophische Eigenheiten

Ueli Hurters Text zeichnet sich durch eine Reihe charakteristischer Merkmale aus, die ihn stilistisch interessant und inhaltlich anspruchsvoll gestalten. Es fallen zunächst Neologismen und Zusammensetzungen auf: Begriffe wie "Zeitenwende", "Re-Nationalisierung" oder "Eigendenkens" sind typisch für einen spezialisierten Diskurs innerhalb der Anthroposophie und ermöglichen die präzise Benennung komplexer Sachverhalte. Lange, verschachtelte Sätze mit zahlreichen Nebensätzen erhöhen die Informationsdichte und tragen zu einem tiefgründigen, reflektierenden Ton bei. Die Analyse des Textes ergibt einen assoziativen und reflexiven Stil: Der Text verbindet aktuelle gesellschaftliche Beobachtungen mit fundamentalen Fragen der Anthroposophie und spirituellen Konzepten, wodurch ein essayistischer und nachdenklicher Charakter entsteht.

 Hurter stellt gern rhetorische Fragen an den anthroposophischen Leser. Diese dienen als Stilmittel, um den Leser zur Reflexion anzuregen und Argumente subtil einzuleiten oder zu untermauern. Die bewusste Anapher am Anfang ("Die Zölle gehen hoch, die Zäune gehen hoch, die Militärausgaben gehen hoch") schafft einen eindringlichen Effekt und markiert den Beginn der kritischen Beobachtung. Klammerzusätze dienen der Präzisierung und der Einbettung spezifischer anthroposophischer Terminologie, wie bei "Welt(hoch)schule" oder "Abstrakt-Ahrimanische". Die im Text erkennbare direkte Ansprache oder Aufforderungen wie "Sei frei, sei ein Mensch mit Initiative, sei ein Mitgestalter der Zeit, in der du lebst" unterstreichen den aktivistischen Impuls des Textes. Andererseits beachtet Hurter kommunikative Mittel wie  „Ich- Botschaft“ oder subjektive Formulierungen: Ausdrücke wie "Ich meine, dass..." verdeutlichen die persönliche Haltung und das Engagement des Autors, schlagen aber auch die unmittelbare Brücke zum Leser. Hurters stilistische Methodik erscheint als gekonnt und durchdacht.


Evergreen der Szene

Aus einer kritischen Perspektive betrachtet, operiert der Text  innerhalb eines traditionellen anthroposophischen Weltbildes. Appelle an die Weltgesellschaft, getragen auf den Schwingen des Erzengels und Zeitgeistes, wer bekommt das nicht warme Gefühle?  Begriffe wie "Zeitgeist", "Mission Michaels" oder "kosmische Intellektualität" sind Vokabular, das für Leser außerhalb dieses Kontextes eine hohe Einstiegshürde darstellen kann. Der Text ist primär spiritueller Natur, der Appell an die kosmische Intellektualität erschallt in diesem Milieu seit hundert Jahren, und es stärkt ja auch das Wir- Gefühl. Allerdings ist der Appell schon so oft erklungen, dass man sich auch fragen kann, ob es denn in dieser Hinsicht keine Fortschritte gegeben hat? 

Die Versuche der Anthroposophischen Gesellschaft, sich auf Meditation zu konzentrieren, was durch große Tagungen angestrebt wurde, sind offenbar verebbt. Sich auf michaelische Appelle zu beschränken, erscheint aus dieser Perspektive auch als eine Art Rückbesinnung. 

Erwähnt werden soll noch, dass der Text auch selbstreflektierte Passagen enthält, insbesondere in der Anerkennung, dass die "historischen Ersterscheinungen der Anthroposophie in Mitteleuropa nicht die globalen Prägeformen für eine diverse Weltkultur sein können". Dies weist auf eine Bereitschaft zur Weiterentwicklung und Anpassung hin.

So erscheint Hurters Text an die Mitglieder als ein engagierter  Beitrag, der aus einer spezifischen spirituellen Perspektive zur Reflexion anregen, aber vor allem eine bestimmte Haltung innerhalb der Anthroposophie fördern möchte. Seine Stärke liegt in der inneren Kohärenz und der Argumentation innerhalb des anthroposophischen Bezugsrahmens, gepaart mit einer Bereitschaft zur Selbstkritik.Sein Nachteil ist, dass er derartig als Evergreen der Szene daher kommt, dass er in jedem der letzten hundert Jahre hätte erscheinen können. Das macht den Text einigermaßen luftig. Er schwebt gewissermaßen in der von ihm selbst erzeugten Zeitlosigkeit.

Verweis:

https://anthroposophie.org/de/nachrichten/der-ruf-michaels-ist-universell-hörbar-nur-vom-individuellen-herz