Das anthroposophische Om

Rudolf Steiners Notiz zum AUM
Von seiner frühesten theosophischen Lehrtätigkeit (Berlin, 21. 12. 1904) bis hin zu den späten Unterweisungen an seine Schüler in Esoterischen Stunden (Stuttgart, 13. Juli 1923), in, wie vom Protokoll vermerkt, geradezu verklärtem Zustand  („Es war inzwischen dunkel geworden. In dem letzten Licht war schließlich nur noch das zarte Weiß von Rudolf Steiners Antlitz und seiner Hände sichtbar“), beschäftigte sich Steiner mit den „Sanskritworten“ (1) AUM bzw „Aoum mani padme aoum“- jeweils nicht als klangliches Mantram im klassischen Sinne, sondern verbunden mit mehr oder weniger umfassenden okkulten Betrachtungen, in denen sich nicht in Länge und Breite, aber in der Tiefe die anthroposophische Weltanschauung spiegelte.

In der frühen Betrachtung - bestätigt durch eine oben wiedergegebene Notiz Rudolf Steiners - ergänzt er die Vokale des AUM jeweils mit einem Vers, den er als Grundlage für die Esoterische Stunde nahm, in der er die drei Zeilen erläuterte. Dem A schreibt er „Ich bekenne mich zu mir oder Ich bin“ zu, dem U „Ich bekenne mich zur Menschheit oder der Mensch ist“, dem M (im Widerspruch zur Notiz) „Ich bekenne mich zur Gottheit oder Gott ist“. (2)

Das „Ich bin“ ist dabei ein Zustand absoluter Eigenverantwortung - „für jeden Gedanken, jedes Gefühl und jede Handlung“- ein Moment innerer Freiheit und Souveränität, der uns - wie sich Rudolf Steiner vorsichtig ausdrückt- „etwas vorwärts“ bringt. Das Erleben des „Der Mensch ist“ entspricht dagegen der Realisation der umfassenden Verbindung mit jedem anderen Menschen, da von der Erziehung bis zum Pflastern der Straße „schon Leute für mich gearbeitet“ und mich geprägt haben. In jedem Augenblick meines Lebens hätten sich andere „um mich bemüht“. Selbst die Verbrechen Anderer könnten daran gelegen haben, dass „ich den Betreffenden vielleicht in einem früheren Leben nicht gebessert habe“. Insoweit sieht Rudolf Steiner im U die völlige karmische Verknüpfung der Zeitgenossen in gegenseitiger Verantwortlichkeit. Im M oder „Gott ist“ ist in Steiners Interpretation die meditative Realisation der Tatsache angesprochen, dass jedes menschliche Ich im Schöpfungsakt „aus einer Einheit der Gottheit geflossen“ sei, und dass es in ferner Zukunft auch ein Zurückfliessen des menschlichen „Sonderseins“ in die Gottheit geben werde. Das „Sich- Bekennen“ als Ich in der meditativen Selbstgewahrwerdung spricht in dieser Betrachtung Rudolf Steiners also Selbstverantwortung, soziale Verbindlichkeit und den göttlichen Ursprung des Menschen an.

Die späte Interpretation Steiners des Om mani padme hum ist wesentlich umfassender dokumentiert. Man muss bedenken, dass diese Unterweisungen in seinen Augen sehr intimen Charakter besaßen und für die engsten und eigentlichen Schüler bestimmt waren. Immerhin leitete er sie mit der Adresse „Meine lieben Schwestern und Brüder!“ (3) ein. Der Bezug zu den Sanskritworten besteht in verschiedenen Stufen und Hüllen, die in der meditativen Arbeit fallen. Die drei Hüllen, von denen das „Ich des Menschen .. umgeben“ ist, das keinen Egoismus kennt - „Egoistisch sind nur die Hüllen“ (4) schließen es ein wie die Blüten des Lotos: „Auch in dieser ist der innerste Kern von drei Kreisen von Blütenblättern umgeben.“ Dem entsprechend übersetzt Steiner den Sanskritspruch mit den Worten „Mein Ich ist beschlossen in der Lotosblüte“. Die esoterische Schulung im engeren Sinne bestehe darin, zu diesem „wahren Ich hin(zu)kommen“ im Durchschreiten aller drei Hüllen: „Das ergibt drei Stufen, die zum Ich hinführen“.

