Kollektive geistige Obdachlosigkeit oder: Die unbestimmte Wut der Verschwörungstheoretiker

Geistige Balance halten
In der vierteljährlich erscheinenden europäischen Kulturzeitschrift Lettre International finden sich derartig viele anregende Artikel, dass es mir schwer fällt, einzelne heraus zu greifen - nennen wir aus dem Sommerheft 2016 zunächst Letizia Battaglias leidenschaftliches fotografisches und schriftliches Plädoyer gegen die Mafia in Sizilien, für die Freiheit und die „sizilianische Schule des Lebens“, Yitzhak Laors Betrachtungen über Hannah Arendt und Bertold Brecht - „Liebe, Tugend, Schuld und Sühne“ oder Mike Davis´, dem Stadt- und Terror- Philosophen, der hier über Klimapioniere seit den Zeiten Kropotkins berichtet, die ihre jeweils eifersüchtig ausgefochtenen systemischen Zustandsbeschreibungen vom Zustand des Planeten austragen: „Kropotkin, Mars, Asien - Von Eiszeiten, Wassermangel und Wüstenzonen“. Träume, Visionen, gedankliche Konstrukte, die gerade haussieren; Georges Nivat betrachtet Russlands „Traum des Weltreichs“- die wieder einmal aufgeflammte „Nostalgie nach dem großen Vaterland“. Ein Heft zum Thema Europa - da könnte man stets einiges anfügen. Ich möchte an Simon Glinvars persönliche Betrachtungen und Beobachtungen aus Dänemark anknüpfen, der episodisch aus dem Leben seines Großvaters berichtet, einem ehemaligen Polizeichef, der nun, im Alter beim Fischen plötzlich „am Außenbordmotor erstarrt war und seine Umgebung nicht mehr entschlüsseln konnte“. Es ist der Ausbruch einer fortschreitenden, sich schubweise vollziehenden Form von Demenz. In den zunächst phasenweise erscheinenden Bewusstseinsveränderungen kommt es dazu, „daß die Welt feindlich wirkt (..) und diese Feindlichkeit dürfte bei ihm das Gefühl gefördert haben, sich nirgendwo mehr zu Hause zu fühlen.“ Der Großvater geht durch einen Wechsel hindurch „von einem entgegenkommenden, freundlichen Milieu zu einem feindlichen“.

Glinvar fasst diese Auswirkungen der Demenz als Symptom der Zeit auf. Auch Europa verändert sein Gesicht und erlebt sich - zumindest stetig wachsende Mengen von Menschen - zunehmend als heimatlos. Die unbestimmte Wut des Irritierten wird im Kollektiv, das seinen Realitätsverlust und die Heimatlosigkeit als mentale Konstruktion erlebt, gelenkt auf diejenigen, die verantwortlich gemacht werden für die Überfremdung: Diejenigen, die physisch Heimatlosigkeit vor Augen führen wie z.B. Flüchtlinge. Die Flüchtlinge führen vor Augen, was der heimatlose gewordene Bürger intrinsisch - mental erlebt.

Glinvar führt die zahllosen Maßnahmen auf, die europäische Staaten und Gemeinden unternehmen, um dieses Vor- Augen- führen zu unterbinden. In Italien ist der Kampf um die Parkbänke entbrannt, deren missbräuchliche Nutzung scharf verfolgt wird. Der unerlaubte Aufenthalt im öffentlichen Raum ist längst zum Politikum geworden. Das Vor- Augen- führen der Heimatlosigkeit hat in Ungarn dazu geführt, dass „Obdachlosigkeit ganz einfach für gesetzwidrig erklärt“ wurde. Gerade lese ich in der Moskow Times, dass per Dekret jedes ungebührliche Verhalten in der Öffentlichkeit unter Strafe gestellt wird. Das ist ein weites Feld. Was als fremd und ungebührlich erscheint, liegt im Auge des Betrachters- in diesem Fall dem der Staatssicherheit.

Was aber führt zur flächendeckenden Entfremdung ganzer Bevölkerungsteile, zur grassierenden Wut, die so anfällig macht für simple politische Parolen? Ein Paradox zeigt sich ja auch darin, dass die Landesteile besonders anfällig dafür sind, die am wenigsten mit Flüchtlingen konfrontiert sind- so wie in Großbritannien die am vehementesten für den Brexit stimmten, die am meisten von der EU profitierten. In vielen solcher Symptome zeigt sich doch, wie sehr die mentale Konstruktion sich abgekoppelt hat vom Realen- und wie weit sie fortgeschritten ist. Überfremdung, Fremdbestimmung, aber auch Rassismus und neu aufgewachter Nationalismus sind heute Symptome eines grassierenden Realitätsverlusts, ja einer kollektiven geistigen Obdachlosigkeit.

