Die Sichtbarkeit vor dem Engel

Im Hintergrund singen „The Killers“ schmachtend von der Frage, ob wir eigentlich menschlich sind („Human“):


Are we human, or are we dancer
My sign is vital, my hands are cold
And I'm on my knees, looking for the answer
Are we human, or are we dancer


Ich glaube, dass wir diese Frage immer und unter allen Umständen bejahen würden, jedenfalls was uns selbst betrifft. Bei Anderen dagegen sind wir nicht immer so sicher. Allerdings folgen wir, wenn wir ehrlich sind, allerlei simplen Reflexen- nicht nur, wenn wir einfach gierig und unverschämt werden, sondern gerade dann, wenn wir uns als selbstlos empfinden. In vieler Hinsicht unterliegen wir einem Rechtfertigungs- Reflex. Was wir uns aneignen, darauf haben wir in unseren Augen ein Recht. Wenn uns aber etwas genommen oder verweigert wird, fühlen wir uns ungerecht behandelt. Sind diese ritualisierten emotionalen Reflexmuster (und viele andere ließen sich aufzählen), alles, wohin wir es gebracht haben? Sind sie in ihrer Summe das „Individuelle“, das „eigentlich“ Menschliche?

Ja und nein. Auf der Ebene der emotionalen Selbstbezüglichkeit, der individualisierten Reflexe, sind diese Muster – ebenso wie die beschönigenden Erklärungen – absolut allzu- menschlich. Die Freiheitsmomente beginnen dort, wo wir uns davon frei machen können. Es wäre niederschmetternd, wenn es zu dieser inneren Unabhängigkeit gar nicht mehr kommen könnte. Wer sich nur auf der Ebene seelischer Reflexe bewegt, kann auch Andere auch nur auf dieser absehbaren Ebene erkennen. Vielleicht spürt man noch Intentionen Anderer, aber nur im Rahmen des zu Erwartenden und stets nur in Bezug auf sich selbst: Was habe ich davon, was bringt mir das, wozu kann das nützlich sein. Mit der Reduzierung auf das Nützliche für mich wird der Andere in einen Rahmen gespannt, in dem er nicht mehr als Mensch sichtbar ist, wenn man unter „menschlich“ die Autonomie und innere Freiheit verstehen möchte.

„Menschlich“ im modernen spirituellen Sinne hieße die Intentionen des Anderen zu respektieren, anzunehmen, im Idealfall zu fördern. Wir wissen sehr gut, dass wir immer jemanden brauchen, der nicht unser So- Sein, nicht das Gewordene, sondern unser Potential sieht. Wer an uns glaubt, bringt das Beste in uns hervor – vielleicht sogar etwas in uns, an das wir nicht einmal selbst mehr geglaubt haben.

Nun geht es Leuten, die üben und praktizieren, nicht anders. Auch sie stecken tief in der Glocke ihrer Selbstbezüglichkeit. Sie wollen vielleicht ihre Reinheit, ihren Edelmut, ihre Kultiviertheit zelebrieren und beschäftigen sich mit Meditation. Sie erleben eine Steigerung ihrer Einmaligkeit, ihrer Selbstlosigkeit, ihrer Nähe zum Geist. Der Geist sollte ihnen das, finden sie, mit gleicher Münze zurück zahlen- etwa in Form imaginativer Bilder, Erleuchtungserlebnisse und Visionen. Schließlich investiert man Zeit und Mühe. Manchen gelingt es, eine Art Projektion ihrer Selbstgefühle zu erreichen; sie werden dann von genau der Erleuchtung geadelt, die sie erwartet haben. Strukturell- in der inneren Gefühligkeit, in der Fesselung an die emotionalen Reflexe- hat sich bei ihnen nichts verändert, außer dass das Problem nun potenziert erscheint.

Der „Geist“ hat bei ihnen gar keine Chance. Solange sie in ihrem Kokon verharren – egal wie aufgeblasen, edelmütig und "okkult" dieser erscheinen mag- sind solche Menschen vollständig unsichtbar. Es kommt nicht darauf an, was man sieht- es kommt darauf an, überhaupt sichtbar zu werden. Bis dahin schwebt der Engel einsam an ihnen vorbei- ihm sind die Augen verbunden.