In der betreffenden esoterischen Stunde ging Rudolf Steiner, wozu er ja auch neigte, zu einer Art kultischen Intonation und Inszenierung über, indem er seine Arme mit dem „Fallen der Hüllen“ jeweils auf den Tisch schmetterte und dann wieder in „Blütenform“ nach oben hob. Die erste Hülle („Mein Eigenwesen ist verwoben mit der Erdenschwere“) verband er mit dem Rosenkreuzer- Spruch Ex Deo nascimur, die zweite Hülle („Mein Eigenwesen ist verwoben mit der Lichtesleichtigkeit“) mit In Christo morimur, die dritte Hülle („Mein Eigenwesen ist verwoben mit der Atemstärke“) mit Per Spiritus Sanctum reviviscimus. Eine andere Quelle gibt das Drama dieser Inszenierung, in der Steiner das, was „der Inder“ ausdrückte, mit dem „Rosenkreuzer“ und der Erleuchtung in „Lichtesleichtigkeit“ verband, noch deutlicher wieder: „Jedesmal wenn Rudolf Steiner das Fallen der Hüllen erwähnte, ließ er seine Unterarme und Hände schwer auf den Tisch niederfallen. In der Art wie er das Wort „fällt“ sprach, malte er wieder lautlich das Abfallen der betreffenden Hülle.“ (5) Die esoterische Unterweisung in einem eigentlich kultischen Akt fand seinen Höhepunkt im nochmaligen Sprechen der Sanskritworte.

Für das AOUM gibt es in anderem Zusammenhang Äußerungen Steiners, dass dies der korrekte Klang des Mysterienwortes sei. A entspreche dabei dem Staunen, O der Verehrung, U der Furcht. In diesem Sinne sei AOUM die klangliche Entsprechung der Ehrfurcht. „Mani“ dagegen sei die klangliche Repräsentation für das „Reinste, Innerste, Wesentliche“ - als Kristall, Lotos oder als - im Menschen- für das Ich.

Vielleicht ist am Vergleich der Esoterischen Stunden im Abstand von fast 20 Jahren - bei identischem Thema - interessant, dass die frühe eher rationale Deutung Steiners - im Sinne von Selbstverantwortung, geistiger Souveränität und sozialer Verbindlichkeit- weitgehend verschwunden ist zugunsten einer „erkenntniskultischen“ Veranstaltung, in der Steiner typische Versatzstücke seiner okkulten Stationen nun doch geradezu beschwörend inszeniert. Die Leichtigkeit der frühen Tage war dahin, ja, der späte Steiner war mehr Guru denn je. Diese Elemente „besonderer Feierlichkeit“, in denen manchmal auch die Damen Marie Steiner und Dr. Wegman links und rechts neben ihm sitzend präsentiert wurden, durchzogen die esoterischen Unterweisungen gerade in der späten Ära- auch, was die „sehr getragene“ Sprache betraf: „..und dabei doch mit einer Geste und Kraft der Sprache, als schriebe seine Stimme die Worte in weite umfassende Fernen, nicht für die Gegenwart allein.“ (6)

Bedenklicher noch wird die Situation, wenn man Rudolf Steiners Einschätzung seiner esoterischen Entwicklung aus einer Esoterischen Stunde für den erweiterten Vorstand ("Wachsmuth- Lerchenfeld- Gruppe“) vom 3. Januar 1924 hinzunimmt- also quasi ein internes Treffen auf der Chef- Etage. In der Erinnerung von Maria Röschl-Lehrs hat Steiner folgendes geäußert: „Esoterik verträgt keine Spielerei, alles Bisherige sei spielerisch gewesen [genommen worden]. Jetzt muß offen und ernst Esoterik hineingetragen werden ins Leben, von Dornach aus, als dem Zentrum. Nun dürfe man aber wirklich nicht mehr spielen mit Esoterik.“ (7) Steiners neuer, „offen und ernst“ aufgefasster Okkultismus war also nicht nur mit kultischen Elementen durchsetzt, sondern wurde von ihm zentralistisch, dirigistisch und stärker denn je auf seine Person bezogen verstanden- das „Bisherige“ dagegen - trotz der offenkundigen Expansion der Bewegung in zahllose Tochterunternehmen - als „spielerisch“ herabgewürdigt. Die innere Spaltung, die Steiner selbst damit hervor rief, setzte sich in den nach seinem baldigen Tod dominanten Dauerkonflikten fort, führte zu exzessiven Spaltungen quer durch die anthroposophische Gesellschaft, personifiziert in den streitbaren Damen zu Steiners linker und rechter Seite, den Vertreterinnen von Kult und Pragmatismus : Marie Steiner und Ita Wegman- ein Dilemma zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen weltoffener, gelebter und realisierter Praxis und den engstirnigen, verbohrten Pseudo- Esoterikern, das nie recht behoben worden ist.

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1 in: Rudolf Steiner, Aus den Inhalten der esoterischen Stunden III 1913- 1923, S. 478
2 in: dito, S. 334
3 in: dito, S. 470
4 in: dito, S. 476
5 in: dito, S. 477
6 in: dito; S. 479
7 in: Zur Geschichte und aus den Inhalten der erkenntniskultischen Abteilung der Esoterischen Schule
 1904 - 1914