In Russland ist diese Krise schon lange virulent; sie wird von den Strategen des Kreml souverän bedient, wie Ulrich Schmid in „Technologien der Seele. Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur“ schreibt. Schon im Jahr 2000 wollten lediglich 24% der Russen noch in einem Land leben, das „der modernen Welt und ihren Einflüssen aufgeschlossen gegenübersteht“. Seitdem sinkt die Zahl der Weltoffenen weiter stetig. Stattdessen sucht man den Zusammenhalt unter nationalistischen Reflexen: „Das Imperium ist also ein Konzept, das wie kein anderes den Zusammenhalt Russlands garantieren kann“ (S. 118) - man hebt sich am liebsten wie in weiten Teilen der Rechten Westeuropas „von einem bürokratischen Staat westlicher Prägung ab, der bloß die Rahmenbedingungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens definiert“. (S. 119)

Der Staat soll offensichtlich die innere Heimatlosigkeit, Leere, als feindlich empfundene Umgebung ausfüllen mit emotionalen, verbindenden Inhalten. Er soll sinnstiftend sein. Putin ist daher auch für viele Heimatlose im Osten zum neuen Idol und Führer geworden und reagiert, indem er die Rolle als „Sammler der russischen Erde“ immer stärker ausfüllt. Dass Ausgrenzung, das Errichten von Mauern, Rassismus und Aussperren derer, die die Heimatlosigkeit als Flüchtlinge vor Augen führen, die Parolen und Aktionen sind, die die neuen Führer zu Idolen machen, zeigen die Charaktere von Orban bis Trump nur zu deutlich. Natürlich ist die Botschaft hohl. Aber sie wirkt.

Denn das Surreale schreitet stetig voran, begünstigt durch die Welt der Information und des Tratsches in unserer aller Tasche. Man sieht es an Hunderten von Smartphone- Getriebenen jeden Alters auf der Königsallee in Düsseldorf, die auf der Jagd nach einem seltenen virtuellen Pokemon- Wesen sind. Oder nach neuen, surreal- aggressiven Twitter- Posts Beatrix von Storchs. Man sieht das Surreale auch in den idyllischen Urlaubsorten, deren Authentizität durch die internationalen Anlagefonds, denen sie gehören, so gepflegt wird, dass sie zu einem museal- kitschigen Abbild ihrer selbst geworden sind. Ist Venedig noch Venedig- oder nicht vielmehr ein Abbild des Klischees, das Touristen von Venedig erwarten? Ist das chinesische Essen „chinesisch“? Bin ich ich selbst oder das Bild, das ich mir und dir von mir selbst vorstelle?

Da wird Authentizität doch zum sicheren Hafen. Sergio Benvenuto stellt („Verschwörungen überall“) im vorgestellten Lettre- Heft eine ganze, umfassende Palette gängiger Verschwörungstheorien vor, die die Sicherheit und Authentizität vermitteln, die offenbar global der Virtualität zum Opfer fällt. Er fängt mit dem gebildeten Somalier an, der sich ganz sicher ist, dass „jeder in Afrika weiß: daß „sie“ das Ebola- Virus verbreitet haben“ (S. 132). „Sie“ sind in diesem Fall (je nach Kontinent austauschbar) „die europäisch- amerikanischen Mächte, die Hydra, deren Ziel es ist, die Afrikaner auszurotten“. Nach einem Rundummarsch mit Abstechern zu den Protokollen von Zion (von zaristischen Agenten verfaßt und bereits 1921 entlarvt), Umberto Ecos letzten Bemerkungen zum „Komplottismus“ bezüglich des Jesuitenordens (etwas, dem Rudolf Steiner ausgiebig anhing) und einem Abstecher zu Neros konspirativem Manöver, den Brand von Rom den Christen anzuhängen, kommt Benvenuto zum Resümee, die konspirativen Legenden seien ein Instrument zur Realisierung kognitiver Resonanz- aber auch ein Vermeidungsinstrument, „mit dem eine kritische Konfrontation mit der Realität vermieden werden“ soll, vor allem durch „brachiale Reduktion von Komplexität“ (S. 133). Das macht dieses Medium der hohlen Botschaften so ideal zum Instrument politischer Manipulation der geistig Obdachlosen und Frustrierten, vor allem durch den Schein des „Authentischen“, den Demagogen von Trump bis Putin so gut beherrschen.

Lit:

Ulrich Schmid, „Technologien der Seele. Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur“
Lettre international Sommer 2016. lettre.de